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Gert Heidenreich liest in Gempfing aus "Das Meer - Atlantischer Gesang"

Gempfing

Gert Heidenreich liest in Gempfing aus "Atlantischer Gesang"

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    Gert Heidenreich beim Nordschwäbischen Literaturfestival in Gempfing: Was er dem Atlantik entlockt, macht staunen.
    Gert Heidenreich beim Nordschwäbischen Literaturfestival in Gempfing: Was er dem Atlantik entlockt, macht staunen. Foto: Barbara Würmseher

    Diese Stimme kennt man! So sonor, so kultiviert, so distinguiert! Ihr Timbre hat man aus Hörspielen im Ohr, aus Rundfunkbeiträgen und Fernsehdokumentationen. Auch der Name hat einen besonderen Klang: Gert Heidenreich. Das Gesicht dazu und die Impulse hinter der Denkerstirn, die sich fortsetzen und zu Literatur werden, lernt man an diesem Abend in Gempfing hautnah kennen. Ganz unmittelbar. Ganz nah im familiären Kreis des Pfarrhof-Saals, wo ihn Hausherr Erich Hofgärtner und Markwart Herzog, Direktor der Schwaben-Akademie Irsee, willkommen heißen.

    Dort sitzt Gert Heidenreich, Grandseigneur der deutschen Gegenwartsliteratur und einer der rarer werdenden Vertreter der Dichter und Denker unseres Landes. Er hat sich hinter dem Pult verschanzt, hält mit der linken Hand sein Buch und unterstreicht mit dem Gestus der rechten das gesprochene Wort. Die Entfernung zwischen ihm und Publikum ist so nah, dass man beim Lesen sein Mienenspiel furchengenau studieren kann. Trotz dieser Intimität fremdelt er ein bisschen. Wirkt distanziert. Wenn er den in die Buchseiten gesenkten Blick hie und da hebt, ist dieser ernst. Angestrengt. Später dann beim gemütlichen Teil fällt ein Stück weit diese Beherrschtheit ab und man lernt Gert Heidenreich auch anders kennen. Geselliger. Da taut er ein wenig auf.

    Gert Heidenreich lebt in der Normandie ganz nahe am Atlantik - davon spricht er zum Publikum

    Vorläufig aber ist er ganz und gar versunken in die schwere Materie zwischen zwei Buchdeckeln. Da bleibt kein Raum für lässige Dramaturgie des Vortrags. Nonchalante Hemdsärmeligkeit ist ohnehin nicht sein Stil. Humorvolle Anklänge schleichen sich eher leise ein - wie ein flüchtiger Hauch. Schmunzeln ist beinahe schon zu viel gesagt. 

    Diese Buchdeckel - vielmehr die 122 Seiten, die zwischen ihnen liegen - sind das Thema, weswegen die Besucher des Nordschwäbischen Literaturfestivals nach Gempfing gepilgert sind. "Das Meer - Atlantischer Gesang" sind sie betitelt und führen dorthin, wo Gert Heidenreich seit Jahrzehnten seinen Zweitwohnsitz hat: in die Normandie. Sein Haus, so verrät er, steht gerade mal sechs Kilometer von der Atlantikküste entfernt. Fasziniert von den dortigen Naturgewalten im Wechsel der Jahreszeiten, aber auch getrieben vom Streben, unter die Oberfläche zu blicken, zu hinterfragen und zu verstehen, hat er seinen "Atlantischen Gesang" verfasst.

    Gert Heidenreich hatte schwere Kost für sein Publikum dabei.
    Gert Heidenreich hatte schwere Kost für sein Publikum dabei. Foto: Barbara Würmseher

    Das Buch ist eine Liebeserklärung an den Atlantik

    Er beginnt mit einer Liebeserklärung an dieses Meer, dem Heidenreich wie einer Frau, Dame, einer Madame huldigt, einer Mylady, die über den Kanal getanzt ist und drüben am normannischen Ufer zum französischen Girl wird. Es sind nicht immer schmeichelhafte Komplimente, die er der Angebeteten macht, etwa wenn "die alte Atlantika mir die schwere Hüfte ans Knie drängt", oder wenn er vom "klappernden Schmatzen" der Gischt schreibt, "als schlappte sie ihre weiße Prothese, wenn sie knabbert am Land". 

    Und dennoch sprechen aus jeder Zeile des Prosagedichts Hingabe, Sehnsucht, Vertrautheit. "Sie aber, malachitene Schöne, schütteten Ihre bittere Liebe ganz über mich aus: In Ihrer Dünung bin ich hergeschwemmter Tang, hänge ergeben auf den Felsen der Ebbe." 

    Gert Heidenreich mutet dem Publikum mit seinem "Atlantischen Gesang" einiges zu, so dicht gedrängt ist jeder einzelne Satz mit Überlegungen, Fragen, auch Wissen, mit gedanklichen Spaziergängen in intellektuelle Welten, die sich nicht jedem eröffnen. Man kann es sich als Zuhörer nicht leisten, auch nur einen Moment abzuschweifen, wenn Heidenreich mit gesenkter Stimme den Spuren seiner Gedanken folgt, die sich ihre Wege durch Geschichte, Geografie, Philosophie und Naturwissenschaft bahnen, sonst verliert man den roten Faden. Man will es sich aber auch nicht leisten, diesen Faden aus der Hand zu geben, denn was Heidenreich diesem seinem Atlantik an Gehalt entlockt, fasziniert. So hat sicher keiner der Zuhörer das Meer jemals wahrgenommen. Intuitiv vielleicht manches ansatzweise gespürt, indes diese Art der Tiefe des Ozeans noch nie begriffen.

    Gert Heidenreich im Gempfinger Pfarrhof.
    Gert Heidenreich im Gempfinger Pfarrhof. Foto: Barbara Würmseher

    Am Ende spinnt Heidenreich Seemannsgarn

    Heidenreich fragt - beinahe schon hadernd - nach dem Beginn allen Lebens. Was denn beim Urknall geknallt habe, wann sich Moleküle zu Leben geballt hätten. Und er würde sich Auskunft erhoffen von Bakterien, die sich an heißen Schloten laben, und von Borstenwürmern, die er sich sehnt, zu interviewen.

    In einer Zeit, da wir Gefahr laufen, unseren reichen Sprachschatz mehr und mehr zu verlieren, weil wir ihn nicht nutzen, in der wir an fortschreitender Armut unserer Ausdrucksfähigkeit leiden, greift Gert Heidenreich ganz tief in diese Schatztruhe und fördert fast vergessene Wortgebilde zutage. Kreiert zudem eigene ästhetische Wortschöpfungen, die in ihrer Schönheit den Atem anhalten lassen. Sein "Atlantischer Gesang" ist so reich und stattlich, so überbordend an maximalem Sättigungsgrad in Gehalt und Form. Und Heidenreich badet geradezu darin.

    Nähme man Heidenreich beim Wort und würde diesen "Atlantischen Gesang" singen wollen, hätte ein Arnold Schönberg die Zeilen in Zwölftonmusik fassen müssen, oder ein Krzysztof Penderecki in schmerzhafte Cluster, so fordernd sind sie, so unbequem auch. Frech und versöhnlich wird dann freilich am Ende jene Art des Seemannsgarns, wie es Gert Heidenreich zu spinnen versteht, als er mit dem Segelboot und einem Freund den Hafen von Fecamp verlässt, um über Jersey und Gernsey Richtung Lands End zu schippern. "Nehmen Sie es nicht für bare Münze", bittet er das Publikum. Und in diesem Moment blitzt - tatsächlich - ein kleiner Schalk in seinen Augen...

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