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Gempfing: Zehn Jahre nach dem Unfall: So geht es der gelähmten Emily

Gempfing

Zehn Jahre nach dem Unfall: So geht es der gelähmten Emily

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    Emily spielt mit einem Fußball auf der Terrasse ihres Hauses. Die inzwischen Elfjährige ist seit einem schweren Autounfall vor zehn Jahren vom Hals abwärts gelähmt. Doch Emily ist lebensfroh – ein Sonnenschein.
    Emily spielt mit einem Fußball auf der Terrasse ihres Hauses. Die inzwischen Elfjährige ist seit einem schweren Autounfall vor zehn Jahren vom Hals abwärts gelähmt. Doch Emily ist lebensfroh – ein Sonnenschein. Foto: Barbara Würmseher

    Ein rasender Rollstuhl flitzt schnurrend von der Straße um die Hausecke Richtung Terrasse. Er ist in einem Moment gerade noch so aus dem Augenwinkel wahrnehmbar, im nächsten ist er auch schon aus dem Blickfeld verschwunden. Auf den fragenden Ruf "Emily?" kommt keine Antwort mehr. Eine Fata Morgana? Sekunden später öffnet die Elfjährige – schelmisch grinsend – von innen die Haustüre, kaum, dass die Türklingel außen gedrückt wurde. Groß ist sie geworden, unverkennbar ein Teenager, doch unverkennbar auch Emily – mit ihrem breiten, fröhlichen Lachen, das ihrem Spitznamen alle Ehre macht: Sonnenschein Emily.

    Acht Jahre ist es her, dass unsere Redaktion Emily zuletzt besucht hat, damals noch in Straß, wo sie mit ihren Eltern Bianca und Thomas Gaudermann gelebt hat – in einer viel zu kleinen Wohnung voller Barrieren. Ungeeignet für ein heranwachsendes Kind, das vielleicht ein Leben lang auf Spezialrollstühle angewiesen sein wird, auf einen Treppenlift, der sie in den ersten Stock bringt, Patientenlifter, die sie in Badewanne oder Bett hieven. Inzwischen lebt Emily in einem Eigenheim in Gempfing, das ganz auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist. 

    Emily hat ein Mädchenzimmer mit Pflegebett und Schiene an der Decke

    Emily übernimmt die Führung durchs Haus, lenkt ihren Rollstuhl geschickt mit den Lippen über einen Joystick. Die Türstöcke sind breit, die Zimmer bieten genügend Platz zum Wenden. Mithilfe von Elektronik, die auf Sprache reagiert, bedient sie die Rollläden, das Licht, lässt Musik spielen und manches mehr. Stolz zeigt Emily ihr Mädchenzimmer mit rosafarbenem Baldachin, roten Schubfächern, Plüschtieren, wohin das Auge blickt. Brettspiele liegen in einem Regalfach. Es ist ein Mädchenzimmer wie viele andere auch. Nur das Pflegebett und die Schiene an der Decke erinnern daran, dass sie nicht einfach selbst ins Badezimmer nach nebenan laufen kann. 

    Emilys Alltag lässt sich leben – mit einer Menge an Vorbereitungen, an teurer Ausstattung, an logistischer Organisation, medizinisch bedingter Planung, mit viel Zeitaufwand, ständiger personeller Präsenz und deutlichen Einschränkungen. Denn Emily ist seit einem folgenschweren Unfall vor zehn Jahren vom Hals abwärts gelähmt. "Eigentlich würde ich gerne laufen", sagt die Elfjährige und lacht ihr strahlendes Emily-Lächeln. "Aber ich kann damit leben, denn Aufgeben ist keine Option." 

    Es war ein wunderbarer frühsommerlicher Tag, der schrecklich endete

    Bis zum 23. April 2014 war das Leben der Gaudermanns perfekt. Emily war entzückende 20 Monate alt, stakste munter auf ihren Beinchen herum und erkundete neugierig ihre Welt. Dann kam jener schicksalhafte Tag, ein wunderbarer frühsommerlicher Tag, der so schrecklich enden sollte. An diesem Mittwoch fuhr Emilys Tante mit ihrer Nichte nach Neuburg. Die Kleine hatte ein Dirndl an, die Haare zu Zöpfen geflochten und saß unternehmungslustig im Kindersitz auf der Rückbank. 

    Gegen 11 Uhr auf dem Heimweg passierte das Schreckliche: Zwischen Burgheim und Gempfing platzte ein Reifen des Autos. Der Wagen brach aus, prallte gegen einen Baum und fing sofort Feuer. "Nichts wie raus", war der einzige Gedanke der Tante. Da sich die Tür verklemmt hatte, blieb nur der Weg über den Kofferraum und sie zog Emily aus dem brennenden Auto. Äußerlich wirkte das Mädchen unverletzt, atmete aber mehr. Ein Lasterfahrer leistete Erste Hilfe und verhinderte so das Schlimmste, ehe der Notarzt übernahm und der Rettungs-Hubschrauber die Kleine ins Zentralklinikum nach Augsburg flog.

    Aus dem brennenden Wrack ihres Autos hat Emilys Tante das schwer verletzte Kind geborgen.
    Aus dem brennenden Wrack ihres Autos hat Emilys Tante das schwer verletzte Kind geborgen. Foto: Thomas Bauch

    Seitdem ist alles anders. Emily hatte eine rund 80-prozentige Schädigung des Rückenmarks erlitten und ist vom Hals abwärts gelähmt. Die Prognosen waren niederschmetternd. Zunächst ging es ums blanke Überleben. Dann sprachen die Ärzte gegenüber den Gaudermanns von einem lebenslangen Pflegefall. Emily werde nie wieder schlucken, sprechen, sich bewegen und allein atmen können. 

    Ein ganzes Jahr lang waren Emily und ihre Mama in einer Spezialklinik

    Ein Jahr lang war sie mit ihrer Mama Bianca in einer Spezialklinik im Chiemgau. Ihr Zuhause war das Krankenzimmer, ihr Lebensradius denkbar eng. Logopädie, Physiotherapie, Waschen, Katheter wechseln, Schleim absaugen, künstliche Ernährung ... der Alltag hatte von jetzt auf gleich jegliche Unbeschwertheit verloren. Hoffnung und Verzweiflung, neuer Mut und Erschöpfung wechselten sich ab. Und nach Hause zurückgekehrt kam Emily in einer Welt an, in der sie einerseits große Hilfsbereitschaft erfahren durfte, in der aber Menschen mit Behinderung andererseits auch auf Ablehnung stoßen.

    Zehn Jahre sind seitdem vergangen und Emily und ihre Eltern hatten reichlich Zeit, das Leben so anzunehmen, wie es nun ist. "Höhen und Tiefen gibt es überall", sagt Thomas Gaudermann, "ich denke nicht viel darüber nach. Was getan werden muss, wird getan." Wenn der Jahrestag naht, tauchen freilich Erinnerungen auf. Bianca Gaudermann durchlebt schmerzvoll alles wieder von Neuem und plagt sich mit dem dunklen Gedanken, ob sie den Unfall nicht hätte verhindern können. 

    Doch Emily macht es ihren Eltern leicht, das Schicksal anzunehmen. Sie ist ein Sonnenschein und eine Kämpfernatur. Mit kleinen Fortschritten zeigt sie, dass ärztliche Prognosen nicht immer stimmen müssen. Die Sonde ist weg, sie isst und trinkt, was auf den Tisch kommt. "Vor allem deftig muss es sein", beschreibt die Elfjährige, was ihr schmeckt. Sie spricht wie ein Wasserfall, hat einen großen Wortschatz und ein helles Köpfchen. 

    Weitere kleine Wunder sind erwünscht

    Die Halskrause ist verschwunden, Emily kann den Kopf allein halten. Sie bewegt die linke Hand und hat Gefühl in den Fingern. An einem fahrradähnlichen Gerät trainiert sie zu Hause ihre Beinmuskulatur und setzt auch sonst ihre Therapien fort: Emily geht zum Schwimmen und aufs Laufband und weitere kleine Wunder dürfen sich gerne einstellen. Alles, was bisher schon passiert ist, ist weit mehr, als anfangs zu erwarten war.

    Derzeit besucht die Elfjährige die vierte Klasse der integrativen "Grundschule West" in Königsbrunn. Im Herbst will sie dann an die Realschule in Rain wechseln. Mathe, Deutsch, Heimat- und Sachunterricht sind ihre Lieblingsfächer. Sie geht gerne in die Schule und hat die ungewöhnliche Einstellung: "Die Sommerferien sind viel zu lang." Ihre Eltern und Pflegekräfte, die 24 Stunden am Tag für Emily da sind, tun alles in ihren Kräften stehende, damit das Leben so normal wie irgendwie möglich ablaufen kann. Urlaube, Kinobesuche, Fußballspiele ihres Lieblingsvereins BVB, Konzerte von Nena über Stahlzeit und Christina Stürmer bis hin zum Metal-Festival in Schrobenhausen gehören dazu wie bei anderen Teenagern auch. 

    "Emily hat schon so viel geschafft", freut sich Thomas Gaudermann. "Ja, hab ich", nimmt Emily ihm lachend das Wort aus dem Mund. "Und ich lebe weiter. Wenn wir das nicht hinkriegen, dann wäre es ja gelacht!"

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