Wenn am Sonntag der Volkstrauertag an die Opfer von Gewalt, Krieg, Gefangenschaft, Vertreibung und Flucht erinnert, geht der Blick zurück über mehr als 100 Jahre auf die erste deutsche Gedenkstunde am 5. März 1922 im Reichstagsgebäude zu Berlin. Die Tradition des Gedenkens im Donau-Ries und in Bayern ist älter – ins Leben gerufen von König Ludwig I. in den Jahren 1830 bis 1833.
Aber was war vor 1830? Der einfachen Soldaten und der zivilen Opfer auf dem Land wurde nie offiziell gedacht – sie waren Untertanen der Monarchie, in der beginnenden Neuzeit teilweise noch Leibeigene genannt. Die Gefallenen erscheinen nur zahlenmäßig als „Verluste“ der Schlachten – wie im April 1632 bei Rain oder am 2. Juli 1704 am Schellenberg. Die Ziviltoten sind bestenfalls in den kirchlichen Sterbebüchern namentlich überliefert – soweit die Aufzeichnungen nicht selbst ein Opfer späterer Kriege wurden.
Erhob sich gar das einfache Volk – wie bei den Bauernaufständen um 1525 oder gegen die österreichische Besatzung im Kurfürstentum Bayern anno 1705/06 – so ging der Adel mit äußerster Härte dagegen vor. Keine Toleranz gegen Bauernrevolten – von Gedenken keine Spur. Von dem 1704 bis 1715 ins Exil nach Brüssel vertriebenen Kurfürsten Max Emanuel ist überliefert, dass er nicht die geringste Sympathie für die Bauern hatte, die an Weihnachten 1705 in Sendling für seine Rückkehr und gegen die österreichischen Zwangsrekrutierungen protestierten. Die Bauern wurden in der sogenannten „Sendlinger Mordweihnacht“ gnadenlos niedergemacht wurden.
400 Dörfer wurden in Schutt und Asche gelegt
Die vorausgehenden Auseinandersetzungen des Spanischen Erbfolgekrieges wurden im Sommer 1704 im nordwestlichen Oberbayern auf dem Rücken der Bevölkerung ausgetragen. Von der Lechmündung bis weit über Friedberg und Pfaffenhofen hatten die mit dem Kaiser verbündeten Engländer „400 Dörfer mit 7565 Wohnstätten“ in Schutt und Asche gelegt, so die Überlieferung.
Die Sterbebücher füllten sich von Juli 1704 bis Juni 1705 mit Einträgen, manche Pfarreien hatte das Fünfzehnfache an Beerdigungen als sonst in Jahresfrist. Ursache waren die Entbehrungen durch den Verlust aller Vorräte. Eine Statistik über die Menschen wurde nicht erstellt, wohl aber Übersichten der abgebrannten Gebäude und der finanziellen Verluste. Von Bedauern oder Anteilnahme keine Spur – von keiner der Kriegsparteien.
Erhalten ist aus jenem leidvollen Sommer 1704 ein Grabstein in der Kirche von Ebermergen. Ruhen die einfachen Soldaten in irgendwelchen Massengräbern, so wurden hier drei adelige höhere Offiziere bestattet, die „in der Attagul des Schellenbergs bey Donauwürth am 2. Monatstag July anno 1704 ihr Leben gelaßen, Knall und fall …“ Weiter gibt es in Ebermergen einen Gedenkstein für einen adeligen Obristen, der an den in der Schlacht bei Blindheim (13. August 1704) erlittenen Verwundungen gestorben ist.
Der Adel ignorierte zu jener Zeit das "gemeine Volk" einfach nur
Anders als der Adel, der zu jener Zeit das „gemeine Volk“ schlichtweg ignorierte, reagierte die Bürgerschaft von Donauwörth. Nach der Schlacht am Schellenberg blieb die Stadt – wohl aus strategischen Gründen – vor den schlimmsten Verwüstungen verschont. Rat und Bürgerschaft errichteten deshalb den Kalvarienberg: 1721 bis 1723 die Kapelle Maria Hilf, angebaut die Kapelle der Schmerzhaften Muttergottes, und den am 5. September 1734 geweihten Kreuzweg. Es war in erster Linie die Dankbarkeit für die Rettung der Stadt aus Kriegsnot an dem Ort, der etwa 10.000 Soldaten das Leben kostete. Die Donauwörther gehören zu den „Pionieren“ des Gedenkens, kann man mit Fug und Recht feststellen.
Ein Umdenken an oberster Stelle fand erst im Königreich Bayern über 100 Jahre nach Donauwörth statt. Über den Gräbern der „Mordweihnacht“ von 1705 wurde auf dem Sendlinger Friedhof 1830 ein Denkmal errichtet. Für das Ehrenmal auf dem nahegelegenen alten südlichen Friedhof spendete König Ludwig I. eine Kanone, die zu einer Brunnenwanne umgearbeitet wurde (Weihe 1. November 1831). Ludwig war auch der Initiator des Gedenkens an die Gefallenen der Napoleonischen Kriege (1805–1815) mit dem verlustreichen Rußland-Feldzug von 1812. Am 8. Oktober 1833 enthüllte er den Obelisken auf dem Münchener Karolinenplatz; 1828 hatte er 40.000 Gulden aus seiner Kabinettskasse zur Verfügung gestellt und Leo von Klenze den Auftrag erteilt.
Im Oberdonaukreis mit seiner Hauptstadt Augsburg, zu dem ein großer Teil des heutigen Landkreises Donau-Ries gehörte, gab Fürst Ludwig Kraft zu Oettingen-Wallerstein, Regierungspräsident von 1828 bis 1831, danach Bayerischer Innenminister, den Anstoß. Für jede Pfarrkirche sollte eine Gedenktafel mit den Namen der örtlichen Gefallenen – auch der einfachen Soldaten – errichtet wurde. Form und Text wurden in dem „allerhöchsten Befehl“ vorgegeben. Die vaterländische Gesinnung sollte überall im Land hochgehalten werden. 1833 kamen diese Gedenktafeln zur Ausführung – sie sind in vielen Pfarrkirchen bis heute erhalten. Bayerisch-Schwaben war Vorreiter der örtlichen Gedenkkultur, in den anderen Bezirken tat sich allerdings wenig.
Der siegreiche Kriegszug gegen Frankreich 1870/71 folgte Patriotismus allerorten: Krieger- und Veteranenvereine wurden gegründet und auf den Denkmälern wurden neben den Gefallenen oft auch die Heimkehrer namentlich aufgeführt. Die Erinnerungskultur wurde in enger Verbundenheit mit den Kirchengemeinden gepflegt. Predigten der Pfarrer bei Krieger-Fahnenweihen waren patriotisch geprägt. Die örtlichen Gedenkstätten wurden weit überwiegend in den Kirchen errichtet.
Millionen von Toten im Ersten Weltkrieg
Ernüchterung dann nach dem Ersten Weltkrieg ob der Millionen Toten: nahezu alle Denkmäler beschränkten sich auf die in der Ferne Gebliebenen. Mit der Gründung (16. Dezember 1919) schlug der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge einen Gedenktag für die gefallenen deutschen Soldaten des Weltkrieges vor. Am 5. März 1922 war erstmals Gedenkstunde im Reichstag, am 1. März 1925 wurde erstmals der Volkstrauertag begangen. Beim „Heldengedenktag“, so die Bezeichnung 1935 bis 1945 im Dritten Reich, stand nicht mehr das Totengedenken und die Nähe zur Kirche im Mittelpunkt. Träger der neuen Heldenverehrung waren nun Wehrmacht und NSDAP.
In einzelnen Gegenden der westlichen Besatzungszonen gab es ab 1946 im Februar oder März wieder einen Volkstrauertag. 1950 folgte die erste zentrale Veranstaltung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge im Bundestag. Seit 1952 ist der Gedenktag auf den vorletzten Sonntag vor dem ersten Advent festgelegt. Der November wird theologisch durch die Themen Tod und Ewigkeit dominiert. Insbesondere im ländlichen und kleinstädtischen Raum ist die enge Verbindung von Kommune, Kirche und Krieger- und Soldatenkameradschaften geblieben.
Durch die Terminierung im November und die Inhalte in den alljährlichen Gedenkansprachen des Bundespräsidenten unterscheidet sich der Volkstrauertag inhaltlich deutlich von dem Gedenken im 19. Jahrhundert und bis 1945. Er gilt allen Opfern von Gewalt und Krieg aller Völker – Soldaten, Vertriebene, Verfolgte, Flüchtlinge. Und er gilt den „Opfern der Kriege unserer Tage“ – im Europa des Jahres 2023 ist der Volkstrauertag aktueller denn je.