Jeden Abend erzählt das Sandmännchen eine kleine Geschichte. Zum Schluss greift es in sein Säckchen und streut Schlafsand. Dann schlafen alle Kinder selig ein. Vor 60 Jahren wurde das Sandmännchen zum ersten Mal im Fernsehen ausgestrahlt. Zum Jubiläum erzählen wir auch kleine Gute-Nacht-Geschichten aus der Region. Zum Vorlesen, zum Selberlesen, zum Einschlafen.
Wenn du hinter dem Lauinger Rathaus Richtung Donau durch den schmalen Durchgang läufst, der ins Brunnental führt, hörst du es da manchmal knirschen? Das sind die Zähne vom Emil.
Da, in der schmalen Gasse, wo die Treppen bergab führen, lebt nämlich in den Mauern ein kleiner Kobold.
Er ist unglaublich hässlich, wirklich. Er hat wildes, zotteliges Haar, das ihm bis auf die Schultern herabhängt, eine dicke Knollennase, rote Augen und ist immer schlecht gelaunt. Emil ist wirklich unglücklich. Um sich abzulenken, schabt er an den Mauern entlang. Manchmal beißt er auch ein Eck ab. Der Kobold hat feste Zähne, da ist das für ihn kein Problem. Dann kaut er auf dem Zeug herum und grübelt missmutig vor sich hin.
„Was fehlt dir denn?“, fragt ihn eines Nachts eine kleine Maus. Sie will eigentlich nur kurz vorbei Richtung Marktplatz. Manchmal, im Sommer, findet sie dort Reste von Eiswaffeln, im Winter gebrannte Mandeln. Und ansonsten Reste vom Wochenmarkt. Egal, es lohnt sich immer, findet die Maus. Nur dieser griesgrämige Kobold auf dem Weg dorthin, der so furchterregend ausschaut, der beschäftigt sie. Also hat sie ihn heute einfach mal gefragt.
„Keine Ahnung“, sagt Emil und seine roten Augen leuchten. „Ich weiß nicht, was mir fehlt. Oder ob mir was fehlt. Aber so, wie es jetzt ist, ist es einfach überhaupt nicht schön.“ Ach, ist das jetzt blöd, denkt sich die Maus. Wenn er doch nur etwas Konkretes gesagt hätte, dann wäre mir bestimmt was eingefallen. Wie soll man so jemandem denn bloß helfen? „Das tut mir leid“, sagt die Maus stattdessen. Und schwuppsdiwupps ist sie weitergerannt.
Noch ein Grund mehr, schlecht gelaunt zu sein, denkt sich der hässliche Kobold, und beißt vor lauter Wut noch fester in einen kleinen Mauervorsprung und überlegt. „Ja, was fehlt mir eigentlich?“ Er hat es warm, er hat genug zu essen und er hat immer wieder mal Gesellschaft. Gut, keiner hält es lange mit ihm aus. Das ist Emil auch schon aufgefallen, aber das macht ihm nichts. „Vermisse ich etwas?“
Plötzlich steht die Maus wieder vor ihm und strahlt über das ganze Gesicht. „Hey, Emil, ich weiß, was dir fehlt! Du brauchst eine Freundin!“ Da fängt der Kobold herzlich an zu lachen. Er muss sich den Bauch halten vor Lachen. Seine Haare fliegen durch die Luft und aus seinen roten Augen laufen Tränen. Jetzt sieht die Maus auch das Gebiss des Kobolds mit den gewaltigen Hauern und bekommt Angst. „Wieso lachst du denn so?“, fragt sie ihn. „Eine Freundin? Wer sollte das denn sein?“, sagt Emil und schnappt nach Luft. „Bist du blind? Wer sollte mich denn wollen?“ Und er fängt wieder an zu lachen.
„Naja, eine, die genauso aussieht wie du, genauso griesgrämig ist wie du und auch am liebsten altes Gemäuer frisst wie du“, sagt die Maus. So schnell gibt sie nicht auf. Dieser Kobold denkt wohl, er ist besonders pfiffig. Der bekommt vom Lachen allmählich Seitenstechen. „Herrje, ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal so gelacht habe! Oder ob ich überhaupt schon mal so gelacht hab. Maus, du bist super. Kannst du nicht öfter vorbeikommen, und mir so einen Witz erzählen?“ Jetzt reicht es der Maus. Ohne noch ein Wort zu verlieren, verschwindet sie in einer schmalen Spalte.
Emil bemerkt das erst gar nicht. Und dann ist es ihm auch egal. Der Tag war so lustig, kein Grund, sich zu ärgern. „Hoppla“, denkt sich der Kobold plötzlich, „stimmt, ich bin immer noch richtig gut gelaunt.“ Und selig schläft er ein.
Als er am nächsten Tag aufwacht, erschreckt sich der Kobold wahnsinnig. Er blickt in zwei gewaltige, pechschwarze Augen. Zwei lange Zähne darunter und eine riesige rosa Nase dazwischen – alles direkt vor seinem Gesicht. „Hilfe!“ brüllt Emil erschrocken und schlägt mit den Händen um sich. „Ich bin es doch, du Dummi“, sagt die Maus und triumphiert. Sie hat sich am Vortag so über den Kobold geärgert, dass sie sich rächen wollte. Ihre Schadenfreude ist groß. „Geschieht ihm ganz recht“, denkt sie sich. Aber sie hat auch eine Überraschung parat. „Hey Emil, bevor du wieder anfängst zu lachen, geh mal runter ins Brunnental, halt dich rechts und guck nach oben. Da wo es knirscht, da bist du dann richtig.“ Dann verschwindet die Maus. Emil rappelt sich hoch und reibt sich verwundert die roten Augen. Was hat diese kleine Maus da erzählt? Im Brunnental rechts oben? Was soll da schon sein? Aber neugierig ist er jetzt schon geworden. Was mag ihn dort erwarten? Knirschen tut ja viel. „Mei, im schlimmsten Fall sind es Sanierungsarbeiten“, denkt sich der Kobold und trabt los. Es dauert nicht lange, da hört er das Knirschen, genau dort, wo die Maus gesagt hat. Und was der Kobold da erblickt, haut ihn fast um. Da frisst sich eine Koboldine voller Wucht durch die Mauern. Sie hat wildes, langes Haar, eine dicke Knollennase und finstere rote Augen. Plötzlich blickt sie auf und sieht Emil. Ihre finstere Miene verwandelt sich in ein wunderschönes Strahlen. Und auch Emil merkt, wie sehr er sich freut. Und er weiß in diesem Moment ganz genau: Ich habe heute m e i n e Emilia gefunden!
Na, was soll ich Euch noch erzählen? Ihr wisst doch, wie viele Märchen enden: Und wenn sie nicht gestorben sind …
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