Jeden Abend erzählt das Sandmännchen eine kleine Geschichte. Zum Schluss greift es in sein Säckchen und streut Schlafsand. Dann schlafen alle Kinder selig ein. Vor 60 Jahren wurde das Sandmännchen zum ersten Mal im Fernsehen ausgestrahlt. Zum Jubiläum erzählen wir auch kleine Gute-Nacht-Geschichten aus der Region. Zum Vorlesen, zum selber Lesen, zum Einschlafen.
Theo lebt in einem riesengroßen Haus. Vor allem im Keller fühlt er sich wohl. Da ist es zwar oft bitterkalt, doch das stört ihn nicht. Die tollen Gewölbe da unten, große, runde Bögen, begeistern ihn. Es riecht zwar ein bisschen muffig. Und ohne Licht ist es auch etwas unheimlich. Aber nicht für Theo. Der kann im Dunkeln sehen. Und Angst hat er vor nichts und niemandem.
Theo ist ein kleines Gespenst. Er wohnt im Höchstädter Schloss. Das ist fast 500 Jahre alt. Und der Geist gehört irgendwie dazu. Aber das weiß natürlich keiner. Und es soll auch weiterhin ein Geheimnis bleiben. Denn solange kann der kleine Geist machen, was er will. Und weil er niemandem etwas Böses will, kann das ruhig so bleiben. Also pssst, verrate keinem davon!
Was für ein großes Geheimnis der kleine Geist ist, das weiß er selbst gar nicht. Er bewegt sich ja vor allem dann durch das Schloss, wenn sonst keiner da ist. Also nachts. Da fühlt sich Theo am wohlsten. Dann schwebt er - huiiiii! - die Treppen hinauf und rutscht - ssssst - auf den Geländern wieder hinunter.
Das Schloss hat sehr viele, sehr hohe Räume. Manchmal denkt sich Theo Menschen aus, die dort mal gewohnt haben. „War das ein Schlafzimmer? Oder ein Esszimmer?“, grübelt er dann. Er malt sich aus, was die Menschen damals anhatten. Ob sie lieber Süßes oder Saures gegessen haben. Und was überhaupt so alles in ihrem Kühlschrank war. Moment, hatten die Schlossherren überhaupt einen Kühlschrank? Nein, denkt sich Theo, die haben alles in meinem geliebten dunklen Gewölbe ganz unten im Schloss gekühlt.
Manchmal versucht Theo, die Räume auszumessen. Das ist eine große Herausforderung. Erstens ist das Schloss riesengroß. Und zweitens ist der Geist unsichtbar: Egal, wie oft er seine Schritte zählt, er hat nie ein Ergebnis. Schließlich kann Theo sich selbst ja auch nicht sehen. Deswegen weiß er nicht, wie groß seine Schritte sind. Trotzdem hat er großen Spaß dabei, die Räume abzulaufen. Von vorne nach hinten. Von links nach rechts. Von rechts unten nach links oben. Oder nur die linke Wand. Oder nur die Decke. Dann schreitet er kopfüber durch den Saal. Dabei fällt ihm das Gewand über das Gesicht nach unten. Drunter hat auch er eine Unterhose an. Uuups! Sonst wäre es ja peinlich, sähe ihn jemand. Aber wir wissen es ja schon: Niemand kann Theo sehen! Mit solchen Ideen ist der kleine Geist schon ziemlich beschäftigt. Zum Erholen fliegt Theo in den südlichen Teil des Westflügels. Dort befindet sich die ehemalige Schlosskapelle. Die hat Theo noch lieber als das Gewölbe im Keller, weil sie so schön ist. Jedes Mal fällt dem kleinen Geist dort etwas Neues auf. So sitzt er da und guckt und staunt.
Manchmal huscht Theo auch tagsüber durch das Schloss. Denn er liebt Hochzeiten. Vor allem Bräute findet der kleine Geist super. Endlich mal Menschen mit Schleiern, die ihm ein bisschen ähnlich sehen. Findet Theo. Es sieht ihn ja keiner. Aber er fühlt sich so, als wäre er unter einem Schleier unterwegs, der ihn unsichtbar macht. Es könnte ja ein großer weißer Brautschleier sein – wer weiß das schon?
Sein Schloss hat Theo noch nie verlassen. Wenn du jetzt aber denkst, er ist fürchterlich einsam, da musst du dir keine Sorgen machen. Immer wieder schauen Fledermäuse am Schloss vorbei – und Störche. Mit allen steht das kleine Gespenst in regem Austausch. Die kleinen Fledermäuse flüstern nur immer fürchterlich leise. Manchmal fühlt Theo sich wie ein ganz alter Opa. Weil er immer wieder nachfragen muss. Wenn eine Fledermaus flüstert: „In Wittislingen gibt es bald einen neuen Bürgermeister.“ Dann versteht Theo zum Beispiel: „In Dillingen im Wald lebt ein wütender Weiser klebt eine Kuh im Kleister.“ Oder wenn eine andere Fledermaus noch leiser flüstert, „In Gundelfingen feiern die Bürger schon wieder ein Fest auf der Bleiche“, versteht Theo erneut alles falsch: „Zwischen Wertingen und Lauingen fliegen Schafe von Eiche zu Eiche.“ Das führt immer wieder zu Missverständnissen und ärgert den kleinen Geist natürlich. „Könnten die doch bloß etwas lauter flüstern“, flucht er manchmal. Mit den Störchen ist es einfacher. Die klappern so laut mit ihren Schnäbeln, da kann nichts schiefgehen. Störche sind allerdings immer etwas im Stress, weiß Theo. Entweder sie müssen sich um ihren Horst, also ihr Nest, kümmern, oder um ihre Kinder oder ihr Futter – oder sie müssen ihr Nest verteidigen. Oder sie fliegen in den Winterurlaub. Doch dank dieser Tiere ist Theo insgesamt sehr gut informiert. Deswegen weiß er, dass er nicht das einzige kleine Gespenst ist, das so herumgeistert. Aber er ist sich sicher, dass es kein anderes so schön hat wie er. Diese Aussicht, nachts, vom Schloss aus, umgeben von lauter kleinen Lichtern, das liebt Theo. Da kann er stundenlang oben auf dem Dach liegen und in den Himmel schauen. Wenn es nicht bewölkt ist, zählt er die Sterne. Egal, zu welcher Jahreszeit. Denn natürlich friert ein Geist auch nicht. Schau doch auch mal aus deinem Fenster raus, siehst du auch so viele Lichter? Na, wie viele sind es? Leg dich ins Bett, kuschel dich warm ein und versuch dich daran zu erinnern. Zähl mal nach. Und dann schlaf schön. Bald gibt es die nächste Gute-Nacht-Geschichte.(corh)
Weitere Märchen
- Kennst du die Nixe Neinneinnein? Sie lebt in einem Wasserrad in der Zusam - mitten in Wertingen. Und streitet sich dauernd mit dem Fluss. Die Nixe Neinneinnein und die blöde Zusam
- Oder weißt du, warum es im Brunnental in Lauingen so fürchterlich knirscht? Na, weil da ein kleiner Kobold lebt. Vielleicht auch mehr als einer...Der knatschige Kobold aus Lauingen
- Stell dir vor es ist Weihnachten und es passiert etwas ganz, ganz Schlimmes! So ging es zwei Wichteln bei Aislingen. Ob sie eine Lösung gefunden haben? Fällt bei den Wichteln etwa Weihnachten aus?
- Bei Syrgenstein lebt eine kleine Elfe mit großen Wünschen. Wenn bloß der blöde Wind nicht wäre...Die kleine Elfe Genia und ihr geliebter Turm