Das Wort „Glück“ kommt ziemlich häufig vor, wenn Engelbert Kigele aus seinem Leben erzählt. Und der 100-Jährige kann viel erzählen, besonders viel über seine Zeit als Soldat von 1939 bis 1945. Als Flaksoldat bei der Luftwaffe ist er an vielen Fronten, von Polen bis Frankreich und von Finnland bis Russland. In dieser Zeit hat er besonders viel Glück, sagt er. Etwa als seine Einheit, nur eine Woche bevor der Kessel von Stalingrad sich schließt, auf einen Feldflugplatz außerhalb zurückverlegt wird. Oder das Glück, sich dort im eisigen Russland den großen Zehen zu erfrieren.
Aber weil er dafür ein ärztliches Attest vorweisen kann, darf er beim Rückzug über eine sonst gesperrte Brücke. Schließlich hat er die Fortüne, auf diesem Rückzug in Danzig im Straßenkampf durch eine russische Handgranate schwer verwundet zu werden. Nur Schwer- verwundete bekommen einen der raren Plätze auf einem Flüchtlings-Frachter raus aus der von der Roten Armee eingekreisten Stadt. „Krieg ist das Fürchterlichste, was man sich vorstellen kann“, betont Kigele im Gespräch mit der DZ immer wieder. Die Ereignisse, die inzwischen über 70 Jahre zurückliegen, kommen bisweilen in seinen Albträumen wieder hoch und reißen ihn dann selbst heute noch aus dem Schlaf.
Warum Kigele besonderes Glück hat
Doch der rüstige Jubilar hatte auch das Glück des Tüchtigen. Widrige Umstände verhindern zunächst den Studienbeginn der Zahnmedizin im ausgebombten München. Nach einem Semester in Erlangen hat er dann „halt Ziegel an der Uni München geklopft“, um hier einen Studienplatz zu bekommen. Sieben Semester später erhält er dann die Zulassung zum Beruf. Kigele will aber mehr.
Er will den Facharzt für Kieferorthopädie. Mit Ausdauer und etwas Glück schafft er die Zusatzausbildung. Jetzt stellt sich aber die Frage: „Wie komme ich an eine Praxis“. Augsburg ist belegt, in Ulm hat Kigele Erfolg, doch der Anfang ist zäh. „Im ersten Vierteljahr hatte ich ganze drei Patienten“, erinnert er sich, „es war eine schwierige Zeit“. Dennoch geben sich Engelbert Kigele und Marianne Pröller aus Lauingen das Ja-Wort. Sie waren 67 Jahre verheiratet. Nach ihrem Schlaganfall pflegt sie Engelbert Kigele bis zu ihrem Tod vor zwei Jahren.
Wie er seine erste Praxis aufgebaut hat
In der schwierigen Zeit Anfang der 1950er Jahre beginnt die Praxis in Ulm nach und nach zu laufen und es läuft dort 20 Jahre. Da er weiterhin in Lauingen wohnt, eröffnet Kigele eine Zweigpraxis in Lauingen und verlagert 1974 die Ulmer Praxis ganz in seine Heimatstadt. 1990 geht er in Rente. Stolz ist er auf seine Kinder, die in seine medizinischen Fußstapfen getreten sind, Sohn Engelbert als Allgemeinmediziner, Tochter Isabella als Kieferorthopädin. Stolz ist er auch auf seine fünf Enkel und fünf Urenkel.
Das kleine Zimmer im renovierten Altstadthaus, in das der Jubilar den Gast bittet, spiegelt ein wenig seine Lebenseinstellung wider, die bei der Ernährung mit viel Fisch, grünem Salat, Schwarzbrot, wenig Butter und ohne Zucker beginnt. Es ist die Grundhaltung „mens sana in corpore sano“, ein gesunder Geist im gesunden Körper. Links steht ein Rudergerät, denn Kigele´s „Geheimrezept ist Sport“. Jeden Morgen sechs Uhr macht er eine Stunde Gymnastik inklusive Hanteltraining. Jeden Tag läuft er eine Stunde und im Sommer fährt er zwei Stunden Rad.
Wieso er hinter der "Fridays for Future" Bewegung steht
Doch auch den anderen Teil des Lateinerspruchs beherzigt er penibel. Neben dem Laptop liegt das Buch „Les Alsaciens“ von Henri Turenne auf dem Schreibtisch. Französisch hat er sich in den vergangenen Jahren selbst beigebracht. Er liest Zeitungen und Bücher geht ins Kabarett und ins Internet. Über den „furchtbaren Hass“ der sich in den sozialen Medien abspielt, kann er sich aufregen. Dagegen steht er voll und ganz hinter der Bewegung „Fridays for Future“ von Greta Thunberg. „Nicht wegen mir“, räumt er ein, „es geht um die Enkel und Urenkel“. Und: „Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren“, sagt er, der mit 99 Jahren den „Grünen“ beigetreten ist.
Auch die freie Meinungsäußerung sei ein hohes Gut, das es zu verteidigen gelte. „Es ist das Allerschlimmste, wenn man nicht mehr frei sagen darf, was man denkt“, betont der 100-Jährige mit Verweis auf die NS-Zeit, aber auch auf Länder wie die Türkei heute. Traurig wird er, wenn er über die „vielen leer stehenden und heruntergekommenen Häuser in Lauingen“ spricht. Hier müsste dringend etwas getan werden. Auch Bauvorschriften und Denkmalschutzauflagen seien zu entschärfen. Auf die Frage, was er sich noch wünsche, kommt die lapidare Antwort: „Ich bin wunschlos“. Das Substantiv „Glück“, das in seinem Leben so oft eine Rolle gespielt hat, lässt er in diesem Moment weg.
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