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Landkreis Dillingen: Ukraine: Geflüchtete im Landkreis Dillingen erzählen von den Schrecken des Kriegs

Landkreis Dillingen

Ukraine: Geflüchtete im Landkreis Dillingen erzählen von den Schrecken des Kriegs

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    Ein zerstörtes Gebäude an der Stelle, an der eine russische Rakete einen Fernsehturm in Kiew getroffen hat. Den ersten Tag des Angriffs hat in der Hauptstadt auch eine Frau erlebt, die jetzt im Landkreis Dillingen unterkommt.
    Ein zerstörtes Gebäude an der Stelle, an der eine russische Rakete einen Fernsehturm in Kiew getroffen hat. Den ersten Tag des Angriffs hat in der Hauptstadt auch eine Frau erlebt, die jetzt im Landkreis Dillingen unterkommt. Foto: Seth Sidney Berry/ZUMA Press Wire Service/dpa

    Weit über 100.000 Menschen aus der Ukraine finden bereits in Deutschland Zuflucht, 46 davon leben in Unterkünften im Landkreis Dillingen – für einige Wochen, vielleicht auch Monate. In einem Haus in der Römerstraße in Holzheim kommen aktuell zehn von ihnen unter. Unserer Redaktion haben sie von den schrecklichen Erlebnissen in ihrer Heimat, ihrer Flucht und rührender Hilfsbereitschaft erzählt. Die Gespräche fanden auf Russisch und Ukrainisch statt. Alla Jungwerth, eine ehrenamtliche Helferin, die aus der Ukraine stammt, hat übersetzt.

    Familie Liakh Der 24. Februar war für Ollesia Liakh ein ganz normaler Donnerstag. Sie war bereits bei der Arbeit, ihr Sohn Andrii in der Schule, als die Nachrichten liefen: Russische Truppen bombardieren ukrainische Städte. Nicht nur in den Separatistengebieten. Im ganzen Land. Unter den Menschen, erzählt sie, brach Panik aus: „Alle wollten Bargeld abheben, einkaufen und tanken.“ Als sich die Familie dazu entschied, den Sohn zu seinen Großeltern in Sicherheit zu bringen, erhielten sie die nächste furchtbare Nachricht: Lwiw, keine 200 Kilometer weg, wird beschossen. Die Stadt liegt weit im Westen, nahe der polnischen Grenze. Damit hatte niemand gerechnet. Ollesias Tochter Anastasia studiert dort Medizin, wegen Corona fanden die Kurse online statt. Durch die Videoübertragungen ihrer Kommilitonen sieht und hört die Studentin die Explosionen in Städten in der Ostukraine.

    In dem Haus in Holzheim leben Larisa mit Tim und Nasar Marchyk, Alona mit Marii Pareichuk, Andrii und Ollesia Liakh, ihre Eltern Hanna und Andrii Andrishko und Tochter Anastasia Liakh (von links). Die Männer und Väter mussten in der Ukraine bleiben.
    In dem Haus in Holzheim leben Larisa mit Tim und Nasar Marchyk, Alona mit Marii Pareichuk, Andrii und Ollesia Liakh, ihre Eltern Hanna und Andrii Andrishko und Tochter Anastasia Liakh (von links). Die Männer und Väter mussten in der Ukraine bleiben. Foto: Jonathan Mayer

    In der Nacht kommt die Familie nicht zur Ruhe. In Ollesia fängt das Kopfkino an: In ihrer Heimatstadt gibt es einen großen Bahnhof. Was, wenn auch dieser bombardiert wird? Ihr Mann habe sie und die Kinder dann ins Auto gesetzt und Richtung Deutschland geschickt. Er selbst musste bleiben und hilft Flüchtlingen aus der Ostukraine. Seiner Frau ist nur eines wichtig: Dass er weiß, dass es seiner Familie gut geht.

    Familie Andrishko Hanna und Andrii Andrishko, die Großeltern von Andrii und Anastasia, hatten ein ruhiges Leben in einer Kleinstadt im Westen der Ukraine. Zu Zeiten der Sowjetunion waren beide Lehrer. Hanna sagt: „Die Russen sind unsere Brüder.“ Dass sich der Konflikt weiter zuspitzen wird, hatten sie erwartet. Dass ihre Heimat von russischen Truppen bombardiert werden wird, war für sie vor drei Wochen unvorstellbar. Andrii fühlt sich an die Erzählungen seiner Mutter aus den 30er-Jahren erinnert: Holodomor, Tod durch Hunger. Als Josef Stalin Millionen Ukrainer verhungern ließ. Wie auch heute entschied damals der Kreml über das Schicksal des Landes. Hanna sagt, ihr tue es leid für die Menschen in Russland, dass sie sich nicht gegen Putin zusammentun – so wie die Ukrainer 2014 in der Euromaidan-Bewegung. Damals protestierten Tausende gegen die Regierung und für die Annäherung an die EU.

    In Riwne hören sie Kampfjets über sich hinwegdonnern

    Familie Marchyk Larisa Marchyk ist sichtlich aufgewühlt, als sie erzählt. In der Nacht auf 24. Februar konnte sie kaum schlafen, irgendwann kam ihr Sohn ins Schlafzimmer der Eltern in Kiew. Er hatte Angst. Heute wirkt es wie eine grausige Vorahnung. Als sich die Familie endlich beruhigt hat, klingelt das Telefon. Larisas Schwiegermutter ruft an: Sie höre Explosionen. Ungläubig schauen die Eltern im Internet nach, dann hören sie selbst Sirenen, kurz darauf knallt es. Ein Wohnhaus steht in Flammen. Ihr Mann will, dass Larisa geht, sie will bleiben, denkt, dass alles bald wieder vorbei sein wird, dass die russischen Truppen nur militärische Ziele angreifen. Er schreit sie an. Das sei erst der Anfang.

    Hals über Kopf verlassen sie die Wohnung. „Ich wusste nicht, was ich einpacken soll“, sagt sie. 350 Kilometer fährt die Familie Richtung Westen, zu Angehörigen ihres Mannes. 13 Stunden sind sie unterwegs. Ihr Sohn Tim wird am 25. Februar zehn Jahre alt. „Warum muss an meinem Geburtstag der Krieg beginnen?“, fragt er auf der Fahrt. Die Mutter bricht in Tränen aus, als sie davon erzählt. In Riwne kommt die Familie in einem Keller unter, über ihnen der Terror des Kriegs: Luftalarm und Kampfflugzeuge, die tief über die Stadt hinwegdonnern. Irgendwann kann sie nicht mehr, erzählt Larisa. Sie will raus. Nur ihre Kinder halten sie weinend davon ab. Drei Tage geht das so, ihr kommt es vor wie drei Jahre.

    Die Wände des Hauses wackelten

    Zwei Wochen sind die drei jetzt in Deutschland. Doch für Larisa ist der Horror noch nicht vorbei: Ihr Mann, ehemaliger Berufssoldat, ist noch in der Ukraine. Ihr Gewissen plagt sie, weil er, genau wie ihre Mutter, Freunde und Bekannte, immer noch dort ist. Sie komme sich vor, als habe sie alle verraten. Wieder kommen die Tränen hoch. Hanna Andrishko nimmt sie in den Arm und versucht, sie zu trösten.

    Familie Pareichuk Es ist Freitag, 10 Uhr, als in Alona Pareichuks Heimatstadt die Raketen einschlagen. Mindestens 20 seien es gewesen, dazu mehrere Explosionen. Obwohl die Einschläge nicht in direkter Nachbarschaft sind, wackeln im Haus die Fenster. Alona war schnell klar: Sie müssen weg. In der Stadt gibt es eine Kaserne, die Angriffe werden zunehmen. Also kommt die Familie im kleinen Haus ihrer Großmutter unter. Irgendwann tritt ein Mann herein, drückt einer Frau ein Gewehr in die Hand und sagt, sie soll ans Fenster sitzen und schießen, wenn der Feind anrückt. Kurze Zeit vorher waren Saboteure in der Nähe gelandet. Eine lokale Bürgerwehr schnappte sie, wie Pareichuk erzählt. Acht Saboteure seien der Polizei übergeben worden.

    Doch auch im Haus der Großmutter sind sie nicht sicher. Immer wieder hören sie Explosionen, oft so nah, dass das ganze Haus wackelt. Alona war noch nie weit von zu Hause weg. Mit ihrer zweijährigen Tochter Marii macht sie sich auf den Weg nach Deutschland, wo entfernte Verwandte leben. In ihrer Tasche: viel Joghurt. Den liebt Marii.

    Eine Geflüchtete sagt: "Putin will das Unmögliche"

    Die Flucht ist nervenaufreibend. An der Grenze nach Polen steigt sie in ein fremdes Auto, weil es keine Übergänge für Fußgänger gibt. Dahinter fährt sie mit einem völlig Fremden im Sprinter mit. Alona und Marii sitzen auf dem Ersatzreifen, weil vorne eine Frau mit Schlaganfall liegt. So geht es erst ins Krankenhaus, dann zur deutschen Grenze, wo ihre Großtante sie abholt. Der Fremde wollte nicht einmal Geld, erzählt sie. Er wollte einfach nur helfen.

    Am 4. März kommen sie in Holzheim an. Endlich in Sicherheit. Doch die Angst bleibt: Zwei Tage nach ihrer Ankunft wurde ihre Heimatstadt bombardiert. 20 Wohnhäuser in Schutt und Asche. Laut Pareichuk setzten die russischen Soldaten sogar Streubomben ein. Ein Junge mit zwei Jahren verlor beide Beine. Weil sogar Bunker, in denen Zivilisten Schutz suchen, beschossen werden, verstecken sich die Menschen nachts in Höhlen im Wald oder auf dem freien Feld.

    Die vier Familien sind froh, dass sie in Deutschland Zuflucht finden. Wie lange sie bleiben, weiß niemand. Hanna Andrishko sagt: „Putin will das Unmögliche.“ Die ukrainische Regierung sei nicht perfekt. Aber die Menschen seien frei gewesen. Sie bete dafür, dass die russische Bevölkerung bald aufwache – und es auch dort noch eine Bewegung gebe wie auf dem Maidan in Kiew 2014.

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