Überall im ländlichen Raum gibt es diese Orte, die viele nur vom Blick durch die Windschutzscheibe kennen. Sie sind scheinbar nur eine Ansammlung von Häuschen, die sich an eine Hauptstraße schmiegen. Ist diese Hauptstraße zufällig auch eine Staatsstraße, so teilen diese Transitdörfer meist ein Schicksal: Durch sie fließt ein nicht enden wollender Strom an Fahrzeugen: Autos, Traktoren, Lastwagen. "Fließt" ist dabei für die Anwohnerinnen und Anwohner oft nicht das richtige Wort, um zu beschreiben, was sich Tag für Tag und Nacht für Nacht vor ihren Fenstern und jenseits ihrer Gartenzäune abspielt. "Tosen", "donnern", "rauschen" sind Worte, die auch für die Kesselostheimer passender sind, um den Verkehr in ihrem Ort zu bezeichnen. Nur 166 Menschen leben hier, und viele haben den Dauerverkehr satt. Eine 86-jährige Kesselostheimerin ist nun aktiv geworden.
Eine tägliche Zitterpartie für Anni Kalchgruber aus Kesselostheim
Es sind nur ein paar Meter, doch für Anni Kalchgruber sind sie jeden Tag eine Zitterpartie. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hält der Bus, der ihre achtjährige Urenkelin in die Schule bringt. Doch der Weg kann noch so kurz sein, aus Kalchgrubers Sicht ist er für die Kinder viel zu gefährlich. Etwa am letzten Tag vor den Weihnachtsferien, so schildert es die Rentnerin: Sie habe von ihrer Wohnung aus gesehen, wie ihre Enkelin sich auf der anderen Straßenseite von einem Klassenkameraden verabschiedete. "Sie war mit den Gedanken woanders", sagt die Rentnerin, ein Milchlaster kommt gerade die kurvige Straße direkt auf ihre Urenkelin zu. "Ich bin sofort raus und habe geschrien, sie soll von der Straße runtergehen." Der Spiegel, der eigentlich zur besseren Übersicht an der Kreuzung angebracht ist, sei zugefroren gewesen, habe das Mädchen später gesagt. Deshalb habe sie weiter auf die Straße gehen müssen, um zu schauen. Kalchgruber ist überzeugt, dass sie Schlimmeres verhindert hat: "Der hätt' nicht mehr bremsen können."
In Kesselostheim gibt es keine Bank, keinen Supermarkt, keine Bäckerei. Es gibt einen Friseur, Wohnhäuser und die Staatsstraße, die den Ort in zwei Hälften teilt. Damit die Kinder sicher über die Straße kommen, möchte Kalchgruber, dass statt Tempo 50 bald Tempo 30 gilt. Dafür hat sie Unterschriften gesammelt. 68 sind letztlich zusammengekommen. Vom Klinkenputzen hat die 86-Jährige Geschichten mitgebracht, wie die Kesselostheimer unter der Straße leiden. Es sind Geschichten von Menschen, die wegen des Lärms keinen Schlaf finden, von Familien, die eigene Schilder aufgestellt haben, um auf die Kinder hinzuweisen, und von überfahrenen Katzen, die die Eltern schnell von der Straße räumten, damit die Kinder es nicht mitansehen mussten. Müssen statt Katzen hier erst Kinder überfahren werden, damit etwas passiert, fragt sich die Rentnerin.
Einen Holzzaun zum Schutz im Garten gebaut
Unterstützt wird Kalchgruber von ihrem Nachbarn Konrad Hahmann. Er wohnt direkt gegenüber und hat seinen Garten in ein Bollwerk gegen den Lärm verwandelt. Sitzt man einmal drin, ist von der Straße nichts mehr zu sehen. "Ich habe versucht, mich mit einem Wall und einem Holzzaun abzuschirmen", sagt Hahmann. Doch immer wieder unterbricht das Tosen eines vorbeifahrenden Lkw das Idyll. Dabei sei es noch vergleichsweise ruhig, sagt der Rentner. Denn die B16 ist derzeit nahe Tapfheim gesperrt. Hahmann ist überzeugter Umweltaktivist. Seine Nachbarin Anni Kalchgruber hat er angesteckt. Mit 85 ist sie in die Ortsgruppe der Grünen eingetreten und nun mit vollem Einsatz dabei. Doch um die Umwelt geht es den beiden hier nicht. Die Sicherheit der Kinder ist ihr Hauptargument.
Und das versteht auch Stephan Herreiner, Bürgermeister in Bissingen. Ihm hat Kalchgruber die Unterschriften bereits vorbeigebracht. "Ein sehr netter Herr", sagt die 86-Jährige über ihren Besuch. Helfen konnte der Herr Bürgermeister ihr aber nicht. "Ich bin froh, dass das eine Staatsstraße ist", sagt Herreiner ein paar Tage später am Telefon. Damit liege die Entscheidung in anderen Händen. Nämlich in denen des Landratsamtes.
Bissingens Bürgermeister hat Verständnis
Für Herreiner ist das Anliegen der Rentnerin verständlich. "Ein Gefahrenpotenzial ist an jeder Straße, das ist ganz klar." Herreiner sieht jedoch ein Problem darin, eine solche "Referenzentscheidung" zu treffen. Das heißt: Danach könnten auch andere Ortsteile an der Staatsstraße eine niedrigere Geschwindigkeit fordern. "Ich kann mir aber vorstellen, eine Querungshilfe zu schaffen." Doch eine Sanierung der Straße sei schon länger geplant gewesen, bisher aber nie umgesetzt worden. So etwas koste Geld und dauere lang. Zudem sei es Kalchgruber und ihrer Familie klar gewesen, dass ihr Haus an der Staatsstraße liege, als sie vor drei Jahren hergezogen seien.
"Primitiv" nennt Anwohner Konrad Hahmann das Argument des Bürgermeisters, dass dann am Ende alle Gemeinden Tempo 30 wollen würden. Nicht nur die Sicherheit, auch der Lärm sei ein Problem, das mit Tempo 30 gelindert würde. Am Donnerstag soll nun der Termin beim neuen Landrat Markus Müller stattfinden. Egal, was dabei rauskommt - Hahmann und Kalchgruber machen weiter.