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Schicksale in Dillingen: „Es ist lebenswichtig, dass ich da bin“

Schicksale in Dillingen

„Es ist lebenswichtig, dass ich da bin“

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    Elena Schreiber pflegt Lucy-Sophie seit zehn Jahren.
    Elena Schreiber pflegt Lucy-Sophie seit zehn Jahren. Foto: Bronnhuber

    Kuscheltiere, Bücher, Poster und andere Spielsachen – und ganz viel Pink. Das Kinderzimmer von Lucy-Sophie sieht genau so aus, wie es bei zehnjährigen Mädchen auszusehen hat. Es ist bunt, verspielt und kuschelig. In ihrem Zimmer im ersten Stock steht auch ein großer Stuhl, auf dem eine rote Decke liegt. Der ist für die Pflegekräfte, die nachts bei Lucy-Sophie sind. An ihrem Stockbett lehnt ein schwarzer Rucksack. Darin sind überlebenswichtige Utensilien. Neben dem Bücherregal steht ein Schrank. Jede Menge medizinische Materalien sind dort verstaut. Und statt eines Stundenplanes hängt an der Wand ein Dienstplan, wann welche Pflegekraft kommt.

    Lucy-Sophie ist ein besonderes Mädchen. Sie ist am 16. Mai 2008 mit einem nicht intakten Lymphsystem und Flüßigkeitseinlagerungen auf die Welt gekommen. Zudem musste ein Luftröhrenschnitt gemacht werden. Bis heute hat sie eine Kanüle im Hals, die eine Verbindung zwischen äußerem Luftraum und Luftröhre bildet. Die braucht sie, um zu atmen, um zu überleben.

    So wie Finn. Der kleine Bub liegt seit seiner Geburt im Mai dieses Jahres auf der Intensivstation in der Kinderklinik in Augsburg. Er muss 24 Stunden beatmet und über eine Magensonde künstlich ernährt werden. Seine Mama könnte ihn schon längst mit nach Hause nach Dillingen holen, aber sie findet bis heute keine geeigneten Pflegekräfte. Ihren Kampf mit Krankenkasse und Pflegesystem hat sie über die Heimatzeitung öffentlich gemacht.

    So hat Katrin Fiedler, die Mama von Lucy-Sophie, vom Schicksal des kleinen Finn erfahren und sich gemeldet. Sie sagt: „Ich will und kann vielleicht helfen. Ich habe zehn Jahre Erfahrung und weiß, was das bedeutet. Leider.“ Was es bedeutet, ein Intensivkind zu haben. In der 30. Woche haben die Eltern Katrin und Steffen Fiedler erfahren, dass ihre Tochter schwer krank zur Welt kommt. Per Kaiserschnitt wurde Lucy-Sophie in der Uniklinik in Ulm geboren und sofort in ein künstliches Koma versetzt. Erst nach sechs Wochen durfte Mama Katrin ihr drittes Kind zum ersten Mal in den Arm nehmen. „Man glaubt so fest an sein Kind und ist sich sicher, dass es das schafft. Alles andere blendet man aus.“

    Fast sechs Monate verbringt Katrin Fiedler in einem Elternzimmer, oft war sie in dieser Zeit nicht bei ihrer Familie in Dillingen. „Wir wussten nicht, ob sie überlebt“, schildert es die 44-Jährige. Es ist eine schwierige Situation gewesen, die auch daheim nicht besser wird. Irgendwann ist die Mama mit ihrer Tochter aus der Klinik entlassen worden – ab diesem Zeitpunkt musste die Mutter ihr Kind 24 Stunden überwachen, versorgen und pflegen. Ernährungspumpe einstellen, Sondieren, Sauerstoffsättigung überprüfen, Kanüle säubern. Die Liste lässt sich schier endlos fortsetzen. „Wenn ich zurückblicke, weiß ich gar nicht, wie ich das überhaupt ohne Pflegedienst geschafft habe. Im Grunde war ich immer panisch und wir waren ständig im Krankenhaus“, erzählt sie.

    Elena Schreiber hört Katrin Fiedler zu und schüttelt immer wieder fassungslos den Kopf. „Eigentlich nicht zu glauben, wie sie das geschafft hat“, sagt die rothaarige Frau. Und sie muss es wissen. Seit zehn Jahren kümmert sie sich um Lucy-Sophie, das tapfere Mädchen ist ihr richtig ans Herz gewachsen. Deshalb hat

    Sieben bis neun Pfleger sind Tag und Nacht an Lucy-Sophies Seite. „Ohne diese Unterstützung würde es nicht gehen. Man muss auch an sich denken. Ob man will oder nicht“, sagt Mama Katrin. Dazu gehört ihr Job, sie und ihr Mann leiten ein Fitnessstudio in Lauingen. „Wir müssen als Eltern den Kopf freikriegen, um Energie zu tanken. Das hilft der ganzen Familie.“ Elena Schreiber nickt und sagt, dass das extrem wichtig ist. „Es ist unglaublich, wie es ohne uns das eine Jahr überhaupt funktioniert hat“, sagt die 37-Jährige.

    Genau das ist das Problem von Finn. Seine Mama Nicole kann und darf die Pflege ihres Buben zuhause alleine nicht stemmen. Wie berichtet, bekommt sie immer wieder Absagen von Pflegediensten. Seit Monaten. Entweder, weil die Dienste nicht auf Kinder spezialisiert sind, weil kein Team frei ist, weil es zu wenig Pflegekräfte gibt oder weil ihre Krankenkasse nicht mitspielt. „Da stimmt doch was in unserem System nicht. Es muss sich was ändern. Das gilt doch nicht nur für meinen Fall. Wir Menschen werden immer älter und uns geht das Pflegepersonal aus“, sagt die Mutter. Es geht ihr nicht darum, dass ihre Familie ihr Schicksal in den Vordergrund stellen will. „Aber so kann es nicht weitergehen.“

    Auch nicht für Finn. Lange kann der kleine Kämpfer nicht mehr in der Kinderklinik bleiben. „Hier wird jeder Platz gebraucht. Aber uns wird der Weg nach draußen in jeder Form verwehrt“, sagt Mama Nicole. Mittlerweile hat sie mit „Agapeo“ einen Pflegedienst gefunden, der die Versorgung von Finn übernehmen will. Aber nach wie vor fehlt es an Personal. Die Gründe sind immer dieselben: Es gibt nicht genügend Fachkräfte und die Bezahlung ist zu schlecht. Und die letzte Option – Finn und Mama müssen in ein Heim nach Amberg ziehen – wird von der Krankenkasse seit fünf Wochen geprüft.

    Katrin Fiedler kennt all diese Sorgen und Kämpfe. Sie ist schon bis vors Sozialgericht gezogen, weil von heute auf morgen plötzlich die Zahlung für einen Pflegedienst eingestellt worden ist. „Betroffene Eltern sind hilflos. Man muss so viel wissen, organisieren und lernen. Von der Bürokratie ganz abgesehen. Dabei hat man eigentlich genug damit zu tun, dass man ein schwer krankes Kind hat“, sagt die Dillingerin. Deshalb möchte sie helfen, wo sie kann. Auch Finn. „Ich habe mittlerweile ein gutes Netzwerk. Ich weiß, wo geholfen wird und wo nicht.“

    Zwischenzeitlich haben die beiden Mütter Kontakt zueinander aufgenommen. Das man am grundsätzlichen Problem des Pflegesystems auf die Schnelle etwas ändern kann, glaubt die 44-jährige Katrin Fiedler nicht. „Aber wir können uns vielleicht gegenseitig helfen“, sagt sie. Und eines ist der Mama besonders wichtig: Pflege daheim ist schön und für die Entwicklung des Kindes unglaublich wichtig. „Es ist nicht alles schlimm. Im Gegenteil. Wir erfahren so viel Positives und Lucy-Sophie kann sich zuhause entwickeln. Das Leben ist auch mit einem behinderten Kind schön. Ich will allen Betroffenen Mut für diesen Weg machen. Er lohnt sich.“

    Auch dank Menschen wie Elena Schreiber. Die Dillingerin hat sich vor 14 Jahren entschieden, nicht mehr als Kinderkrankenschwester in Augsburg zu arbeiten. Aktuell betreut die 37-Jährige drei Familien mit kranken Kindern – und sie schwärmt von ihrem Beruf: „Es ist einfach schön. Man arbeitet direkt mit dem Kind und ich kann mithilfe der Dienstpläne auch mein Familienleben gut damit vereinbaren. Aber wir brauchen viel mehr Menschen, die diese Arbeit machen wollen. Die Familien, die unsere Hilfe brauchen, werden immer mehr“, sagt sie. Seit zehn Jahren begleitet Elena Schreiber schon Lucy-Sophie. Sie gibt dem Mädchen Medikamente, überwacht die Beatmung, begleitet sie mit dem Bus in die Regens-Wagner-Schule, geht mit ihr spazieren, spielt und lacht mit ihr. „Es ist so schön, zu sehen, wie sie sich entwickelt hat. Ich bin für sie wie ein Familienmitglied“, beschreibt sie es. Katrin Fiedler ergänzt: „Das sind meine Engel, mit denen meine Familie und ich wie in einer WG zusammenleben.“

    Auch Finn braucht solche Engel. Dringend. Aktuell gibt es die aber nicht. Mama Nicole will die Hoffnung nicht aufgeben, aber ihr großer Wunsch, dass ihr Sohn an Weihnachten zum ersten Mal im eigenen Bett in Dillingen liegen kann, der scheint sich nicht zu erfüllen. „Dann kaufen wir halt einen Plastikbaum und feiern Heilig Abend in der Klinik“, sagt Nicole. Vergangene Woche kam die Familie im sehr kleinen Rahmen schon im Krankenzimmer von Finn in Augsburg zusammen. Das Baby wurde getauft.

    Lucy-Sophie kann Weihnachten zu Hause feiern. Weil es Menschen wie Elena Schreiber gibt, die sich um das Mädchen kümmern und die Familie unterstützen. Das ganze Jahr über. Auch nachts. Sobald Lucy-Sophie eingeschlafen ist, sitzt Elena auf dem großen Stuhl mit der roten Decke im Kinderzimmer. Sie schaut ständig nach ihrem kleinen Schützling. „Es ist lebenswichtig, dass ich da bin.“

    Kontakt Katrin Fiedler hat eine E-Mail-Adresse eingerichtet, an die andere betroffene Eltern ihre Anliegen schicken können. Die Adresse: Intensivkind-im-Alltag@gmx.de. Nachdem es immer mehr betroffene Eltern in der Region gibt, hat die Dillingerin zudem eine Infoplattform auf Facebook erstellt, auf der Eltern schnellstmöglich wichtige Informationen aus der Region für ihre Kinder bekommen. Die

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