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Pflegenotstand: Finn will nach Hause, aber niemand pflegt ihn

Pflegenotstand

Finn will nach Hause, aber niemand pflegt ihn

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    Seit knapp sechs Monaten liegt der kleine Finn auf der Intensivstation im Augsburger Klinikum. Seine Mutter hat vor einigen Tagen dieses Foto von ihm gemacht und unserer Redaktion zur Verfügung gestellt.
    Seit knapp sechs Monaten liegt der kleine Finn auf der Intensivstation im Augsburger Klinikum. Seine Mutter hat vor einigen Tagen dieses Foto von ihm gemacht und unserer Redaktion zur Verfügung gestellt. Foto: privat

    Er ist frech, unerschrocken und kämpft mit seinen Freunden gegen die Bösewichte auf seiner Insel Nimmerland. Peter Pan ist ein Kinderheld. Viele Buben wollen so sein wie der Junge, der niemals erwachsen wird. Finn bestimmt auch, obwohl er noch so klein ist. Mama Nicole spürt das, wenn sie ihm von Peter Pan vorliest. Und selbst von einem unbeschwerten Leben träumt, ohne Angst, ohne Sorgen. Dann vergisst sie für einen Moment, dass sie nicht zu Hause auf dem Sofa mit ihrem Sohn kuschelt, sondern in einem Zimmer auf der Intensivstation im Augsburger Klinikum.

    Seit fast sechs Monaten liegt Finn dort. Am Kopfende seines Betts wachen die orangefarbene Maus, ein kleiner Hund und der Aufzieh-Affe über das Baby mit den Pausbacken und dem Schmollmund. Da sind aber auch Schläuche, die von seinem Hals und seinem Bauch wegführen. Ohne sie würde er nicht überleben.

    Finn kam am 30. Mai um 19.09 Uhr per Notkaiserschnitt mit einer viel zu kleinen Lunge zur Welt. Mit dem ersten Atemzug kollabierte das Organ, das Baby musste sofort intubiert werden. Es war fraglich, ob der Kleine seine erste Nacht überleben würde. Diagnose: beidseitige Lungenhypoplasie mit pulmonalem Hochdruck. Finn muss seither 24 Stunden beatmet und über eine Magensonde künstlich ernährt werden.

    Dabei war doch die letzte Aussage eines Arztes vor der Geburt: Das Kind ist gesund. Finn ist aber nicht gesund. Er ist schwer krank. Trotzdem könnte er längst zu Hause sein. Würde seine Mutter Nicole nur ein Pflegeteam finden, das garantiert, dass ihr Sohn 24 Stunden, sieben Tage die Woche versorgt ist. Genau dieses Team gibt es nicht.

    Die Kinderklinik am Augsburger Klinikum. Dort liegt der kleine Finn schon seit fast sechs Monaten auf der Intensivstation.
    Die Kinderklinik am Augsburger Klinikum. Dort liegt der kleine Finn schon seit fast sechs Monaten auf der Intensivstation. Foto: Ulrich Wagner

    Dabei hat sich die Familie vor Wochen schon darauf gefreut, Finn mit nach Hause zu nehmen. Endlich. Der Nördlinger Kinderpflegedienst Unterm Regenbogen hatte ein Konzept ausgearbeitet und ein Team zusammengestellt, das Finn betreuen sollte. Vier Tage, bevor Finn das Krankenhaus verlassen sollte, kam die Absage. Thomas Feldmeier, Geschäftsführer von Unterm Regenbogen, sagt: „Es ist bitter, dann zu sagen: Es geht nicht. Da ringt man schon um Worte.“

    Man merkt Feldmeier an, dass er und seine Kollegen es sich nicht leicht gemacht, dass sie sich bemüht haben, einen Weg zu finden. Doch mehrere Mitarbeiter sind kurzfristig ausgefallen – langzeitkrank oder schwanger. „Das können wir nicht auffangen.“ Finn ist ja nicht der Einzige. Zwei bis drei Anfragen pro Monat musste der Pflegedienst zuletzt ablehnen. „Wir können keine zusätzlichen Kinder aufnehmen“, sagt Feldmeier. Zunächst gehe es darum, die Kinder, um die sie sich bereits kümmern, bestmöglich zu versorgen. Für neue Patienten bräuchte Feldmeier mehr Kinderkrankenpfleger. Die findet er nicht.

    Einer sagt: Wir könnten schnell 15 bis 20 Pflegekräfte einstellen

    60 Mitarbeiter hat er derzeit. Das Einsatzgebiet reicht vom Donau-Ries bis nach Gersthofen, von Heilbronn bis Dillingen. „Theoretisch könnten wir relativ schnell 15 bis 20 Mitarbeiter mehr beschäftigen.“

    Allein, um Finn zu versorgen, bräuchte es sechs bis sieben Vollzeitkräfte, die sich im Schichtmodell abwechseln, oder zehn bis zwölf Schwestern in Teilzeit. Er muss rund um die Uhr überwacht werden – falls ein Schlauch verrutscht. Denn wenn Finn weint, hört man ihn nicht. Zudem gehört es zur Aufgabe der Pflegekräfte, ihn mit künstlicher Nahrung zu versorgen, ihm Medikamente zu geben und die Mutter zu unterstützen. „Ich kann das allein nicht leisten. Ich muss mal schlafen oder einkaufen“, sagt Nicole. Deshalb braucht sie professionelle Hilfe, vor allem nachts.

    Die 38-Jährige sitzt auf einem der bunten Stühle im Eingangsbereich der Augsburger Kinderklinik. Da saß sie noch nie, obwohl sie schon so lange hier ist. Aber sie will sich Zeit nehmen, um ihre Geschichte zu erzählen. Die hübsche, zierliche Frau versucht dabei, ihre Emotionen zurückzuhalten. Sie will stark sein. Für Finn. „Ich habe Gott sei Dank den Sturkopf meines Vaters geerbt“, sagt sie und lacht. Trotzdem füllen sich ihre blauen Augen immer wieder mit Tränen. Vor allem, wenn sie darauf zu sprechen kommt, dass sie ihr Kind nicht mit nach Hause nehmen kann. Deshalb kämpft sie unermüdlich, telefoniert stundenlang und organisiert ihr Leben um das Krankenhaus herum. „Ohne die Unterstützung meiner Freunde würde ich das nicht schaffen.“

    Die Liste der Pflegedienste, die die Mutter kontaktiert hat, ist lang. Alle haben abgesagt. Etwa Heribert Karrer von Mukki, einem mobilen Kinderintensivpflegedienst aus Ulm. „Natürlich haben wir uns Gedanken gemacht“, sagt er. Aber eine Pflege in diesem Umfang, für die so viele Mitarbeiter nötig sind, „die könnten wir nicht mal im Ansatz stemmen. Das sprengt alle Grenzen.“ Auch die Malteser in Aalen haben abgesagt. Oder Elisa aus Neuburg an der Donau. Eine Frau, die schon lange in der häuslichen Pflege arbeitet, sagt, der Personalmangel sei das eine Problem. „Aber wir kriegen auch nicht das Geld, das wir von den Kassen bräuchten. Wenn ich die Pflege dieses Kindes annehme, würde ich draufzahlen.“ Es ist nun mal so: Eine Intensivbetreuung für Finn kostet viele tausend Euro im Monat.

    Doris Krafzik kennt das alles: den Kampf um Mitarbeiter, den Streit mit den Krankenkassen ums Geld, die Diskussionen darüber, ob ihr Stundensatz zu hoch ist. „Wir haben die Schwierigkeit, dass wir aufgrund unserer tarifbedingten Vorgaben höhere Kosten haben als private Anbieter“, sagt Krafzik, die die Caritativen Dienste Augsburg leitet. Das sehen manche Kassen nicht gern. „Ich darf keine Kinder von bestimmten Kassen mehr annehmen“, sagt sie. Weil ihre Arbeit aus deren Sicht zu teuer sei. Zudem hätte sie auch keine Kapazitäten.

    Die 52 Mitarbeiter, die dort in der ambulanten Intensivpflege tätig sind, betreuen 13 Patienten – Kinder, die sie zur Krippe oder zur Schule begleiten, aber auch zwei Patienten, um die sie sich Tag und Nacht kümmern. Mehr geht nicht. „Im letzten halben Jahr habe ich alle Anfragen für Intensivpflege ablehnen müssen“, sagt Krafzik. Auch die Anfrage von Finns Mutter.

    Absagen für Finns Pflege: Für die Mutter sind das Schläge in die Magengrube

    Nicole ist mit ihrem Sohn bei der AOK Bayern versichert. Für die Dillingerin sind die Absagen, die Diskussionen um Kosten und fehlende Pflegekräfte immer wieder Schläge in die Magengrube. Trotzdem will die Mutter nichts unversucht lassen. Sie hat eine Anzeige in unserer Zeitung geschaltet und öffentlich um Hilfe gebeten. Es gab auch einige Bewerbungen, viele haben ihr Mitgefühl ausgedrückt. Aber richtig vorwärts ging es noch nicht. Und sie weiß, dass sie nicht die Einzige ist. „Da stimmt doch was in unserem System nicht“, sagt sie. „Wir investieren nur noch in die Technik und nicht ins Handwerk.“

    In Deutschland gibt es immer mehr pflegebedürftige Kinder und Jugendliche – auch, weil wegen des medizinischen Fortschritts immer mehr Kinder mit schweren Krankheiten überleben. So wie Finn. Die meisten müssen später zu Hause versorgt werden. Aber was, wenn es kaum mehr Pflegekräfte gibt, die das tun? „Was bringt mir da die ganze Technik?“, fragt Nicole.

    Es sind Kinder, die die Gesellschaft nicht sieht. Die „in gewisser Weise unsichtbar sind“. So formuliert es Markus Zobel, Geschäftsführer der Malteser Dienste für Kinder. Weil sie zu Hause gepflegt, beatmet und künstlich ernährt werden. Weil sie nicht auf Spielplätzen herumtoben, sondern in ihren Betten liegen. Und wenn die Öffentlichkeit über den Pflegenotstand diskutiert, dann meist nur über die zehntausenden Kräfte, die in Krankenhäusern und Altenheimen fehlen. „Unser Pflegenotstand aber wird nicht gesehen“, sagt Zobel, der zugleich den Bundesverband Häusliche Kinderkrankenpflege vertritt. Fachleute schätzen, dass fast jede vierte offene Kinderkrankenpflegerstelle nicht besetzt werden kann.

    Zahlen und Fakten: So sehen die Deutschen das Pflegesystem

    Überlastete Ärzte, überforderte Politiker - die große Mehrheit der Deutschen sieht den Pflegenotstand erreicht. 87 Prozent der  Bundesbürger sind sich bei dieser Diagnose einig.

    89 Prozent halten Ärzte im deutschen Gesundheitssystem häufig für überlastet.

    90 Prozent werfen der Bundesregierung vor, die Probleme jahrelang vor sich hergeschoben zu haben.

    Dass sich die Politik ausreichend um das Thema Pflege kümmert, findet nur ein Fünftel der Bundesbürger.

    Mehr als die Hälfte der Befragten bezeichnet das deutsche Gesundheitssystem als generell gut organisiert.

    Vom deutschen Pflegesystem sagt das allerdings nur ein Drittel der Deutschen.

    Neun von zehn Deutschen wünschen sich mehr staatliche Aufsicht: Aus ihrer Sicht sollten Pflege- und Gesundheitsleistungen durch private  Einrichtungen besser kontrolliert werden.

    Vier von fünf Befragten sagten, dass Pflegekräfte zu wenig Zeit für den einzelnen Patienten haben, zu schlecht bezahlt werden und es generell zu wenig Personal gibt.

    73 Prozent fordern daher auch dringend, dass der Mindestlohn für diese Berufsgruppe angehoben wird.

    69 Prozent sind der Meinung, dass das Ansehen dieses Berufs steigen muss. (ots, Stand Sept. 2018)

    Für Zobel ist das eine Entwicklung, die sich lange angebahnt hat. „Doch man hat zu wenig dagegen getan.“ Es geht um Arbeitsbedingungen, um bessere Bezahlung, darum, die Ausbildung zu fördern. Das Gegenteil aber war der Fall. In allgemeinen Kliniken gab es 2008 noch 10420 Ausbildungsplätze für Kinderkrankenpfleger, 2016 waren es nur noch 8753. Und die wenigsten glauben, dass sich durch das neue Pflegeberufegesetz, mit dem die Ausbildung zum Alten-, Kranken- und Kinderkrankenpfleger zusammengeführt wird, etwas ändert.

    Nicole bezeichnet sich selbst als optimistische Realistin. Deshalb sagt sie, dass die Rechnung nicht aufgehen kann: „Wenn es in Deutschland nur 160 zugelassene ambulante Dienste gibt, die sich auf Kinderkrankenpflege spezialisiert haben, aber hunderte kranke Kinder im Jahr zur Welt kommen, die ähnliche Krankheiten haben wie Finn – wie soll das funktionieren? Mir geht es nicht darum, dass wir unser Schicksal in den Vordergrund stellen. Wir werden es schon alles schaffen. Aber so kann es doch nicht weitergehen“, klagt sie. Auch für Finn nicht.

    Die AOK verspricht, an einer Lösung für Finn zu arbeiten

    Lange kann der Bub nicht mehr im Klinikum bleiben. Das sei ja kein Hotel, sondern ein Akut-Krankenhaus. Die AOK teilt auf Anfrage mit, dass man bisher keinen „Kinderintensivpflegedienst finden konnte, der den kleinen Finn im erforderlichen Umfang zu Hause versorgt. Wir geben die Suche aber nicht auf – und werden auch außerhalb Bayerns weitersuchen.“ Zur Frage, wie teuer Finns Pflege aus Sicht der AOK sein darf, macht die Krankenkasse keine Angaben.

    Seit Finns Geburt pendelt Nicole jeden Tag in die Klinik, übernachtet dort auch manchmal. Nach der Arbeit kommt der Papa dazu. Bis zum Tag der Geburt rechneten die Eltern mit einem gesunden Kind. Zwar sei im Vorfeld entdeckt worden, dass er nur mit einer Niere zur Welt kommen würde. Dies sei aber kein Problem, hieß es. Dass ihr Kind aber nun schon zweimal im Koma lag und auf lebenserhaltende Schläuche angewiesen ist, konnte niemand vorhersagen. Momentan plagt den kleinen Frechdachs, der die Krankenschwestern längst im Griff hat, zusätzlich ein Magen-Darm-Virus. Für ihn wirkt sich das aus, als treibe er den ganzen Tag Hochleistungssport. „Seine Lunge kann heilen oder nicht. Das kann man nicht vorhersagen. Wir müssen mit allem rechnen“, sagt Nicole.

    Nach der Anzeige in unserer Zeitung und einem Bericht in unserer Dillinger Lokalausgabe haben sich viele Pflegekräfte bei Nicole gemeldet. Zwischenzeitlich fand sich mit der Firma Agapeo mit Hauptsitz im mittelfränkischen Roth auch ein häuslicher Kinderkrankenpflegedienst, der ein Team zusammenstellen will. Bisher noch ohne Erfolg. „Ich hoffe weiter, dass wir es bis Heiligabend schaffen. Sonst feiere ich halt Weihnachten in der Oberpfalz. Da war ich auch noch nie“, sagt die Mama und ringt sich ein Lächeln ab.

    Oberpfalz deshalb, weil die einzige Alternative für ihren Sohn neben der Pflege zu Hause ein Heim ist. Und ein Platz in einer „Wohngruppe für intensivpflichtige Kinder“ ist aktuell nur in Amberg im Kinderhaus „Ninos“ frei.

    Die AOK prüft derzeit, inwieweit eine Versorgung dort möglich ist. Gibt es eine Zusage, könnte der Umzug schnell gehen – auch wenn die Familie am liebsten zusammen in Dillingen wohnen will. „Aber natürlich werde ich mit Finn dann da hinziehen. Ich werde mich nicht von meinem Kind trennen. Er ist alles, was ich habe“, sagt sie.

    Und dann kommen Nicole doch die Tränen. Manchmal, sagt sie, sei ihr alles zu viel.

    Im nächsten Moment schluckt sie ihren Kummer hinunter, setzt ihre Brille auf, steht auf und rennt die Stufen ins dritte Obergeschoss der Augsburger Kinderklinik hoch. Wie jeden Tag. Dort wartet Finn auf die Mama. Damit sie ihm endlich ein neues Abenteuer von Peter Pan vorlesen kann.

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