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Lauingen: „Auch beim Handy haben Kinder keine Privatsphäre“

Lauingen

„Auch beim Handy haben Kinder keine Privatsphäre“

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    Viel Raum zum Spielen und Toben gibt es in der Praxis von Christoph Radaj. Der 41-Jährige hat in Lauingen eine Praxis für Psychotherapie für Kinder und Jugendliche. Er sagt, Eltern sollten sich mehr mit dem beschäftigen, was ihre Kinder mit dem Handy tun. Bis zum 18. Lebensjahr dürfe es keine Welt geben, bei der die Eltern komplett ausgeschlossen sind.
    Viel Raum zum Spielen und Toben gibt es in der Praxis von Christoph Radaj. Der 41-Jährige hat in Lauingen eine Praxis für Psychotherapie für Kinder und Jugendliche. Er sagt, Eltern sollten sich mehr mit dem beschäftigen, was ihre Kinder mit dem Handy tun. Bis zum 18. Lebensjahr dürfe es keine Welt geben, bei der die Eltern komplett ausgeschlossen sind. Foto: Cordula Homann

    Die Kosten für die Jugendhilfe im Landkreis Dillingen steigen. Woran liegt das? Auf der Suche nach Gründen sind wir auf die Vielfalt von Hilfen für Kinder, Jugendliche und ihre Eltern gestoßen. Diese stellen wir in einer losen Reihe vor.

    70 Prozent seiner Patienten sieht Christoph Radaj ein- bis viermal. Der 41-Jährige ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut. Kinder, die einen schweren Missbrauch erlebt haben, oder an einer tief greifenden psychischen Erkrankung erkrankt sind, besuchen ihn jahrelang regelmäßig. Nicht nur in solchen Fällen verweist auch das Amt für Jugend und Familie auf ihn.

    Wer in der Praxis in Lauingen anruft, landet nicht bei einer Sprechstundenhilfe, sondern direkt beim Chef. Schon am Telefon fragte er gezielt nach den Problemen. „Manchmal bin ich auch gar nicht der richtige Ansprechpartner, dann kann ich direkt an eine andere Stelle im Landkreis verweisen. Und unnötige Wege verhindern.“

    Kinder und Jugendliche kommen teils mit Spielsachen, Ipad oder Handy

    Kinder, die Radaj kennenlernen, dürfen alles mitbringen, was sie beschäftigt – und sei es das Ipad. „Wir schauen ja auch bestimmte Filme gerne an, weil sie etwas in uns auslösen.“ Deswegen ist es ihm wichtig, zu sehen, womit sich die Kinder beschäftigen und vor allem warum. Der Phantasiewelt der Kinder sollte man sich nicht entziehen – im Gegenteil. Vor dem 16. oder 18. Lebensjahr dürfe es überhaupt keine Welt geben, von der die Eltern komplett ausgeschlossen sind. Es sei völlig absurd, wenn Eltern sagen, sie schauen nicht auf das Handy ihrer Kinder, das sei deren Privatsphäre. „Ich frage dann: Aber Google, Apple, Facebook und Co. – die dürfen alle wissen, was Ihr Kind tut?“ Kinder sollten lernen, dass das, was sie auf dem Handy oder Ipad machen, nicht privat bleibe. Mit all den Infos werde schließlich Geld verdient. Ein striktes Handyverbot sei zwecklos, der „Zug zur Abstinenz ist abgefahren“, sagt der Familienvater. Die mediale und die reale Welt seien viel zu eng miteinander verzahnt. Eltern sollten hinschauen, sich gemeinsam damit beschäftigen, was ihre Sprösslinge tun, sich auch mal mit nervigen Spielen quälen. Radaj spielt eigenen Angaben zufolge viel mit seinen Patienten – auch offline.

    In der Schule schlecht, im Netz überragend

    Der Psychotherapeut hat einen Jugendlichen behandelt, der in der Schule nicht gut war, aber in einem weltweiten Computerspiel zur internationalen Spitze gehörte. Radaj hat das Spiel selbst versucht und hat so erlebt, wie gut der Junge es beherrscht. Der Schüler wünschte sich einen Ganzkörperanzug, um die Freunde, die er über das Computerspiel kennengelernt hatte, berühren zu können. „In der medialen Welt hatte er richtige Freunde, das glaube ich wirklich. Aber in der realen tat er sich schwer.“ Genau an dieser Schnittstelle könnten psychische Erkrankungen auftreten. Radaj versucht dann, den Betroffenen eine Brücke zu bauen.

    Daneben betreut der 41-Jährige auch Jugendliche mit Depressionen. Diese könnten auch körperliche oder soziale Ursachen haben, doch Radaj sagt, von solchen Faktoren und Schuldgefühlen sollte man sich frei machen. Wir alle hätten eine innere Welt, in die wir kaum jemanden hineinlassen. Wenn junge Menschen damit nicht umgehen können, kann es Missverständnisse geben. „Mit mir können sie darüber reden, hier ist ein geschützter Ort. Und ich habe Schweigepflicht“, betont Radaj. Gemeinsam mit dem Betroffenen und den Eltern wird zu Beginn jeder Behandlung ein Plan erstellt. Der werde dann quasi in den Sitzungen abgearbeitet.

    Wenn das Baby nicht aufhört zu schreien

    Er hilft auch bei den ganz Kleinen: Wenn zum Beispiel ein Baby nicht mehr aufhört zu schreien, kann der Psychotherapeut die jungen Eltern unterstützen. „Babys sind hochsozial, die tun alles, damit sie verstanden werden. Und wenn zum Beispiel alles um sie herum aufgeregt ist, sind sie es auch. Das führt dann bei allen zu Stress und noch mehr Aufregung“, erklärt Radaj. Er will über dieses Missverständnis aufklären und den Eltern helfen, sich zu entspannen. Nach vier, fünf Sitzungen sei meist alles wieder gut. Fehler in der Erziehung gehören für Radaj dazu. „Mit Kindern geht dauernd etwas schief, das ist halt so.“ Wenn man auf andere höre und dann klappt etwas nicht, ärgere man sich viel mehr, als wenn man gleich den eigenen Weg geht. Wer da scheitert, lerne schlicht dazu.

    ADHS, eine Tablette und die Brille

    Und was ist mit ADHS? Radaj kann sich vorstellen, dass es immer schon Menschen mit einer sehr kurzen Aufmerksamkeitsdauer gegeben hat. Erste Belege dafür seien erforscht. Vielleicht war diese Eigenschaft früher sinnvoll, um schnell reagieren zu können. „Sie passt nur leider nicht mehr in unsere Zeit. ADHS hat sicher mit unserer Gesellschaft zu tun.“ Die Schule und das Umfeld hätten sich so verändert, dass Menschen mit ADHS sich nur schwer darin zurechtfinden. Wenn die Krankheit einwandfrei diagnostiziert ist, sei die wirksamste Behandlungsmethode das Medikament, sagt Radaj nüchtern. „Diese Wirkung kann zumindest ich durch Psychotherapie nicht erreichen. Die wirke bei den meisten aller betroffenen Kinder sehr gut. „Ob man sie einnehmen will oder nicht, das ist etwas anderes. Aber im Endeffekt ist es, wie eine Brille zu tragen.“ Ein betroffener Schüler, der das Medikament nimmt, sagte Radaj, wie froh er darüber sei, dass er nun ein ruhigerer Teil der Klassengemeinschaft ist. Wer das Medikament nicht nehmen möchte, dem versucht der Psychotherapeut zu vermitteln, sich so zu akzeptieren, wie er ist. Denn ohne dieses Selbstbewusstsein sei es schwierig. „Betroffene Kinder empfinden sich selbst als eigenartig, bekommen oft Ärger. Daraus wiederum kann Angst und das Gefühl falsch zu sein entstehen.“

    Seit fünf Jahren ist er in Lauingen tätig. Es gab einen freien Kassensitz und entsprechenden Bedarf, so ist er in der Herzog-Georg-Straße gelandet – beruflich. Privat wohnt er mit seiner Familie außerhalb des Landkreises. „Das ist Absicht. Das gehört zum gemeinsamen Schutzraum zwischen mir und den Patienten dazu.“ Im Landkreis ist er gut mit anderen Therapeuten und Einrichtungen vernetzt. Es sei spannend, wie sehr sich die Themen zwischen Dillingen, Gundelfingen und Holzheim ähneln. Fällt einem der Kollegen ein neues Problem auf – vor zwei Jahren waren es etwa Kräuterdrogen – werden innerhalb eines geschützten Raumes alle Betroffenen informiert. „Dann kommt etwas ins Rollen, darauf kann ich mich verlassen, das ist ein wahnsinniger Vorteil.“ Die Arbeit macht dem 41-Jährigen Spaß. Sie sei intensiv, aber „es ist immer Leben in der Bude“.

    Lesen Sie dazu auch die weiteren Folgen der Jugendhilfe-Serie aus dem Landkreis Dillingen:

    Das Kind tobt – wo liegt das Problem?

    Was heißt eigentlich selbstständig?

    Vom Problemkind zum Einserschüler: Wie Frank das geschafft hat

    Drei Kinder, kein Mann, kein Job: Das Dillinger Jugendamt hilft

    Jung, schwanger, single, was nun?

    Plötzlich im Heim

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