2011, irgendwo in Indien. Im Rahmen ihres Studiums besucht Katja Wagner vier Wochen lang die Orte, an denen T-Shirts, Hosen und Schuhe genäht und gefärbt werden. Was sie dort erlebt, schockiert sie nachhaltig: In den Elendsvierteln, zwischen den Baracken der Arbeiter, steigt ihr der Gestank von Urin in die Nase. Knietief stehen sie in kurzer Hose in großen Töpfen voller Färbemittel, stampfen durch die bunte Brühe, ihre Haut von den Chemikalien angegriffen. So erzählt es Wagner später. Es ist einer der Momente, der sie entscheiden lässt: Das muss auch anders gehen.
2019, Deutschland. Katja Wagner wagt einen mutigen Schritt. Gemeinsam mit zwei Kollegen beschließt sie, eine eigene Turnschuh-Marke zu gründen. Das Zünglein an der Waage ist der Sportartikelgigant Adidas – oder besser: eine Entscheidung des Konzerns. Der beschließt damals die Speedfactory – ein Prestigeprojekt, bei dem Schuhe zu großen Teilen von Robotern und per 3D-Druck hergestellt werden – nicht weiter voranzutreiben, sondern die Technologien künftig in Asien zu nutzen. Auch Wagner arbeitet damals für die Speedfactory. „Da hatten wir genug“, erzählt sie heute.
"MyTurns" produziert Schuhe in Portugal
Sie beschließt, es anders machen zu wollen – mit einem Schuh-Start-up, bei dem Arbeitsbedingungen und Umweltthemen eine größere Rolle spielen. Jetzt, 2021, erreicht „MyTurns“ den ersten Meilenstein seiner noch jungen Geschichte. In einem Video wird das Design vorgestellt. So richtig losgehen soll es dann in ein paar Wochen.
Die Modewelt hat es Katja Wagner, die in Lauingen aufgewachsen ist und heute in Ansbach lebt, schon immer angetan. Als Kind, erzählt sie, wollte sie Schneiderin werden. Nach dem Abi am Sailer-Gymnasium beginnt die heute 30-Jährige ihr Studium der Textilbetriebswirtschaft. Sie arbeitet für unterschiedliche Unternehmen, bereist verschiedene Länder. Sieht, was der Massenkonsum und die schlechten Arbeitsbedingungen auf der anderen Seite der Welt sozial und ökologisch anrichten.
Später betreut sie Projekte für einen großen Sportartikelkonzern, erhält Einblick in die Arbeitsweisen eines Großunternehmens. Irgendwann fasst sie einen Beschluss: „Es war Zeit, wirklich was zu machen und nicht nur so zu tun.“
Mit „MyTurns“ gründet Wagner ein eigenes Sneaker-Label, das sich der Nachhaltigkeit und der sozialen Gerechtigkeit verschrieben hat. Statt wie viele Großkonzerne in Bangladesch, Indien oder China zu produzieren, lässt das Unternehmen seine Schuhe in Portugal nähen, wo der Mindestlohn höher, die Lieferwege kürzer und die Arbeitsbedingungen besser sind. „Ich will mich ins Auto setzen und spontan die Produktion vor Ort ansehen können“, begründet Wagner die Entscheidung. Das sei in Asien ihrer Erfahrung nach nicht möglich. „Da weiß der Produzent genau, wann der Kontrolleur kommt. Daran ändert auch das schönste Fairness-Zertifikat nichts.“
Mit einer Crowdfunding-Kampagne will "MyTurns" durchstarten
Ursprünglich habe sie in Deutschland produzieren wollen. Doch das sei für ein so junges Start-up-Unternehmen nicht rentabel, es gebe nicht genug Produzenten. Wagner nennt ein Beispiel: Die Herstellung eines Schuhschafts koste in Asien 15 Euro, in Deutschland 50. Im Rest von Europa sei es ein Mittelwert davon. Und mit der portugiesischen Stadt Porto habe sie eine Gegend gefunden, in der es viele eingespielte Textilproduzenten gibt, die zu einem rentablen Preis und besseren Arbeitsbedingungen arbeiten.
Die Schuhe von „MyTurns“ sollen sich vor allem in zwei wesentlichen Punkten vom Rest des Markts unterscheiden: Zum einen bestehen sie zu 60 Prozent aus Recycling-Materialien, zum anderen gehen 50 Prozent des Erlöses an die Produzenten. Bei den großen Konzernen, sagt Wagner, nähmen die Produktionskosten nur zehn bis 20 Prozent des Schuhs ein, der Rest gehe für den Vertrieb und das Marketing drauf. „Wir wollen beweisen, dass es möglich ist, dass jeder in der Textilbranche von seiner Arbeit leben kann“, sagt Wagner.
Noch hat „MyTurns“ keinen Schuh verkauft. Das Team – Katja Wagner und zwei ehemalige Kollegen – legt erst noch richtig los. In diesen Tagen nimmt ihre Werbekampagne Fahrt auf: Erst wird das Design veröffentlicht, der Schuh vorgestellt, Mitte März soll ein Pitch-Video folgen. Abschluss des ersten Anlaufs wird eine Crowdfunding-Kampagne mit dem Ziel, circa 12.000 Euro einzunehmen. Die startet am 1. April. Mit Crowdfunding sollen durch viele private Investoren große Projekte ermöglicht werden. Bei „MyTurns“ funktioniert das so: Wem die Schuhe gefallen, der bestellt sie im Internet. Wegen der hohen Kosten und Risiken gibt es die erste Lieferung aber nur, wenn mindestens 100 Paar bestellt werden. Und wenn es nicht klappt? Dann bekommen die Unterstützer ihr Geld zurück. Doch daran will Wagner erst mal nicht denken.
Was die Schuhe der Lauingerin kosten
Die Gründerin betont, dass ihr Unternehmen gesund wachsen solle. Aktuell könne man 200 Paar im Monat produzieren. Für die 30-Jährige, die „MyTurns“ aktuell noch neben ihrem Hauptberuf betreibt, geht ein Traum in Erfüllung. Dass sie viel wagt, ist ihr bewusst. Aber: „Wenn man von etwas überzeugt ist, muss man auch Risiken eingehen.“ Vorderstes Ziel sei im Moment, die Crowdfunding-Hürde zu nehmen. Wagner gibt zu: „Die Schuhe sind nicht billig. Aber das funktioniert auch nicht, wenn alle Menschen entlang der Wertschöpfungskette langfristig davon leben wollen.“ Rund 125 Euro kostet ein Paar. Beim Design orientiert sich das Unternehmen am klassischen Sneaker – jedoch mit einer Besonderheit: Die Schnürsenkelenden haben unterschiedliche Farben. „Sowas fanden wir einfach immer schon cool“, erzählt Wagner, die maßgeblich an der Entwicklung beteiligt war. Die offizielle Vorstellung der Schuhe folgt am Sonntag.
Wagner hofft, dazu beitragen zu können, dass mehr über nachhaltige Mode nachgedacht wird. „Es gibt immer noch viele Menschen, die an das Greenwashing der Großkonzerne glauben. Ich würde mir wünschen, dass sich das ändert.“ Auch, damit es Bilder wie die aus Indien irgendwann nicht mehr gibt.
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