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Landkreis Dillingen: Volkstrauertag: „Eine Barbarei wie bei den Nazis ist immer wieder möglich“

Landkreis Dillingen

Volkstrauertag: „Eine Barbarei wie bei den Nazis ist immer wieder möglich“

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    Der Opfer von Krieg und Gewalt wird am Volkstrauertag gedacht – dieses Mal wegen Corona aber in deutlich reduzierter Form.
    Der Opfer von Krieg und Gewalt wird am Volkstrauertag gedacht – dieses Mal wegen Corona aber in deutlich reduzierter Form. Foto: Veh

    Ausgerechnet an diesem Sonntag gibt es den Volkstrauertag wegen Corona in deutlich reduzierter Version. Und dabei ist es heuer 75 Jahre her, dass der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. An den Kriegerdenkmalen soll es angesichts der Infektionsgefahr aber keine Menschenaufläufe geben. Die Ansprachen, die an die Opfer von Krieg und Gewalt erinnern, finden in der Region nach Informationen unserer Zeitung in den Gottesdiensten statt. Der Aufmarsch von Fahnenabordnungen und Reden an den Ehrenmalen fallen offensichtlich weitgehend aus. Einen genauen Überblick hat der Kreisvorsitzende der Bayerischen Kameraden- und Soldatenvereinigung (BKV), Anton Schön, aber nicht. Die Regelungen seien unterschiedlich. „Wegen Corona wird der Volkstrauertag anders als sonst sein“, sagt Schön.

    Erinnerungskultur ist enorm wichtig

    Aber auch in der Vergangenheit seien immer weniger Menschen zu diesem Gedenktag gekommen, hat der Kreisvorsitzende aus Wolpertstetten festgestellt. Schön ist Repräsentant von 41 Krieger- und Soldatenvereinen im Landkreis mit etwa 3000 Mitgliedern. „Tendenz sinkend“, wie der Kreisvorsitzende einräumt. Mit der Aussetzung der Wehrpflicht kämen kaum noch junge Menschen in den Vereinen nach. Dabei sei diese Erinnerungskultur enorm wichtig. „Wir müssen doch an die Schrecken des Kriegs und der Gewalt erinnern, damit so etwas nie wieder passiert“, sagt Schön. Und er warnt: Denn auch der Frieden in der westlichen Welt sei keine Selbstverständlichkeit, sondern auf dünnem Eis gegründet.

    So sieht es auch Leonhard Hartl aus Frauenstetten, der seit einigen Monaten in einem Seniorenheim in Altenmünster lebt. „Es war eine furchtbare Zeit. Und wir müssen das ‚Nie wieder‘ bei jungen Menschen verankern“, blickt der heute 93-Jährige zurück, der 1944 als 17-Jähriger in den Krieg musste. Tagelang habe es nichts anderes zu essen gegeben als ein Stück Brot. Zum Glück sei er Nichtraucher gewesen. So konnte Hartl Zigaretten gegen Brot tauschen.

    SS-Leute wegen Fahnenflucht erschossen

    Kurz vor Kriegsende sollte er erneut nach Merseburg (Sachsen-Anhalt) verlegt werden. Als der Zug bei Donauwörth nicht mehr weiterkam, habe er sich das von einem Bahnwärter bestätigen lassen – und gedacht: „Jetzt geh’sch hoim.“ Auf dem Fußmarsch nach Frauenstetten sei er beinahe von zwei SS-Leuten wegen Fahnenflucht erschossen worden. „Einer hielt mir die Pistole an den Kopf, der andere auf den Rücken“, erinnert sich der 93-Jährige. Er habe viel Schlimmes gesehen, sagt der einstige Landwirt und Fleischbeschauer. Die Gräueltaten der Nazis hätten ihn nach dem Krieg psychisch belastet. Er selbst habe Glück gehabt, und sei mit dem Leben davongekommen. Allein aus Frauenstetten und Hinterried starben 34 Männer im Zweiten Weltkrieg. Daran erinnert das Kriegerdenkmal in Frauenstetten.

    Wie Hartl hält auch der Lauinger Albert Lacher den Volkstrauertag für wichtig. Obwohl es mittlerweile an jedem Tag im Jahr ein Gedenken gebe, und manche Tage seien gar doppelt belegt. Der ehemalige Zweite Bürgermeister der Albertus-Magnus-Stadt hat das Kriegsende als 13-Jähriger miterlebt. Ihm kommt eine Lauinger Landwirtsfamilie in den Sinn, die gleich drei junge Männer im Zweiten Weltkrieg verloren hat. Lacher hat auf seinen Fahrradfahrten zum Gymnasium in Dillingen auch geschundene KZ-Häftlinge gesehen, die in Lauingen im Dachauer Außenlager arbeiten mussten. Fliegerangriffe seien immer bedrohlicher geworden, ein Personenzug sei bei Faimingen attackiert, ein Bauer beim Pflügen erschossen worden. Seine Familie habe Glück gehabt. Der Vater, der bereits im Ersten Weltkrieg war, wurde 1942 erneut eingezogen – und überlebte. Weil der junge Lacher Englisch im Gymnasium gelernt hatte, konnte er sich mit amerikanischen Offizieren, die in Lauingen stationiert waren, unterhalten und gewann deren Sympathien.

    60 Millionen Menschenleben im Zweiten Weltkrieg

    Am Kriegsende war auch die Wittislingerin Centa Seidl erleichtert. „Wir waren erlöst, als die Kapitulation da war“, berichtet Seidl. Ihr Verlobter war wie so viele gefallen. Schätzungen zufolge forderte der Zweite Weltkrieg 60 Millionen Menschenleben. Vor dem Einmarsch der Amerikaner hätten Wittislinger weiße Fahnen gehisst. Und am Grünberg seien noch Bomben abgeworfen worden. Den Volkstrauertag hält die 100-Jährige für notwendig. „Es wäre traurig, wenn all die Menschen, die ihr Leben lassen mussten, vergessen würden.“

    Diesen Sonntag ist Volkstrauertag.
    Diesen Sonntag ist Volkstrauertag. Foto: Veh (Symbolbild)

    Engelbert Kigele hatte 1938 das Abitur gemacht und kam zur Flugabwehr. Der heute 100-Jährige hat den kompletten Zweiten Weltkrieg mitgemacht, er war in Österreich, Norwegen und Russland im Einsatz. „Ich habe furchtbare Sachen gesehen“, sagt der Lauinger. Er habe geahnt, dass von den Nazis Gräueltaten verübt werden. Und beim Rückzug „haben wir das mitbekommen“. Bei einem Häuserkampf in Danzig habe ihn ein Vorgesetzter gezwungen, nach vorne zu gehen. Da wurde Kigele durch eine Handgranate verwundet. Das stellte sich als Glück heraus, denn der verletzte Lauinger wurde auf einem Frachter Richtung Kopenhagen geschickt. „Ich hatte immer wieder wahnsinniges Glück“, sagt Kigele.

    Ein langer Frieden in Deutschland

    Von den 200 Leuten in seiner Flak-Batterie seien am Ende noch etwa 20 am Leben gewesen. Die zwölfjährige Herrschaft des Nationalsozialismus sei verhältnismäßig kurz, aber katastrophal gewesen. Und ein langer Frieden, wie ihn Deutschland erlebt, sei alles andere als selbstverständlich. Kigele warnt: „Eine Barbarei wie bei den Nazis ist immer wieder möglich.“ Es stecke im Menschen, dass er wegen seines Glaubens oder seiner Ideologie andere, die nicht so denken, bekriege, glaubt der Lauinger, der nach dem Krieg Zahnmedizin studiert und später in Lauingen eine Kieferorthopädie-Praxis betrieben hat. Deshalb hält er den Volkstrauertag für wichtig. „Es sollte jungen Menschen“, so Kigele, „zu denken geben, dass solch ein Irrsinn immer wieder vorkommen kann.“

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