Viele Geschäfte sind geschlossen – doch soziale Einrichtungen wie die Suchtfachambulanz sind weiterhin erreichbar. Sabine Schmidt hat den Verdacht, dass das nicht jeder weiß. „Wir haben genug zu tun. Dennoch wundern wir uns, dass sich nicht noch mehr Menschen melden, sondern eher weniger“, sagt die Leiterin der Dillinger Suchtfachambulanz. Das bereitet Schmidt Sorgen, denn der allgemeine Rückzug ins Private, verursacht durch die Corona-Pandemie, berge Gefahren: Wenn jetzt jemand in eine Sucht gleitet – und keiner merkt es.
Das Team der Dillinger Suchtfachambulanz hat auch in Lockdown-Zeiten durchgängig gearbeitet. Plexiglasscheiben in den Räumen in der Regens-Wagner-Straße 2, FFP-2-Masken und laufende Desinfektion der Räume nach den aktuellen Hygienestandards machen Einzeltermine weiterhin möglich. „Wir beraten persönlich, wo wir es für dringend erforderlich erachten.“ Außerdem telefoniere das Team oft und länger mit Hilfesuchenden. So könne man das Beratungs- und Behandlungsangebot trotz Corona voll aufrechterhalten. Auch die therapeutischen Angebote „ambulante Reha Sucht“ und „Sucht Reha Nachsorge“ finden in festen und geschlossenen Kleingruppen weiterhin statt.
Schmidt, die auch Suchttherapeutin ist, kennt die Gefahren, die der Rückzug bergen kann. Etwa, dass man den eigenen Alkoholkonsum unterschätzt. Weil man morgens nicht mehr in die Arbeit fahren muss, sondern im Homeoffice sitzt, merkt es ja niemand, wenn man noch eine Fahne vom Vortag hat. Oder mittags das erste Bierchen zischt. Viele könnten mit Alkohol sehr, sehr gut umgehen. Und auch in der Prävention habe sich viel getan, etwa gegen das Komasaufen. Aber die Pandemie führe zu einer neuen Situation. Im Homeoffice gebe es keine Kontrolle, keine Grenze. Der unbewusste Konsum sei das große Problem. „Unser jahrelanges Bestreben, die Sucht aus der Heimlichkeit zu holen, offen anzusprechen und als Krankheit wahrzunehmen, ist gefährdet und erschwert.“ Ein Zeichen für ein massives Suchtproblem: Trotz Führerschein- oder Jobverlust hört der Betroffene nicht auf zu trinken. Und der Körper reagiert auf Entzug.
Freizeitmöglichkeiten sind wichtig, um Sucht vorzubeugen
Alkoholiker, die wegen ihrer Sucht auf Reha waren, stehen jetzt in Corona-Zeiten auch vor einem Problem: Sie kehren nach Hause zurück und möchten mit einer Nachsorge und einem Freizeitprogramm weiter erfolgreich gegen ihre Sucht vorgehen. „Stattdessen kommen sie jetzt von der Arbeit heim, sitzen allein zuhause – und dann?“, fragt Schmidt. Die Bedeutung von Freizeitmöglichkeiten wie Fitnessstudios seien nicht zu unterschätzen. Nur Bücher lesen oder Fernsehen allein würden nicht dabei helfen, neue Kontakte zu knüpfen. Es gehe um eine sinnstiftende Freizeitgestaltung als Ausgleich. Etwas, das zufriedenstellt.
Die Leiterin der Dillinger Suchtfachambulanz ergänzt, unter den aktuellen Corona-Beschränkungen würden alle leiden. Doch mit einem Alkoholproblem sei es noch mal etwas anders. „Uns reicht es ja so schon“, sagt sie. Für einen chronisch Kranken, der keinen Neustart machen kann, sei die aktuelle Situation jedoch wie ein Rückwärtsgang. In zwei, drei Jahren werde man die Folgen sehen. Ein erhöhter Suchtmittelkonsum und ein erhöhtes Rückfallgeschehen würden derzeit nur vermutet – seien in einzelnen Studien schon nachgewiesen.
Die Dillinger Einrichtung hilft Betroffenen und ihren Angehörigen bei allen Suchtproblemen. Ob Drogen, Medien- und Internetkonsum, ein auffälliges Essverhalten – oder Glücksspielsucht. Wer jetzt jeden Tag daheim vor dem Rechner sitze, um zu arbeiten, lande am Feierabend schneller in entsprechenden Foren. Die Grenzen zwischen Arbeit und Zocken verwischen – das berge eine Gefahr. Das gelte auch für Jugendliche. Sie würden im Homeoffice zwar fitter, was den Umgang mit dem Rechner betrifft. Doch manche kämen kaum noch davon los, weil es nach dem Unterricht und den Hausaufgaben am Computer direkt mit einem Spiel vor dem Bildschirm weitergeht. „Jungs spielen eher. Mädchen verbringen ihre Freizeit dagegen eher in den sozialen Medien“, weiß Schmidt. Wie soll man die Kinder vom Handy oder Rechner weglocken? „Ich denke, viele Eltern haben da gar keine Handhabe und resignieren.“
Was tun, wenn das Kind nur vom dem Rechner hängt?
Sie könnten Brettspiele anbieten, die Zeit am Computer begrenzen – und auch ihr eigenes Verhalten überprüfen. Wie oft schaut man aufs Tablet oder aufs Handy? Denn schließlich sind Eltern auch Vorbilder, betont Schmidt. Wenn der Nachwuchs Grenzen oder Verbote nicht akzeptiert und es wegen des übermäßigen Konsums zu sozialen Problemen kommt, sollte man das thematisieren. Oder wenn Kinder plötzlich unruhig werden. „Das könnten Symptome sein, dass es ein Problem gibt. Es muss aber nicht immer eine Sucht sein. Wichtig ist, mit den Kindern vor allem in Kontakt zu bleiben.“ Das Thema gab es laut Schmidt auch vor Corona. Nun aber habe man die Vermutung, dass es sich durch den Distanzunterricht noch zuspitze. Erst seit Neuestem können auch Eltern und Jugendliche zur Abklärung und zur weiteren Hilfeplanung zur Suchtfachambulanz kommen. Um im Falle einer beginnenden Suchtproblematik, so früh wie möglich Hilfe zu erfahren. Dadurch werde man nicht zu einer Jugend- oder Drogenberatungsstelle. Doch Schmidt und ihr Team können im Rahmen der indizierten Prävention frühe Hilfen leisten.
Ein weiteres Feld, dass Psychotherapeutin Schmidt am Herzen liegt, ist Kiasu. Ein Angebot für den Nachwuchs suchtkranker Familien. Jedes sechste Kind in Deutschland sei davon betroffen. In der Gruppe kochen sie gemeinsam, unternehmen Ausflüge, können aber vor allem mit Gleichgesinnten und Fachleuten offen über ihre Probleme sprechen. Damit ist es seit Corona vorbei, es werde nur eine Einzelbetreuung angeboten. Alles sei wegen der Pandemie reduziert. Doch danach soll auch dieses Gruppenangebot der Suchtfachambulanz wieder anlaufen. Dafür wäre noch eine halbe Psychologen-Stelle zu vergeben, sagt Schmidt.
Die Suchtfachambulanz bietet auch eine Online-Beratung an
Spannend wird der März in der Einrichtung vor allem aus einem Grund: Seit Anfang dieses Jahres ist sie für die Beratung substituierter Menschen zuständig. Diese Gruppe, im Landkreis rund 90 Menschen, wird kontrolliert mit einer Ersatzdroge versorgt. Das ermöglicht ihnen zum Teil ein ganz normales Leben. Nur gibt es im Landkreis keinen Arzt mehr, der sich darum kümmert. Deswegen müssen die Betroffenen nun bis nach Augsburg, Günzburg oder Neu-Ulm, um an ihre Medikamente zu kommen. Manche Ärzte fordern dafür den parallelen Besuch bei der Beratung ein. „Ende März werden wir wissen, wie viele es wirklich angenommen haben“, sagt Schmidt. Dringend notwendig wäre es, dass sich auch im Kreis Dillingen wieder ein Arzt für diese Menschen findet. „Aber Corona überlagert gerade alles und diese Gruppe hat leider ganz wenig Lobby.“
Eine Online-Beratung ist unter www.caritas.de/onlineberatung möglich. Die Suchtfachambulanz Dillingen ist unter Telefon: 09071/71136 oder per Mal an suchtfachambulanz.dillingen@caritas-augsburg.de erreichbar.
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