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Kreis Dillingen: Ungewöhnlich viele Kaiserschnitte: Dahinter stecken Missstände

Kreis Dillingen

Ungewöhnlich viele Kaiserschnitte: Dahinter stecken Missstände

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    Die Geburt ist für Eltern ein ganz besonderer Moment. Doch immer mehr Babys kommen in Dillingen nicht auf dem natürlichen Weg, sondern per Kaiserschnitt zur Welt.
    Die Geburt ist für Eltern ein ganz besonderer Moment. Doch immer mehr Babys kommen in Dillingen nicht auf dem natürlichen Weg, sondern per Kaiserschnitt zur Welt. Foto: Daniel Karmann, dpa (Symbolfoto)

    Das Thema ist heikel. Es geht um Sorgen werdender Eltern, die Gesundheit von Mutter und Kind, den erhabenen Moment der Geburt. Aber auch um Überstunden, Abrechnungen, Personalmangel. Und Statistiken, die ein schlechtes Licht auf die Geburtsbedingungen im Landkreis werfen. Eine Gemengelage, die so manchen vorsichtig werden lässt. Da werden Interviewanfragen abgelehnt, Aussagen zurückgenommen, da wird Anonymität vorgezogen.

    Fakt ist: Im Landkreis Dillingen kamen in den vergangenen Jahren außerordentlich viele Kinder per Kaiserschnitt zur Welt. Das zeigen Zahlen des Statistischen Bundesamtes, die der Westdeutsche Rundfunk (WDR) deutschlandweit ausgewertet hat. Demnach kamen in den Jahren 2013 bis 2015 auf 100.000 Frauen aus der Region 977 Kaiserschnitte.

    Eine Quote, die bundesweit zu den höchsten gehört. Von 402 Landkreisen und kreisfreien Städten liegt Dillingen laut WDR auf Rang 387. Zum Vergleich: Der bundesweite Durchschnitt lag bei 768 Frauen. In Rostock, der Region mit der bundesweit geringsten Quote, waren es gar nur 458.

    Die Zahlen hat der WDR für seine Reportage "Operieren und Kassieren" verwendet. Der Titel macht deutlich: Hier geht es nicht nur um Medizin. Denn wissenschaftlich sind die eklatanten Unterschiede zwischen den Kreisen nicht zu erklären. Frauen aus Dillingen dürften im Durchschnitt keine anderen körperlichen Voraussetzungen haben als anderswo in Deutschland. Warum also bekommen Schwangere aus der Region ihr Kind auffallend häufig nicht auf natürlichem Wege?

    2017 brachten in Dillingen 40 Prozent der Frauen ihr Baby per Kaiserschnitt zur Welt

    Das Kreiskrankenhaus Dillingen geht offen mit den Zahlen um. Dr. Sascha Vietoris, seit 1. April vergangenen Jahres Chef der Abteilung für Gynäkologie und Geburtshilfe, bestätigt: "Die Kaiserschnittrate liegt hier um einiges höher als der Bundesdurchschnitt." 2017 haben nach Angaben des Arztes in Dillingen vier von zehn Schwangeren per OP geboren. Deutschlandweit liegt der Durchschnitt bei etwa 30 Prozent, als medizinisch notwendig gilt nur gut jeder zehnte Eingriff.

    Ein Faktor in Dillingen könnte sein, dass die Geburtsstation bis vergangenen März eine Belegabteilung war. Heißt: Beteiligt waren niedergelassene Ärzte, die Betten des Krankenhauses mit ihren Patienten belegen. In Dillingen haben sich vier Belegärzte den Dienst aufgeteilt – bis sie wegen zu hoher Arbeitsbelastung ihre Tätigkeit am Krankenhaus offiziell beendeten. Auf Anfrage möchte keiner der Belegärzte Stellung beziehen – bis auf Dr. Berthold Eberlein.

    Der Lauinger Frauenarzt war seit 1991 Belegarzt an der Kreisklinik. Er sagt: "Es ist allgemein bekannt, dass Belegabteilungen höhere Kaiserschnittraten haben als gute Hauptabteilungen." Eberlein berichtet von hohen zeitlichen und psychischen Anforderungen. Da ist die Doppelbelastung mit der eigenen Praxis, die Verfügbarkeit rund um die Uhr. Und die Tatsache, dass eine natürliche Geburt bis zu 24 Stunden dauern kann, wohingegen ein Kaiserschnitt in der Regel lediglich 30 bis 45 Minuten in Anspruch nimmt.

    Wurden also aus Zeitgründen vermehrt Operationen durchgeführt? Eberlein spricht für sich: "Ich strebe immer die natürliche Entbindung an." Es sei wichtig, die Schwangere mit einer Hebamme geduldig zu begleiten. "Es gibt aber sicher Kollegen, die sich schneller für einen Kaiserschnitt entscheiden und eine höhere Quote haben."

    Natürliche Geburt wird mit 1500 Euro vergütet, ein Kaiserschnitt mit 3500 Euro

    Und dann ist da noch das Thema Geld. Krankenkassen vergüten laut Chefarzt Vietoris eine natürliche Geburt in der Hauptabteilung mit etwa 1500 Euro, den Kaiserschnitt dagegen mit 3500 Euro. Auch im Belegsystem bekommen Klinik und Arzt mehr Geld für einen operativen Eingriff. Ein weiterer Anreiz für Ärzte, eher das Skalpell zu zücken – gerade vor dem Hintergrund, dass die Dillinger Geburtsabteilung defizitär arbeitet?

    Klinik-Geschäftsführer Uli-Gerd Prillinger versichert: "Wir machen Ärzten keine Vorgaben, es ist ihre eigene Entscheidung, ob sie einen Kaiserschnitt durchführen." Vietoris und Eberlein bestätigen, keinen finanziellen Druck bekommen zu haben. Bemerkbarer sei dagegen der juristische Druck, der Ärzte mittlerweile vermehrt zum Kaiserschnitt bewegt. "Falls man zu spät einen Kaiserschnitt macht und es passiert etwas, ist man leichter angreifbar", sagt Eberlein. "Die finanziellen Folgen für Geburtsschäden sind massiv angestiegen."

    Doch welche Folgen tragen die Mütter davon, die ihr Kind nicht auf natürlichem Weg bekommen? Eine Frau, die seit Jahrzehnten Schwangere, unter anderem aus dem Landkreis, begleitet, will anonym bleiben. Sie berichtet: "Eine so hohe Kaiserschnittquote wie in Dillingen bringt Unruhe in jede Schwangerschaft. Dabei brauchen gerade Schwangere Sicherheit."

    Ein solcher Eingriff hinterlasse Spuren – auf verschiedenen Ebenen. "Ein Kaiserschnitt ist nicht nur ein Schnitt, sondern ein tiefer Einschnitt, sowohl medizinisch als auch seelisch. Besonders im ersten Jahr nach der Geburt kann er die Frauen sehr belasten, vor allem, wenn man sich die Frage stellen muss, ob der Eingriff wirklich nötig war."

    Dillinger Kreiskrankenhaus sucht händeringend nach Hebammen

    Kaiserschnitte, die medizinisch offenbar nicht immer notwendig waren – das sollte vor allem Hebammen beschäftigen. Ist es doch ihr Anliegen, möglichst vielen Frauen eine natürliche Geburt zu ermöglichen. Trotz mehrerer Anfragen möchte sich jedoch keine der im Kreis tätigen Hebammen öffentlich äußern.

    Bei den Geburtshelferinnen ist die Lage angespannt. Vergangenen Herbst haben zwei von ihnen ihre Arbeit beendet, eine wegen eigener Schwangerschaft, eine hat nach internen Reibereien noch in der Probezeit gekündigt. Die Klinik ist auf der Suche nach Nachfolgerinnen. "Wir haben in allen Hebammenzeitungen annonciert", sagt Prillinger. "Bisher haben wir noch keine Bewerbung bekommen."

    Der Personalmangel in der Geburtsstation spitzt sich zu. Die ehemaligen Belegärzte müssen zum Teil immer noch regelmäßig aushelfen, um das Klinikpersonal zu entlasten. Im Dezember musste die Abteilung über ein Wochenende geschlossen bleiben, weil eine Ärztin und eine Hebamme krank geworden waren (wir berichteten). Und nun haben auch Chefarzt Vietoris und Oberärztin Dr. Eva-Maria Uta Link gekündigt.

    Beide hatten erst im April ihren Dienst in Dillingen begonnen. Ausschlaggebend sei gewesen, dass die Pläne für das Medizinische Versorgungszentrum geplatzt sind. "Das Konzept, das wir bei unserer Anstellung erarbeitet haben, ist in sich zusammengefallen", sagt Vietoris, der von "frustrierenden" Umständen spricht. Er selbst hat eine Kündigungsfrist bis 30. Juni, Link bis Ende März.

    Sollte sich vorher Ersatz finden, seien sie bereit, bereits früher auszuscheiden, sagt Vietoris. Seit Dezember ist die Kreisklinik auf der Suche nach Nachfolgern. Bisher ohne Erfolg. Der Fachkräftemangel mache sich bemerkbar, sagt Prillinger. Trotzdem gebe es "mehrere Interessenten", mit denen derzeit Bewerbungsgespräche laufen. Unterschrieben ist noch nichts.

    Primäre Kaiserschnitte sind rückläufig

    In der Dillinger Geburtsstation kehrt also keine Ruhe ein. Wie wirkt sich das auf die Kaiserschnittquote aus? Zunächst wird die Rate ohnehin nur langsam zu senken sein, gibt es im Kreis doch viele Frauen, die bereits einen oder mehrere Kaiserschnitte hinter sich haben. Bei einer weiteren Schwangerschaft ist der nächste operative Eingriff dann obligatorisch, erklärt Vietoris. Den Schnitt in der Kreisklinik habe er trotzdem senken können. Vor allem die sogenannten primären Kaiserschnitte, also solche, die im Vorfeld der Geburt geplant werden, seien rückläufig. "Das erreichen wir durch eine sorgfältige und zeitintensive Beratung der werdenden Eltern", sagt der Chefarzt. "Doch Zeit bedeutet Personal, und Personal bedeutet Geld, welches die Politik zur Verfügung stellen muss."

    Die Dillinger Geburtsabteilung schiebt ein sechsstelliges Defizit vor sich her, dazu die enormen Personalsorgen. "Die Rahmenbedingungen sind nicht gut", sagt Prillinger. Er sehe keine Möglichkeit, dass sich in absehbarer Zeit die Abteilung selbst trägt. Ihre Zukunft ist ungewiss. "Ich möchte mir den Landkreis aber nicht ohne Geburtsstation vorstellen."

    Durchschnittlich etwa jedes dritte Kind kommt in Deutschland per Kaiserschnitt auf die Welt. Unsere Karte zeigt: Schwangere in Neuburg-Schrobenhausen bekommen ihr Kind etwa doppelt so häufig per Kaiserschnitt wie werdende Mütter in Memmingen. Medizinisch sind diese Unterschiede nicht zu erklären.

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