10. November 1997. Das Datum hat sich Martin Rünzi eingebrannt. Es ist der Tag, seit dem nichts mehr so ist, wie es vorher war. Es ist der Tag, an dem aus einem 22-Jährigen ein Frührentner wurde.
Rünzi arbeitet damals bei Same Deutz-Fahr in Lauingen. Er prüft einen Mähdrescher, als das Unglück passiert. Ein Teil des Gefährts, der Korntankdeckel, fällt hinunter. Seinen Kopf kann Rünzi in Sicherheit bringen, sein linkes Knie nicht mehr. Es gibt einen Bluterguss und eine Schwellung. Schnell wird klar: Der Schaden an seinem Knie geht weit darüber hinaus. Arbeiten kann er nicht mehr. Stattdessen folgt eine Operation nach der anderen. Sieben Jahre lang kann sich der Gundelfinger fast nur mit Krücken fortbewegen. Dazu kommt ein Rechtsstreit mit der Berufsgenossenschaft, die den Vorfall nicht als Arbeitsunfall anerkennen will.
Doch vor allem kämpft Rünzi mit den chronischen Schmerzen. Er bekommt starke Schmerzmittel, deren Nebenwirkungen alles nur noch schlimmer machen. Zu seinen Leiden am Bein, an dem zwischenzeitlich das Schmerzsyndrom Morbus Sudeck und diverse Begleiterkrankungen diagnostiziert wurden, gesellen sich Müdigkeit, Appetitlosigkeit und Erbrechen. Die Ärzte machen dem jungen Mann keine Hoffnung. Er sei „austherapiert“.
Bei einem Rehaaufenthalt macht ihn ein Zimmernachbar auf Cannabis aufmerksam. Rünzi probiert es aus – und merkt sofort: Endlich hat er etwas, das ihm wirklich hilft. „Ich konnte das erste Mal wieder durchschlafen“, erinnert sich der heute 44-Jährige. Damals, Anfang des Jahrtausends, gab es hierzulande keine Möglichkeit, legal an Cannabis zu kommen. Rünzi wendet sich dem Schwarzmarkt zu, beschäftigt sich mit der Materie. Mit dem Wissen baut er die Droge selbst an. „Ich wusste, dass es nicht legal war“, sagt er. „Aber es ist das, was mir am besten hilft.“ Ein Gericht verurteilt ihn 2006 zu einer Geldstrafe. Rünzi probiert es wieder mit herkömmlichen Schmerzmitteln – nach wenigen Tagen spürt er die Nebenwirkungen. „Mir ging es dreckig.“
Mit dem Freispruch ist die Leidensgeschichte nicht vorbei
Er versucht es erneut auf dem Schwarzmarkt. Doch das Milieu ist schwierig. Rünzi fehlen die Kontakte. Er braucht für seine Krankheit eine spezielle Sorte Cannabis, die er nicht so leicht bekommt. Wieder baut er selbst an, zwölf Pflanzen im Keller. Als er Stecklinge in Österreich bestellt, geht er der Polizei ins Netz. 2017 steht der Gundelfinger erneut vor dem Dillinger Amtsgericht. Das Ergebnis ist für ihn ebenso überraschend wie erfreulich. Das Gericht spricht ihn frei. Im Urteil heißt es: „Der Angeklagte leidet unter massiven permanenten Schmerzen, welche weder durch operative Behandlungen, noch durch normale Schmerzmittel therapierbar oder zumindest linderbar sind.“ Das Verhalten von Rünzi sei deshalb legitim.
Doch mit dem Urteil ist seine Leidensgeschichte lange nicht vorbei. Zwar erlaubt ein Gesetz seit 2017 den Einsatz von Cannabis als Medizin in begründeten Einzelfällen. Der 44-Jährige ist ein solcher Einzelfall, er lässt sich mittlerweile medizinisches Cannabis verschreiben. Doch seine Krankenkasse weigert sich, die Kosten für den Stoff aus der Apotheke zu bezahlen. Rünzi hat Widerspruch bei der Kasse eingelegt. Auf eine Antwort wartet er nach eigenen Angaben bis heute. Es geht um viel Geld. Zwei Gramm Cannabis braucht Rünzi täglich. Im Monat kostet ihn das rund 800 Euro – in einer spezialisierten Apotheke in Nordrhein-Westfalen. In einer herkömmlichen Apotheke zahle er weit über 1000 Euro monatlich, sagt er. Bislang finanziert er das aus eigener Tasche. Doch das Geld aus der Erwerbsunfähigkeitsrente ist knapp. Zumal Rünzi zu Hause seinen Vater mit Pflegegrad vier und seine Mutter mit Parkinson pflegt – dafür erhält er Pflegegeld.
Auch die juristische Aufarbeitung seines Cannabis-Anbaus ist nicht abgeschlossen. Die Staatsanwaltschaft Augsburg hat Berufung gegen den Freispruch aus Dillingen eingelegt. Diese Woche musste sich Rünzi vor einem Schöffengericht am Landgericht Augsburg verantworten. Dort spricht die Vorsitzende Richterin Renate Partin schon vor der Urteilsverkündung von einem „Fehler“ des Dillinger Amtsgerichtes und sagt: „Wir werden nicht zu einem Freispruch kommen.“ Rünzi wird es zum Verhängnis, dass er Cannabis angebaut hat, ohne zuvor eine Ausnahmegenehmigung beantragt zu haben. Er hat also nicht alles probiert, um eine Straftat zu verhindern, so der Vorwurf.
So mancher Arzt will von Cannabis nichts wissen
Rünzi erklärt sich vor Gericht. Nach seinen Angaben habe er bei mehreren Ärzten aus der Region probiert, das Thema anzusprechen – diese hätten von Cannabis nichts wissen wollen. „Ich bin auf taube Ohren gestoßen.“ Richterin Partin entgegnet: „Man ist nicht an einen Arzt gebunden, dann muss man weitersuchen.“ Verteidiger Thomas Dick betont in seinem Plädoyer, wie schwierig es gerade im ländlichen Raum ist, Ärzte zu finden, die Rünzi begleitet hätten. „Es ist von einem Schwerkranken zu viel erwartet, auf der Suche nach dem richtigen Arzt durch ganz Deutschland zu rennen.“ Außerdem verweist der Anwalt auf die gesundheitliche Notlage des 44-Jährigen. „Was soll hier eine Strafe bewirken?“, fragt Dick. „Er ist vom Leben gestraft genug.“
Das Gericht befindet Rünzi für schuldig und verhängt eine Freiheitsstrafe von vier Monaten – auf Bewährung. Dazu muss er 90 Sozialstunden leisten. „Sie sind nicht der übliche Betäubungsmittel-Täter“, sagt Richterin Partin. Trotzdem habe keine „Notstandslage“ bestanden. Die Strafe bezeichnet sie als „außergewöhnlich niedrig“.
Nach dem Urteil ist Rünzi auf der einen Seite erleichtert, auf der anderen Seite frustriert. „Ich fühle mich schon etwas ungerecht behandelt.“ Aber er will nach vorne schauen und dieses Kapitel nun abschließen. „Vielleicht ist jetzt Platz für etwas Positives.“
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