Startseite
Icon Pfeil nach unten
Geld & Leben
Icon Pfeil nach unten

Interview: Terrorismus bei der EM: „Nie waren Stadien so gut geschützt“

Interview

Terrorismus bei der EM: „Nie waren Stadien so gut geschützt“

    • |
    Rund um die Stadien der Fußballeuropameisterschaft hat die französische Polizei nach Einschätzung des Terrorismusforschers Peter Neumann alles im Griff.
    Rund um die Stadien der Fußballeuropameisterschaft hat die französische Polizei nach Einschätzung des Terrorismusforschers Peter Neumann alles im Griff. Foto: Franck Fife, afp

    Das Motiv des Attentäters von Orlando ist noch nicht geklärt. Was spricht für einen islamistischen Anschlag?

    Peter Neumann: Wir wissen, dass er bei der Polizei angerufen und sich zum Islamischen Staat bekannt hat. Dass er in der Vergangenheit mehrfach einschlägig aufgefallen ist, aber sich letztlich der Verdacht nie genug erhärten konnte. Das passt alles ins Muster. Dass er gleichzeitig offensichtlich ein Mann war, der psychische Probleme hatte, spricht nicht gegen einen islamistischen Hintergrund: Der IS versucht ganz bewusst, Leute mit solchen Problemen für seine Ideologie zu gewinnen. Auch die „Einsame-Wolf“Strategie ist nicht neu, sondern wird vom

    Etwas irritierend war, dass Medien oft gefragt haben: war es ein islamistischer Anschlag oder ein Attentat aus Schwulenhass? Das eine schließt das andere doch nicht aus? In Syrien richtet der Islamische Staat regelmäßig Homosexuelle hin.

    Neumann: Richtig. Deshalb hat der IS die Tat auch sehr schnell für sich in Anspruch genommen. Wenn Homosexuelle, Juden oder Militärs Opfer sind, ist das dem IS recht. Eine sogenannte Rechtfertigung ist aber nicht zwingend notwendig: Paris und Brüssel haben gezeigt, dass es den Terroristen reicht, wahllos Zivilisten zu töten.

    Das BKA prüft nun Verbindungen des Vaters des Orlando-Attentäters nach Deutschland. Warum taucht

    Neumann: Was Orlando angeht, ist das noch schwer zu beurteilen. Im Hinblick auf frühere Taten kann man aber sagen, dass viele europäische IS-Kämpfer ihre Syrien-Reisen von Deutschland aus gestartet haben. Nicht nur, weil es dort viele billige Flüge in die Türkei gibt, sondern auch, weil etwa für belgische oder französische Dschihadisten Deutschland auf der Route liegt. Oft wird aber auch ohne konkreten Verdacht routinemäßig geprüft, ob eine Verbindung besteht. Und das ist auch richtig so.

    "Amerikanische Muslime sind sehr gut integriert"

    Nun wird auch wieder über die laxen US-Waffengesetze diskutiert, die Terroristen doch eigentlich in die Hände spielen müssten. Aber seit 9/11 gab es in Europa etwa ein Dutzend islamistische Terroranschläge, in den bei Islamisten verhassten USA im selben Zeitraum nur etwa halb so viele. Warum?

    Neumann: Die Zahlen sind sogar noch dramatischer, wenn man sich anschaut, was das in den USA für Anschläge waren – nämlich nicht besonders ausgereifte. Dass in den USA weniger passiert ist, hat zum einen damit zu tun, dass es nicht mehr so einfach ist, in das Land einzureisen. Vor allem aber sind amerikanische Muslime sehr gut integriert: Es gibt dort keine islamistische oder dschihadistische Szene wie in Brüssel, Paris oder London.

    Was macht den Unterschied aus?

    Neumann: Der Grund, dass sich junge Leute mit Migrationshintergrund in Europa für die Ideologie der Terroristen interessieren, ist, dass sie nicht das Gefühl haben, von der europäischen Gesellschaft akzeptiert zu sein. Amerika bekommt das besser hin. Umfragen zeigen, dass amerikanische Muslime mindestens genauso patriotisch sind wie der Durchschnittsamerikaner. Ähnlich gut sind die Werte beim Thema Lebenszufriedenheit oder der Frage, ob sich „US-Bürger-Sein“ und „Muslim-Sein“ vereinbaren lässt. Aus den USA stammen nur 100 Auslandskämpfer des IS – gegenüber 5000 aus Westeuropa. Auch die 9/11-Täter kamen schon von außen. Aus Hamburg oder Saudi-Arabien...

    Dann gab es den Anschlag in Frankreich, bei dem ein Polizist und dessen Frau von einem IS-Anhänger getötet wurden. Der IS hat aufgerufen, während des Ramadan Anschläge in Europa und den USA zu verüben. Sehen Sie Zusammenhänge mit Orlando?

    Neumann: Nein. Ich glaube die Planungen liefen unabhängig voneinander. Was in Frankreich momentan passiert, ist sehr frankreichbezogen.

    Wie gefährdet ist jetzt die Europameisterschaft?

    Neumann: Ich glaube, noch nie waren Stadien so gut geschützt. Ich habe mit französischen Sicherheitsbehörden gesprochen. Die Vorkehrungen gegen Terror – nicht gegen Hooligans – sind so hoch wie nie. Sorgen macht man sich um Public-Viewing-Veranstaltungen, die sich nicht so schützen lassen. Das Szenario, vor dem sich die Behörden in Frankreich fürchten, ist die Tat eines Einzeltäters, der mit einem Auto in eine Fangruppe fährt oder sich beim Public Viewing mit einer selbstgebastelteten Bombe in die Luft sprengt. Oder dass ein Ort zum Ziel wird, der nichts mit der EM zu tun hat und daher leichter anzugreifen ist: Die Sicherheitskräfte konzentrieren sich schließlich auf den Schutz der EM. So war es auch 2005, als London angegriffen wurde, während alle Sicherheitskräfte den G7-Gipfel in Schottland schützten.

    "Ein Tweet ist noch keine Terrorismusbedrohung"

    Sie rechnen nicht mit einem großen Anschlag? Die belgische Polizei hat am Mittwoch eine dringende Terrorwarnung für Belgien und Frankreich herausgegeben.

    Neumann: Das muss man ernst nehmen. Gut ist, dass die Behörden offensichtlich etwas bemerkt haben. Vor den Anschlägen von Brüssel hat man nichts gewusst. Auch vor Paris nicht, aber seitdem hat sich gerade in Frankreich viel getan. Wenn während der EM etwas Großes geplant wäre, würde man das jetzt mitbekommen, weil inzwischen so viele Leute unter Beobachtung stehen, die man mit Namen kennt und deren Kommunikation überwacht wird.

    Der Attentäter von Paris hat gewarnt, die EM werde „zum Friedhof“. Wie ernst muss das nehmen?

    Neumann: Nach Brüssel gab es bei Twitter eine Drohung gegen Deutschland. Aber ein Tweet macht noch keine Terrorismusbedrohung.

    Warum?

    Neumann: Wer das intensiv verfolgt, findet jeden Tag Drohungen gegen unterschiedlichste europäische Staaten. Geht es um komplexe Anschläge, organisiert vom IS, dann erfolgen diese Drohungen meist über einen gewissen Zeitraum und sind konsistent. Das hat man vor den Anschlägen in der Türkei gesehen: Da kam jeden Tag ein Video des IS zum Thema Türkei – in Türkisch. Wenn es über Wochen hinweg ständig eine Drohung etwa gegen Deutschland gäbe, würde ich sagen, jetzt wird es gefährlich. Eine einzelne Drohung, speziell wenn sie von einem kommt, der nichts direkt mit der Organisation des IS zu tun hat, kann wahr sein. Ist sie aber meistens nicht.

    Peter Neumann Der 41-jährige Würzburger Politikwissenschaftler gilt als einer der renommiertesten Terrorismusexperten der Welt. Er ist Professor am Londoner King’s College und leitet dort das „Internationale Zentrum zum Studium von Radikalisierung“. Neumann arbeitet mit Regierungen, Nachrichtendiensten und internationalen Organisationen zusammen und berät unter anderem den Uno-Sicherheitsrat.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden