In diesem Jahr feiert eine der größten Erfolgsstorys der Videospielegeschichte ihr zehnjähriges Jubiläum. Im November 2007 erschien mit „Assassin’s Creed“ ein Meilenstein der interaktiven Unterhaltungsbranche. Was den Titel besonders machte: Während üblicherweise die Handlung von Games in einer fiktiven Kulisse angesiedelt ist, spielte „Assassin’s Creed“ an einem konkreten realen Ort zu einer historisch belegbaren Zeit. Spieler erlebten in der Rolle eines Assassinen (Meuchelmörder) den Dritten Kreuzzug im Heiligen Land.
In den nächsten Ablegern der Reihe schickten die Macher die Spieler unter anderem ins Florenz der Renaissance, in die goldene Ära der karibischen Piraterie und ins London des viktorianischen Zeitalters. Im China der Ming-Dynastie konnten „Assassin’s Creed“-Fans die Chinesische Mauer bestaunen, in Rom das Kolosseum besuchen. Gamer nahmen aktiv sowohl an der Oktoberrevolution als auch am amerikanischen Bürgerkrieg und der Französischen Revolution teil.
In zehn Jahren „Assassin’s Creed“ hatten die Spieler zudem Gelegenheit, historischen Persönlichkeiten von Angesicht zu Angesicht zu begegnen – unter anderem Richard Löwenherz, Saladin, Leonardo da Vinci, Alexander VI., George Washington, Benjamin Franklin, Napoleon Bonaparte, Alexander Graham Bell, Karl Marx und Charles Darwin.
"Assassin’s Creed Origins" spielt in der Antike
Vor wenigen Tagen erschien mit „Assassin’s Creed Origins“ der erste Teil der Reihe, dessen Handlung in der Antike spielt. Diesmal werden Spieler unter anderem Kleopatra und Julius Caesar kennenlernen. Wir schreiben das Jahr 49 v. Chr. Spieler erleben das alte Ägypten mit den Augen von Bayek. Als letzter Vertreter der Medjau ist der Protagonist „eine Art ägyptisches Pendant zum Sheriff im Wilden Westen“, so der für die Story verantwortliche Narrative Director Matthew Zagurak im Interview mit unserer Zeitung. „Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, das alte Ägypten zum Leben zu erwecken“, sagt Zagurak. Für dieses ehrgeizige Ziel nahm er sich mit seinem Team vier Jahre Zeit.
Zu den Hundertschaften, die für „Assassin’s Creed Origins“ tätig waren, zählen – ganz in der Tradition der Spieleserie – auch Experten für die damalige Zeit. Bis heute dürfte der Hersteller Ubisoft die einzige Spielefirma sein, die sich den Luxus gönnt, einen festangestellten Historiker hauptberuflich zu beschäftigen. Dieser und unzählige freie Mitarbeiter mit Geschichtsexpertise sind beim jüngsten Teil der Serie mit an Bord, um für historisch fundierte Authentizität zu sorgen.
Dass ein Videospiel sich nicht allein auf Action beschränkt, sondern mit geradezu besessener Liebe zum Detail eine Epoche und deren Bedeutung für die Geschichte faktentreu abbildet, sorgte seit dem ersten Teil der Reihe nicht nur unter Zockern für Aufmerksamkeit.
Wären da nicht die Meuchelmorde, die der Spieleserie ihren Titel gaben, könnten selbst konservative Medienkritiker ihr das Gütesiegel „pädagogisch wertvoll“ nicht versagen. Viele Pädagogen und Eltern, die das Potenzial des Spiels zur Vermittlung von Wissen erkannten, wurden aber bisher von den genretypischen Gewalt-Elementen abgeschreckt.
Entdeckertour bei "Assassin’s Creed Origins"
Darüber hat man bei Ubisoft lange nachgedacht. Herausgekommen ist dabei ein neuer, zusätzlicher Spielmodus namens Entdeckertour. „Ägypten als Tourist erforschen – in der Rolle von Julius Caesar“, beschreibt Entwickler Zagurak eine der Möglichkeiten, die Entdeckertour zu erleben. Auch in die Haut von Kleopatra und anderen Zeitzeugen können Spieler schlüpfen, um das alte Ägypten in der digitalen Version zu besuchen.
Während man im Museum durchs Vitrinenglas von den Exponaten getrennt ist, soll sich mithilfe der interaktiven Entdeckertour das alte Ägypten zum Greifen nah anfühlen. Wie werden Mumien präpariert? Warum haben Pyramiden ihre charakteristische Form? Wie hat ein Pharao gelebt? Wie wurde Weizen kultiviert? Wie entziffert man Hieroglyphen?
Diese und viele andere Fragen soll die Entdeckertour spannender und lebendiger beantworten, als es der Geschichtsunterricht an der Schule könnte. „Wir sind der Meinung, dass der enorme Arbeitsaufwand, mit dem wir das alte Ägypten rekonstruierten, dem größtmöglichen Publikum zugänglich sein sollte“, so Creative Director Jean Guesdon. „Ein Lehrer sollte keine Berührungsängste haben, den Entdeckermodus im Klassenzimmer zu benutzen, um Schülern zu ermöglichen, die unglaubliche Vergangenheit zu studieren und ihre Schönheit zu genießen.“
Guesdon ist überzeugt, dass die Nutzung von Computerspielen zur Wissensvermittlung erst in den Kinderschuhen steckt. „Das Medium Spiel kann für mehr als nur zu Unterhaltungszwecken genutzt werden. Mit seinen interaktiven Möglichkeiten, die viele Sinne ansprechen, hat es das Potenzial, Wissen auf inspirierende Art zu vermitteln, ohne zu dozieren.“ Bei Ubisoft träumt man davon, dass in naher Zukunft neben den Lehrbüchern auch „Assassin’s Creed Origins“ in Schulen und Universitäten zu finden sein wird.
Wer das Spiel erleben will, ohne zu meuchelmorden, muss sich allerdings bis zum Frühjahr gedulden. Erst dann steht das mithilfe von Historikern und Ägyptologen erschaffene lebendige Museum als zusätzlicher, kostenloser Inhalt zur Verfügung.