Was geht Ihnen, Frau Breit-Keßler, durch den Kopf, wenn Sie das Motto "Leben im Sterben" der ökumenischen "Woche für das Leben" lesen, die am Samstag im Augsburger Dom eröffnet wird?
Susanne Breit-Keßler: Ein gut gewähltes, hoch aktuelles Motto – gerade wegen seiner vielfältigen Bezüge. Konfrontiert mit dem Sterben erkenne ich die Einmaligkeit des Lebens. Und mitten im Leben muss ich mich mit dem Sterben auseinandersetzen, kann es als Ausgangspunkt für neues Leben deuten.
Hat Ihre eigene schwere Krebserkrankung in den 80ern Ihre Perspektive auf das Lebensende verändert?
Breit-Keßler: Ja. Meine ganze Perspektive auf das Leben hat sich gewandelt. Ich bin dankbar für jeden Tag, der mir und meinem Mann geschenkt ist.
Was fürchten Menschen, wenn es ans Sterben geht?
Breit-Keßler: Im Angesicht des nahenden Todes wird vieles offenbar, was zuvor gelungen oder gescheitert ist. Das Wort "Genugtuung" bekommt eine besondere Bedeutung: Habe ich genug getan, haben andere genug getan, was ist unfertig geblieben? Die Sehnsucht, manches noch in Ordnung zu bringen, wird groß. Nicht selten auch die Trauer, weil vieles nicht nachzuholen ist. Zudem können Ohnmachtsgefühle stark werden, Ängste vor dem Ausgeliefertsein an Krankheit und Schmerz, Wut und Zorn als Schattenseiten von Schuld und Scham.
Und was erhoffen sie?
Breit-Keßler: In Würde Abschied nehmen zu können – im Bewusstsein, mit sich und anderen im Reinen zu sein. Für gläubige Menschen ist die Hoffnung über das Diesseits hinaus bahnbrechend. Vertrauen auf Gott öffnet die Augen dafür, dass der Tod nicht der absolute Schlussstrich ist. Eine himmlische Wirklichkeit wartet auf mich. Sie bezieht das Gewesene auf ein neues Leben. Sie lässt mich Eltern, Kinder, Freunde wiederfinden, die ich in meiner irdischen Existenz durch den Tod verloren habe. Die Kraft dieser Hoffnung versöhnt uns mit dem Fragmentarischen, das im Sterben bewusst wird.
An diesem Samstag starten die Kirchen die bundesweite Aktion "Woche für das Leben" im Augsburger Dom
Das Motto der "Woche für das Leben" hat eine neue Zuspitzung erfahren durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, wonach das Selbstbestimmungsrecht des einzelnen auch assistierten Suizid straffrei stellt. Soll der Arzt zum Vollstrecker werden?
Breit-Keßler: Die Frage nach der Rolle des Arztes greift zu kurz. Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2020 geht es um ein sehr weitreichendes Verständnis der Autonomie. Unabhängig von Lebenssituationen, unabhängig davon, ob jemand schwerkrank oder physisch kerngesund ist, unabhängig von Motiven soll jeder Mensch aufgrund seines Selbstbestimmungsrechts einen Anspruch darauf haben, seinem Leben ein Ende zu setzen – und dafür auch die Hilfe Dritter in Anspruch nehmen zu können. Es geht bei diesem Urteil eben nicht allein um Schwerstkranke mit unerträglichem Leiden. Es geht um jede und jeden, der – warum auch immer – sich umbringen will. Es geht um den 23-Jährigen mit Liebeskummer. Um die 57-Jährige, die von ihrem Mann verlassen wurde. Um den 39-Jährigen, der hochverschuldet ist. Sie alle, so muss man das Urteil des höchsten deutschen Gerichts deuten, haben einen Anspruch darauf, dass es geschäftsmäßig organisierte Anbieter der Beihilfe für ihren Suizid gibt.
Diese weitreichende Dimension dürfte den wenigsten bekannt sein.
Breit-Keßler: Für mich ist dies ein Irrweg. Denn der Wunsch nach Selbsttötung ist in den allermeisten Fällen gerade kein Ausdruck von Selbstbestimmung, sondern Ausdruck des Verlusts an Selbstbestimmung: Menschen sehen keinen Ausweg mehr, sie sind gefangen im Gefühl, dass es nur noch die Option des Suizids gibt. Ich bin davon überzeugt: Menschen, denen es so geht, brauchen Hilfe zum Leben, brauchen Therapie und Unterstützung. Und nicht die Giftampulle.
Sollte der Gesetzgeber eine Beratungspflicht vorschalten, ehe ein assistierter Suizid erfolgen darf?
Breit-Keßler: Ich lehne die geschäftsmäßig organisierte Beihilfe zum Suizid ab. Eine Beratungspflicht, die damit verknüpft würde, wäre aus meiner Sicht ein Feigenblatt. Insgesamt müssen die Beratungsangebote für Menschen, die von Suizidgedanken besetzt sind, ausgebaut werden. Aber eben nicht als Türöffner für die Vermittlung von Selbsttötungsmöglichkeiten, sondern als Hilfe, Lebenschancen wahrzunehmen.
Könnten die Kirchen dafür Gesprächspartner zur Verfügung stellen? Oder gilt das ethisch bereits als Mitwirkung am "Bösen"?
Breit-Keßler: Die Kirchen müssen alles dafür tun, dass Menschen ihr Leben als Geschenk begreifen können und leben wollen. Leben ist unsre Botschaft – nicht der Tod!
Breit-Keßler warnt vor Kommerzialisierung der Suizidbeihilfe
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) sagte im Dezember: Er sei zuversichtlich, dass es noch in dieser Wahlperiode eine fraktionsübergreifende gesetzliche Regelung zur Sterbehilfe geben werde. Halten Sie das noch für realistisch?
Breit-Keßler: Der Bundestag tut gut daran, ohne Zeitdruck und mit größter Sorgfalt darüber zu beraten. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes kann im Blick auf gesetzliche Regelungen gar nicht sorgfältig genug bedacht werden.
Kann es auch mildere Formen der Sterbehilfe geben, zum Beispiel einen frei gewählten Behandlungsverzicht?
Breit-Keßler: Die Frage der Suizidbeihilfe für alle, die sich umbringen wollen, ist scharf zu unterscheiden von der Frage der Sterbebegleitung. Mit ihr verbindet sich der Blick auf Situationen von Schwerstkranken, von Menschen am Lebensende. Für sie braucht und gibt es Angebote der passiven Sterbehilfe. Dabei geht es um Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen und um palliative Sterbebegleitung. Sie sorgt dafür, dass der letzte Weg ohne unerträgliche Schmerzen und in ganzheitlicher Sorge für den Sterbenden gestaltet werden kann. Frei gewählten Behandlungsverzicht gibt es längst. Niemand wird gegen seinen ausdrücklichen oder klar erkennbar freien Willen behandelt. Aber das ist etwas ganz anderes als die Überreichung der Giftampulle oder gar die Tötung auf Verlangen, die manche als "Sterbehilfe" legalisieren wollen.
Könnte aus einem Recht auf Suizid folgern, dass gesellschaftlicher Druck auf Schwerkranke ausgeübt wird? Wie schätzen Sie die Stimmung in der Bevölkerung ein?
Breit-Keßler: Wenn es zur Normalität würde, dass man sich im Telefonbuch einen Anbieter für Suizidbeihilfe heraussuchen kann, dann wird das Angebot die Nachfrage stimulieren. Und es ist dann nicht auszuschließen, dass auch Interessen aus dem Umfeld von Sterbewilligen in deren Entscheidungsfindung einfließen. Übrigens nicht nur bei Schwerstkranken.
Welche Folgen kann ein erleichterter assistierter Suizid für Familien mit schwerkranken Kindern haben?
Breit-Keßler: Geschäftsmäßig organisierte Beihilfe zur Selbsttötung könnte in allen Lebensbereichen zur Folge haben, dass Menschen, die sich überlastet und überfordert fühlen, dem ein Ende machen möchten.
Kann die Palliativmedizin den Wunsch zu sterben abmildern?
Breit-Keßler: Aufgabe der Palliativmedizin ist nicht, den Sterbewunsch zu dämpfen. Sie leistet Begleitung auf dem letzten Weg, hilft dabei, menschenwürdig und zärtlich begleitet sterben zu dürfen.
Welche Rolle spielt die Seelsorge, auch Spiritual Care genannt, an den Grenzen des Lebens?
Breit-Keßler: Spiritual Care ist ganzheitliche Sorge für Menschen am Lebensende. Nicht allein Seelsorge ist damit gemeint, obgleich sie ein wertvoller Bestandteil ist. Spiritual Care gibt es selbstverständlich auch für Menschen ohne religiöse Bindung. Im Mittelpunkt steht der, die einzelne mit dem je eigenen geistigen, seelischen und emotionalen Lebens- und Beziehungshorizont. Menschsein ist weit mehr als das Funktionieren von Organen. Spiritual Care nimmt ernst, dass getrostes Sterben nur gelingen kann, wenn der ganze Mensch mit seiner Biografie, mit seinen Beziehungen und Bedürfnissen gut aufgehoben ist.
Muss man denn religiös sein, um auch mit einer schweren Erkrankung das Leben positiv zu sehen?
Breit-Keßler: Nein. Aber der Glaube kann helfen, die obsessive Macht einer schweren Krankheit zu überwinden und das Herz für Zuversicht auch über den Tod hinaus zu öffnen.
Ethikratsvorsitzende hat kein Verständnis für "Querdenker"-Demonstrationen, die aus dem Ruder laufen
Hat aus Ihrer Sicht die Covid-19-Pandemie die Deutschen stärker sensibilisiert für die Endlichkeit des Lebens?
Breit-Keßler: Ich hoffe: Ja.
Inwiefern kann und soll der Bayerische Ethikrat, dessen Vorsitzende Sie sind, hier auf das öffentliche Bewusstsein einwirken?
Breit-Keßler: Der Bayerische Ethikrat ist ein Beratungsgremium der Bayerischen Staatsregierung. Darüber, wie er berät, wird er transparent und deutlich informieren – und sich damit auch im öffentlichen Diskurs einbringen.
Seit fast einem Jahr wird immer wieder kritisiert, die Kirchen würden sich nicht hörbar genug zur Pandemie und ihren Folgen äußern. Wie erklären Sie sich diese Kritik? Und was genau müsste aktuell in der Pandemie der Beitrag der Kirchen sein?
Breit-Keßler: Die Kritik ist überzogen. Die Spitzen der Kirchen haben sich oft und viel geäußert. Ob das überall ankam, steht auf einem anderen Blatt. Als emeritierte Regionalbischöfin halte ich mich mit Ratschlägen zurück.
Immer wieder gab es Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen. Haben Sie noch irgendein Verständnis dafür, wenn Tausende – wie zuletzt etwa in Stuttgart – ohne Maske und Abstand auf die Straße gingen und die Polizei sie nicht daran hinderte?
Breit-Keßler: Nein.
Sind diese Demonstranten, selbst ernannte "Querdenker", nur eine lautstarke Minderheit oder stehen sie für eine weiter verbreitete Wut auf "die" Politik? Besorgt Sie das?
Breit-Keßler: Ja, sehr.
Besorgt Sie auch das Lavieren der verantwortlichen Bundes- und Landespolitiker? Es heißt ja immer: Man müsse schnell auf die jeweilige Entwicklung, die die Pandemie nimmt, reagieren – ein Zögern und Zaudern könne Menschenleben kosten. Doch statt Schnelligkeit zog sich zum Beispiel CDU-Chef Armin Laschet über Ostern zum Nachdenken zurück …
Breit-Keßler: Ich weiß, dass politisch Verantwortliche sich mit größtem Ernst abmühen, um verantwortungsvoll Entscheidungen zu treffen. Wer sie pauschal kritisiert oder gar verunglimpft, beweist Ahnungslosigkeit. Sachliche Kritik, gute Argumente, was anders und besser werden muss, das brauchen wir. Übrigens gehört dazu, dass wir uns jetzt schon fragen, was wir durch die Pandemie begreifen müssen – politisch und strukturell, aber auch individuell, gesamtgesellschaftlich und global. Für mich die zentrale Frage: Wie können wir uns alle zusammen, in unserem Land, in Europa und global krisenfest aufstellen – und begreifen, dass nicht immer alles selbstverständlich mach- und verfügbar ist?
Susanne Breit-Keßler und die "Woche für das Leben"
- Susanne Breit-Keßler, 1954 in Heidenheim an der Brenz (Baden-Württemberg) geboren, war von 2001 bis Ende 2019 Regionalbischöfin des evangelischen Kirchenkreises München und Oberbayern. In den 80er Jahren absolvierte sie eine journalistische Ausbildung bei der Süddeutschen Zeitung und dem Bayerischen Rundfunk. Als Journalistin arbeitete sie danach für verschiedene Medien und sprach in den 90er Jahren auch "Das Wort zum Sonntag" in der ARD. Sie ist Vorsitzende des im Oktober 2020 eingesetzten Bayerischen Ethikrates, der Ministerpräsident Markus Söder und die Staatsregierung "in den entscheidenden Zukunftsfragen unserer Gesellschaft" berät.
- Die Woche für das Leben geht auf eine Initiative der katholischen Deutschen Bischofskonferenz und des Zentralkomitees der deutschen Katholiken zurück. Seit 1994 wird die Aktion mit dem Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland durchgeführt. Die Kirchen wollen so einen Beitrag zur Bewusstseinsbildung für den Wert und die Würde des menschlichen Lebens leisten. Dieses Jahr lautet das Thema: "Leben im Sterben".
- Zum bundesweiten Auftakt am Samstag in Augsburg gibt es um 10.30 Uhr einen ökumenischen Gottesdienst im Dom, der unter anderem auf der Internetseite des Bistums Augsburg live übertragen wird. Er wird von Bischof Georg Bätzing (Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz), Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm (Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland) sowie dem evangelischen Regionalbischof Axel Piper und dem katholischen Augsburger Bischof Bertram Meier gefeiert.
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