Herr Losinger, sind Sie urlaubsreif?
WEIHBISCHOF ANTON LOSINGER: Bei mir ist es nicht anders als bei Schülern: Ich bin froh, dass die Ferien beginnen. Ich werde sie unter anderem in Italien verbringen. Zuvor aber freue ich mich auf festliche Gottesdienste im August, etwa zu Mariä Himmelfahrt. Sie sind ein bedeutendes spirituelles Angebot, aber auch eine Chance, Menschen zu erreichen, miteinander ins Gespräch zu kommen.
In Deutschland macht nun selbst die Politik etwas Pause. Braucht es dieses Innehalten in diesem Jahr voller Krisen vielleicht mehr denn je?
LOSINGER: Diesen Eindruck habe ich. Als Kirche sind wir natürlich auch in dieser Zeit gefordert, Menschen Angebote zu unterbreiten. Etwa, ihnen Gedanken ans Herz zu legen, wie sie wieder zu sich selber kommen können. Politikerinnen und Politikern will ich diesen Gedanken für die Urlaubszeit mitgeben: Eine Politik, die das Nachdenken aufgibt, gibt sich auf. Die jetzige Pause sollte sie nutzen, um echte Antworten zu finden auf die vielen Probleme, die wir haben.
Zuletzt waren eher Forderungen zu hören, die umgehend zu aufgeregten Debatten führten. Etwa die von CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann, arbeitsunwilligen Bürgergeld-Empfängern die Grundsicherung komplett zu streichen.
LOSINGER: Vieles, was wir derzeit aus der Politik hören, ist taktisch und parteipolitisch motiviert. Dabei bräuchte es kluge strategische Antworten, die langfristig wirken. Stattdessen geben Politiker parteitaktischen Interessen den Vorzug, unter anderem mit Blick darauf, wiedergewählt zu werden. Was das Bürgergeld betrifft: Wir brauchen eine Sozialpolitik, die Menschen befähigt und aktiviert, ihr Leben zu gestalten. Es gibt durchaus Menschen, für die das Bürgergeld einen Anreiz darstellt, nicht zu arbeiten. Aber es gibt eben auch Menschen, die psychisch, sozial oder gesundheitlich in einer schwierigen Lage sind und nicht arbeiten können – ihnen muss geholfen und nicht alles gestrichen werden.
Vor allem die AfD gibt einfache Antworten auf komplexe Fragen – dennoch dürfte sie bei den drei Landtagswahlen im Osten Deutschlands im September große Erfolge erzielen. Mit dem sommerlichen Innehalten wird es schnell vorbei sein, oder?
LOSINGER: Das beste Gegeninstrument gegen totalitäre Ansätze von Parteien ist das politische Gespräch. Und so führt nichts daran vorbei, sich intensiv mit AfD-Politikern auseinanderzusetzen.
Mit Ihren Mitbrüdern haben Sie sich im Februar in Augsburg von der AfD distanziert und dazu aufgerufen, diese nicht zu wählen ...
LOSINGER: ... und die Reaktionen darauf waren überwältigend positiv. Wir Bischöfe haben argumentiert, dass völkisch-nationalistische Einstellungen, erst recht als Grundlage für eine Wahlentscheidung, ins Verderben führen. Zugleich haben wir klargemacht, dass wir gesprächsbereit bleiben.
Sehen Sie in der AfD eine Gefahr?
LOSINGER: Man muss zur Kenntnis nehmen, dass es nicht nur im Osten Deutschlands, sondern auch bei uns in Bayern Gemeinden gibt, in denen die Zustimmung bei Wahlen für die AfD in Richtung 50 Prozent geht. Die Gründe sind unterschiedlich. In Bayern dürfte bei AfD-Wählern vor allem das Motiv sein, ein grundsätzliches Unbehagen mit den Zuständen hierzulande auszudrücken, etwa bei Fragen der Migration. In Thüringen und anderen ostdeutschen Bundesländern geht es meiner Ansicht nach deutlich über Protest hinaus – dort scheint man sich mit bestimmten radikal-undemokratischen Haltungen und Kandidaten zu identifizieren.
Wie kann Kirche da noch durchdringen?
LOSINGER: Nicht nur die Kirche, auch andere gesellschaftliche Institutionen werden stark hinterfragt. Sogar die Legitimität des Bundesverfassungsgerichts wird in Abrede gestellt. Das bereitet mir große Sorgen. Die Kirche aber war immer schon ein Graswurzelprojekt. Sie ist im Kleinen präsent – und kann immer wieder wachsen.
Darin liegt eine große Chance?
LOSINGER: Als Weihbischof darf ich zum Beispiel landauf, landab jungen Menschen die Firmung spenden. Ich erlebe dabei viel Offenheit, Interesse und Bereitschaft auch für kritische, zukunftsweisende Gespräche. Mich stimmt das zuversichtlich.
Waren Sie mal auf der Plattform X, früher Twitter?
LOSINGER: Dort herrscht ein Ton der Unversöhnlichkeit. Man kann Abstrusestes öffentlich verbreiten oder bekommt auf Posts, ganz gleich auf welche, sofort einen Shitstorm. Dieser Umgang miteinander hat längst übergegriffen auf die analoge Welt. Ich beobachte eine Zunahme der Aggressivität. Und das hat damit zu tun, dass Menschen ihr Gegenüber immer weniger kennen. So ist es übrigens auch beim Thema Migration. Es mangelt zudem an Respekt und Gelassenheit – sie wären Voraussetzung für den Versuch, den anderen zumindest verstehen zu wollen.
Die Olympischen Spiele begannen mit einer künstlerischen Performance unter anderem von Dragqueens. Einige sahen darin eine Nachstellung von da Vincis „Das letzte Abendmahl“ und fühlten sich in ihrem religiösen Empfinden verletzt.
LOSINGER: Ich habe diese Performance nicht gesehen, verfolge allerdings die Debatte und kenne die Beteuerung, es habe sich gar nicht um eine Darstellung von Jesus beim letzten Abendmahl gehandelt. Lassen Sie es mich so sagen: Wenn die Intention der Performance gewesen sein sollte, gezielt Religion zu attackieren, würde ich das scharf verurteilen. Religion ist höchst identitätsstiftend für den Einzelnen und die Gesellschaft, religiöse Grundrechte dagegen sind höchst verletzlich. Werden sie angegriffen, das zeigt der Blick in die Geschichte, ist Gefahr in Verzug. Das sollte selbst moderne Kunst bedenken und überaus sensibel dafür sein.
Können die Olympischen Spiele in Paris als Völker verbindende Großveranstaltung denn einen Impuls für Frieden setzen?
LOSINGER: Ich fürchte, nur sehr bedingt! Das konnte die olympische Idee schon in der Antike nicht, in der die griechische Demokratie nur für ein paar wenige Männer galt, nicht für Frauen, nicht für Sklaven. Heute wiederum müssen wir ein Denken in Blöcken erleben, das unfähig zu Kompromissen ist. Der Gaza-Krieg oder der Krieg in der Ukraine gehen während der Olympischen Spiele in aller Brutalität weiter – und offenbaren unversöhnliche Positionen. Dazu fällt mir der so angesehene wie umstrittene Theologe Hans Küng mit seinem „Projekt Weltethos“ ein, der sagte: Es gebe keinen Weltfrieden ohne einen Frieden der Religionen; es gebe keinen Frieden der Religionen ohne ernsthaften Dialog; es gebe keinen ernsthaften Dialog ohne ein gemeinsames Fundament an Menschenrechten. Leider mangelt es uns bereits am Bewusstsein für gemeinsame Menschenrechte und der Idee gegenseitigen Respekts.
Das bekannte olympische Motto ist „schneller, höher, stärker“ – ist das der Takt unserer Zeit?
LOSINGER: Zumindest zielt unser Wirtschaftssystem darauf ab.
Die oft kritisierte Generation Z will da nicht mehr mitspielen und strebt eine Work-Life-Balance an.
LOSINGER: Dass die Generation Z aus einer gewissen Distanz heraus kritisch auf bestimmte gesellschaftliche Realitäten blickt, ist gewiss nicht verkehrt. Wenn ihr Streben aber darin bestehen sollte, lediglich sich selbst zu verwirklichen und die eigene Freizeit zu optimieren – dann wäre das fatal für unsere Gesellschaft. Sämtliche unserer sozialen Sicherungssysteme sind unter enormem Druck und ihre Zukunft hängt an jungen Generationen: der Arbeitsmarkt, das Gesundheits- und Pflegesystem, die Rentenversicherung. Insofern muss es gelingen, junge Menschen in Arbeit zu bringen, die nicht nur ihnen, sondern dem Ganzen dient. Wir brauchen dringend eine „solidarische Leistungsgesellschaft“. Wir brauchen eine aktivierende Sozialpolitik, die Chancen und gesellschaftliche Beteiligung eröffnet. Und wir brauchen gerade in unserer zugespitzten demografischen Situation dringender denn je den Zusammenhalt der Generationen, damit für alle Menschen unserer Gesellschaft ein menschenwürdiges Leben möglich wird.
Zur Person
Anton Losinger, 67, ist Weihbischof in Augsburg und Bischofsvikar für Bioethik und Sozialpolitik. Er ist zudem Mitglied des Bayerischen Ethikrats.
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