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Streik-Tag 27.03.: Das waren die Auswirkungen in der Region

Warnstreik

Verkehrte Welt: Wie die Menschen in der Region durch den Streik kamen

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    Gähnende Leere am Ulmer Hauptbahnhof – so sah es am Montag auf allen Bahnsteigen aus.
    Gähnende Leere am Ulmer Hauptbahnhof – so sah es am Montag auf allen Bahnsteigen aus. Foto: Alexander Kaya

    Es ist nass. Es ist böig. Es ist Montag. Ungemütliche Grundkoordinaten am frühen Morgen. Und für alle, die sich mit einem feuchtwindigen Start in die KW ohnehin wenig anfreunden können, ist an diesem Tag auch noch – je nach Aufgeregtheit der Schlagzeilenformulierenden: Großstreik, Super-Streik, Mega-Weil die Eisenbahner und die Busfahrerinnen mehr Lohn fordern, nicht mehr stillhalten, soll an diesem Montag eben ein Land stillstehen. Pendler im Stau, Mama-Taxis in Verzweiflung, Bahnhöfe in Ermangelung irgendeiner Daseinsberechtigung. Das soll das Faustpfand der Personenbeförderungsbranche sein an diesem Tag. 

    Es wäre naheliegend, jetzt mit dem Strom zu fahren, Stoßstange an Stoßstange ins plötzlich U-Bahn-lose München, Katastrophenberichterstattung aus dem Auge des Verkehrsorkans. Aber vielleicht lohnt es gerade in solch einer Situation noch mehr, durch die Peripherie zu kurven, sich anzusehen, wie sich dieser größte anzunehmende Streik auch aufs breite Bayern auswirkt. Auf die Mittelzentren, den ländlichen Raum – oder auf Ingolstadt zum Beispiel. Gut 140.000 Einwohner, Boom-Region, Auto-Region – und kommt es an diesem Tag in Deutschland, so mehr oder weniger ohne öffentlichen Fern- und Nahverkehr, nicht noch mehr auf Autos an als eh schon?

    Trotz Warnstreiks: In Ingolstadt kommt man schon irgendwie durch

    Schichtwechsel an Tor 11, halb sechs Uhr früh. Mehr als 42.000 Menschen schrauben, designen und vertreiben hier Fahrzeuge. Man hat im Ingolstädter Audi-Stammwerk viel Kurzarbeit erlebt in den letzten Jahren, da war der Skandal mit dem Diesel und diese Pandemie namens Corona. Doch heute sollen die Bänder ganz normal weiterlaufen – und die Audi-Belegschaft irgendwie zur Arbeit kommen. „Schichtverkehr“ ist in der Stadt ein gestandener Begriff. Nur ist er an diesem Tag auffällig unauffällig, was heißen will: Man kommt schon irgendwie durch, ohne alle 50 Meter runterschalten zu müssen.

    Kurzer Rundumcheck: Der firmeneigene Bahnsteig ist menschenleer, an Nicht-Streik-Tagen aber auch nicht sonderlich frequentiert. Die Werksbusse fahren zwar, setzen aber nur vereinzelt Menschen in rot-grauen Audi-Latzhosen ab. Letzte Gelegenheit auf verärgerte, umdisponierende Pendlerinnen und Pendler ist also eine Blitzumfrage am vollen Großparkplatz. Doch: Ein junger Kerl fährt ohnehin meist Roller, eine Frau mit Kippe und Eiskaffee hat „nicht viel Zeit, sorry, aber ja, ich fahre immer Auto“. Ein Gleitzeitler mit Schnauzbart strampelt auch bei schlechtem Wetter ins Pedal, und die meteorologischen Gegebenheiten heute, die würde er wirklich noch nicht als schlecht abstempeln. Einem weiteren Autopendler fällt partout niemand ein, der nicht genauso zur Arbeit kommt wie er selbst. Dann verschwindet er hinter einem Drehkreuz im Werk.

    ADAC: Streik-Auswirkungen auf der Straße hielten sich in Grenzen

    Alles wie immer also bei Audi? Vorsprung durch Pendelei auf eigenen Rädern? Nicht ganz. Audi hätte Beschäftigten mit Bürotätigkeiten empfohlen „mobil zu arbeiten, um die Straßen für die Menschen freizuhalten, die zur Arbeit in den Betrieb kommen müssen“, teilt ein Unternehmenssprecher mit. Man rechne zwar mit Auswirkungen im Personennah- und im Güterverkehr. Die Produktion in Ingolstadt sei aber „wie geplant angelaufen“.

    Vom Auto ist es nicht weit bis zum ADAC, und der wird nur ein paar Stunden später genau dies bestätigen. Dass nämlich zumindest auf der Straße ziemlich viel ziemlich planmäßig gelaufen sei im morgendlichen Berufsverkehr. Schon erstaunlich, da waren bundesweit rund 350.000 Beschäftigte vor allem aus dem Verkehrssektor zu einem 24-stündigen Warnstreik aufgerufen. Da standen alle Fernzüge, die meisten Regionalbahnen, enorm viele Busse, Trams, U- und S-Bahnen und auch noch Großflughäfen wie Frankfurt und München still, ergo: das Chaos auf den Straßen war gesetzt – und dann meldet eben jener Allgemeine Deutsche Automobil-Club, dass sich die Auswirkungen auf dem Asphalt alles in allem in Grenzen hielt. Man habe zwar in Bayern den einen oder anderen kleineren Stau mehr verzeichnet. Das habe sich aber schnell beruhigt.

    Beim ADAC heißt es: "Wer kann, ist im Homeoffice geblieben."

    Eine Auswertung des Verkehrsdatenspezialisten TomTom für die Nachrichtenagentur dpa ergibt, dass in nur vier von 27 Städten die durchschnittliche Fahrzeit um mehr als zehn Prozent höher liegt als zuletzt. Abgesehen von Einzelnen, die frühmorgens ratlos und zugleich sehr einsam auf Bahnsteigen oder an Bushaltestellen stehen, hätten sich die Menschen offenbar auf den Warnstreik eingestellt, sagt eine ADAC-Sprecherin. Und, siehe Empfehlung bei Audi: "Wer kann, ist im Homeoffice geblieben."

    Dicht an dicht stehen diese Münchner S-Bahn-Züge am Montag im Depot.
    Dicht an dicht stehen diese Münchner S-Bahn-Züge am Montag im Depot. Foto: Peter Kneffel, dpa

    Das nennt sich in der Sprache von Schülerinnen und Schülern Homeschooling und war in der Hochphase von Corona Alltag. Aber wegen eines Warnstreiks? 35 Minuten noch bis zum ersten Gong im Ingolstädter Reuchlin-Gymnasium, denkmalgeschützt, altstadtgelegen, busverbindungsabhängig. Eine ältere Dame schiebt ihr Rad am Eingang der Schule vorbei, „ein Verkehrschaos“ sei das heute, sagt sie nur, was ein wenig übertrieben ist. Aber tatsächlich fahren im Minutentakt Autos vor, der elterliche Ersatzverkehr. Auch Farin, zehnte Klasse, erste Stunde Geo, ist von seinem Vater kutschiert worden. „Für den war das kein großes Problem“, erzählt er. Der Audi fahrende Opa eines Sechstklässlers sagt: „Ich fahr‘ ihn rein, damit das hier keine Lotterie wird.“ Gestresster wirkt da schon die Mutter, die ihre Tochter kurz vor knapp abliefert, vier vor acht, „schlecht“ sei das alles, „sehr schlecht“. Und nun Entschuldigung, sie müsse jetzt dringend zur Arbeit.

    Eine Busfahrerin in Ingolstadt hat ein besonderes Anliegen

    Die Eltern seien in einem Online-Portal über den Streik informiert worden, berichtet die Sekretärin oben im ersten Stock: „Insgesamt war eigentlich alles normal.“ Keine Probleme, auch nicht mit der heutigen Berlin-Fahrt der Jahrgangsstufe elf. In anderen Teilen der Region läuft das nicht ganz so reibungslos, vor allem dort, wo nicht private Busfirmen die Schülerbeförderung übernehmen, sondern Betreiber, die an den Öffentlichen Dienst angedockt sind. Einige Schulen stellen tatsächlich auf Distanzunterrricht um. So lernen beispielsweise die meisten Klassen der Wirtschaftsschule und der Fachoberschule in Bad Wörishofen von zu Hause aus.

    „Wir streiken heute nicht, um unsere Fahrgäste zu vergraulen, sondern wollen, dass unsere Arbeit wertgeschätzt wird", sagt Busfahrerin Helga Müller.
    „Wir streiken heute nicht, um unsere Fahrgäste zu vergraulen, sondern wollen, dass unsere Arbeit wertgeschätzt wird", sagt Busfahrerin Helga Müller. Foto: Fabian Huber

    Auch in der Ingolstädter Altstadt läuft man an diesem Morgen nicht Gefahr, von einem Bus überfahren zu werden. Was unter anderem daran liegt, dass Helga Müller, örtliche Chauffeurin seit 38 Jahren, jetzt nicht hinter einem pizzagroßen Lenkrad sitzt, sondern aus einem Café kommt, eine Fahne der Gewerkschaft Verdi in der Hand, die den Großstreik gemeinsam mit der Eisenbahner-Gewerkschaft EVG ausgerufen hat, und ein Anliegen im Mund: „Wir streiken heute nicht, um unsere Fahrgäste zu vergraulen, sondern wollen, dass unsere Arbeit wertgeschätzt wird.“ Am frühen Morgen hätten sie und gut 20 Kolleginnen und Kollegen vor den Betriebshöfen Lärm gemacht. Nun, nach dem Frühstück, wollen sie Richtung Hauptbahnhof fahren – mit dem Auto, versteht sich – und sich mit den Bahnleuten solidarisieren.

    Verdi fordert 10,5 Prozent mehr Einkommen für die Beschäftigten

    Insgesamt 90 Prozent aller Busverbindungen würden an diesem Tag ausfallen, erzählt Stadtsprecher Michael Klarner am Telefon. Die verbliebenen Werksbusse für Audi und Airbus sowie vereinzelte Normallinien werden regulär von Privatunternehmen betrieben. „Die fahren im noch schlechter bezahlten Tarif des Landesverbands Bayerischer Omnibusunternehmen und bekommen jetzt Aushilfe von Rentnern“, schimpft Müller. „Unverschämt!“ 

    Der Streik legt sich ja nicht zufällig an diesem Montag übers Land. Das ist auch der Tag, an dem die Tarifverhandlungen im Öffentlichen Dienst in die dritte Runde geht. Verdi fordert für die 2,5 Millionen Beschäftigten im Bund und in den Kommunen 10,5 Prozent mehr Einkommen, mindestens aber 500 Euro im Monat mehr. Die EVG streitet gerade mit der Deutschen Bahn und rund 50 weiteren Bahn-Unternehmen über einen neuen Tarifvertrag. Sie fordert mindestens 650 Euro mehr pro Monat für alle Beschäftigten oder zwölf Prozent mehr Geld für die oberen Lohngruppen. Kommende Woche ist Ostern, droht dann der nächste Stillstand? "Das können wir klar mit einem Nein beantworten", sagt EVG-Tarifvorstand Kristian Loroch.

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    Ein abschließender Besuch dort, wo an diesem Vormittag ja wirklich nichts laufen sollte. Der Kiosk am Hauptbahnhof Ingolstadt hat gar nicht erst aufgemacht. Beim Bäcker gegenüber hofft die Verkäuferin, ihre heute ohnehin schon reduzierte Warenmenge irgendwie bis zum Feierabend loszuwerden. Erst zwei Apfelkuchenstücke gingen über die Theke, die Wurstsemmelfächer sind noch voll. Die 51-jährige Svetlana hat sich zumindest einen Kaffee und ein Croissant geholt, aber sie hat ja auch viel Zeit totzusitzen. Die ersten Züge zurück nach Pfaffenhofen würden erst ab 15 Uhr wieder fahren, habe ihr die Dame an der Infostelle gesagt. 

    Ein Taxifahrer hat sich viel mehr Geschäft erhofft

    Svetlana kam vor einem Jahr aus dem ukrainischen Kramatorsk nach Deutschland, mit Mutter und Kindern. Die gelernte Floristin arbeitet in einem Blumenladen in Pfaffenhofen, an diesem Tag steht ein Arzttermin in Ingolstadt an. Eine Freundin, die hier arbeitet, habe sie hergefahren. „Ich wusste, dass die Leute streiken. Und ich verstehe das“, sagt sie. „Hier in Deutschland läuft alles nach dem Gesetz. Alles nach Plan. Das ist super.“

    Draußen, im vorletzten Wagen der Taxischlange, hatte Simon Neif, 63, auch einen Plan: Geld verdienen, von ausfallenden Zügen profitieren. „Aber man merkt da gar nix“, sagt er frustriert. Vier Fahrten habe er bisher gehabt, in fünf Stunden. Zwei Leute, die zur Arbeit mussten, ein Krankentransport, eine Kurzstrecke. Fast immer steht er hier, am Bahnhof, aber wenn die Züge überhaupt nicht fahren, dann kommt eben auch fast keiner. „Fallen nur einzelne Verbindungen aus, ist es besser für mich“, sagt er und beobachtet durch seine Lesebrille die knapp 100 trötenden Menschen vor ihm. 

    Busfahrerin Helga Müller hat es zum Streik der EVG geschafft. Ganz vorne steht sie, grinsend, pfeifend, zufrieden, in ihrer rosenroten Strickmütze, und nickt zu den Worten des Redners. Der spricht nicht von Groß-, von Super-, von Megastreik. Im Gegenteil. Er sagt: „Dieser Warnstreik ist nur der Vorgeschmack von dem, was noch kommen könnte.“ 

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