Aller Abschied fällt schwer, oder? Beim Oktoberfest ist das ein bisschen anders. Tanzen die Volksfestbesucherinnen und -besucher zum Kehraus noch wehmütig Arm in Arm mit Wiesnbedienungen und erleuchten die Festzelte mit Wunderkerzen, ist am Tag danach all der Kummer schon wieder vergessen. So war es schon immer und so ist es auch diesmal. Sonst aber war vieles anders. München und die Welt sind aus dem Wiesntrott. Schade einerseits, vor allem für die Geldbeutel von Kellnerinnen und Kellnern. Zum Glück andererseits, denn es wurde über vieles gesprochen, was die Jahre zuvor oft ignoriert wurde. Über sexistische Musik auf der Bühne oder den rassistischen Kommentar eines Wiesnwirtes.
Der Gang ins Bierzelt eröffnet eine andere Welt, stürzt einen fast in Überforderung, vor allem nach zwei Jahren Lockdown-Allein-Sein. Auf einmal sind da Menschen. Viele. Mehr als nur Freunde und Familie. Sie kommen aus aller Welt. Sie sprechen Bayerisch, Englisch, Spanisch. Sie lachen zusammen, auch wenn sie nicht immer wissen, was der andere da gerade gesagt hat. Spätestens beim "Prosit der Gemütlichkeit" spielt das aber ohnehin keine Rolle mehr, dann gehen die Krüge gen Himmel und auch die Stimmen erheben sich. Alkohol, du Sprache der Welt. Einen komischen Brauch haben wir da.
Erstmals gab es für Frauen auf der Wiesn einen Safespace
Manchmal ist es aber wohl auch gut, nicht alles zu verstehen. Besser wäre es natürlich, die jeweilige Person hätte es erst gar nicht gesagt, noch besser nicht einmal daran gedacht. Bei der ersten Folge des Wiesn-Talks aus dem Hofbräu-Festzelt war das zum Beispiel so. Da sagte Wirt Günter Steinberg, "dass ich jeden Tag 100 Mohrenköpfe - ich sag jetzt bewusst Mohrenköpfe - verteile." Auch Schwarze Mitarbeiter in der Küche würde er damit versorgen. Zahlreiche Menschen warfen ihm Rassismus vor, diskutierten im Internet, der Wirt entschuldigte sich später, doch Betroffene empfanden seine Worte als wenig einsichtig. Viel Gerede also ohne wirkliches Umdenken? Mag sein. Aber zumindest wird nicht darüber geschwiegen. Doch so manches tut sich bereits. Zum Beispiel gab es erstmals einen "Safespace", also einen Sicherheitspunkt, an dem Frauen und Mädchen in Not Schutz vor zum Beispiel sexuellen Übergriffen fanden.
Das Oktoberfest zeigt unweigerlich all das, an dem wir als Gesellschaft noch arbeiten müssen. Doch es zeigt auch, was funktioniert. Dass ein Aufeinanderzugehen eben doch möglich ist. Dass es doch noch Momente gibt, in denen man so etwas wie Sorglosigkeit spürt. Faszinierend irgendwie, schließlich kommt hier doch zusammen, was sonst nicht zusammen gehört. Auch die Generation Z mischte sich in diesem Jahr erstmals unters Wiesnvolk. Das Oktoberfest wirkt jünger und die Feierlaune dieser jungen Menschen ist allzu gut nachvollziehbar, waren die Jahre seit dem letzten Mal Wiesn-Wahnsinn in 2019 doch vor allem von Krisen geprägt.
Die Zelte auf dem Oktoberfest waren deutlich leerer als sonst
Die waren auch in den Bierzelten nicht so fern wie es scheint. Vereinzelt liefen Menschen mit FFP2-Maske durch die Menge und die Zelte waren deutlich leerer als sonst. Vielleicht, weil viele sich einer Ansteckung mit dem Coronavirus erst gar nicht aussetzen wollen, vielleicht, weil es bei dem Regenwetter, das während 17 Tagen Wiesn fast dauerhaft anhielt, Zuhause auf der Couch doch gemütlicher ist als auf der Bierzeltbank, vielleicht aber auch, weil 12 Euro oder mehr für eine Maß Bier angesichts der steigenden Preise in allen Bereichen doch zu viel sind.
Für die, die trotzdem kamen, brachte diese leerere Wiesn aber auch viel Gutes. Vor den Zelten bildeten sich nur selten lange Schlangen, auch ohne Tischreservierung gab es meist irgendwo noch ein freies Plätzchen und man konnte sogar erfahren, wer einem da Bier und Hendl, Spezi und vegane Weißwurst an den Tisch bringt, hatten die Wiesnbedienungen doch deutlich weniger zu tun und so auch Zeit mit ihren Gästen zu ratschen. In diesen Gesprächen ging es dann oft auch ums Geld. Das reiche in diesem Jahr zwar um die Kosten für Unterkunft und Co. zu decken, doch wirklich Umsatz brachten nur wenige Tage. Wieder kommen wollen viele von ihnen trotzdem, sagt zum Beispiel Kellnerin Vicky, die zum ersten Mal auf der Oidn Wiesn gearbeitet hat. Trotz all der Anstrengung habe sich eine seltsame Art der Entspannung über die Wiesnzeit bei ihr eingestellt. Der Großteil der Gäste würde wertschätzen, dass Kellnerinnen und Kellner dort nicht nur Essen und Trinken an den Tisch bringen, sondern auch Lebensgefühl und Tradition.
Ist das nur ein Halskratzen oder doch Corona?
Was Tradition ist und wie viel davon auf die Wiesn gehört, war in diesem Jahr wohl das meist diskutierte Thema. Gegenstand der Debatte: Das neue Bräurosl-Festzelt von Wirt Peter Reichert mit der Kapelle Josef Menzl, die vor allem böhmische und bayerische Blasmusik auf die Bühne bringen wollte. Wollte, weil dieses Konzept zu Beginn nicht bei allem Gästen im Zelt gut an kam. Aus Sorge die Plätze im Zelt würden leer bleiben, entschieden Brauerei und Wirt in Absprache mit der Kapelle, dass für das abendliche Finale eine Partyband her muss. Die machte auch Stimmung, keine Frage, doch viele der Reihen waren in den folgenden Tagen vor allem mit Blasmusik-Fans gefüllt, die extra wegen Menzl angereist waren. Was also bleibt nach dem Skandal? Kommt Blasmusik zurück in mehr große Wiesnzelte? Sollten sexistische Songs a la "Layla" in Zukunft aus dem Programm gestrichen werden? Gehört Ballermann-Musik mittlerweile einfach dazu? Oder ist künftig vielleicht mehr musikalische Vielfalt auf der Wiesn möglich, und zwar überall? Antworten darauf wird die Zukunft liefern. Wer wohl im nächsten Jahr so auf den Bühnen spielt? Und was das Publikum dazu sagen wird? Die drängendste Frage nach einem Oktoberfestbesuch 2022 aber bleibt: Ist das nur ein Halskratzen oder doch Corona?