Vor 215 Jahren wird in Bayern Geschichte geschrieben. Damals, 1807, führt das noch junge Königreich eine Impfpflicht gegen die gefürchteten Pocken ein – als erstes Land der Welt. Das allein ist schon beachtlich, die eigentliche Sensation ereignet sich aber noch ein paar Jahre früher. Nicht in Bayern, sondern in England. Edward Jenner, heute oft als „Vater der Immunologie“ bezeichnet, beobachtet damals, dass Melkerinnen sich oft mit harmlosen Kuhpocken infizieren und danach gegen die tödlichen Menschenpocken immun zu sein scheinen. Jenner entschließt sich also zu einem gewagten Experiment: Im Jahr 1796 reibt er dem Sohn seines Gärtners den Kuhpockeneiter einer erkrankten Milchmagd in eine Wunde am Arm – quasi die erste Impfung der Welt. Und sie wirkt: Einige Wochen später infiziert Jenner den Buben mit Menschenpocken. Er wird nicht krank.
Heute rückt die Pocken-Impfung, ein Meilenstein der Medizingeschichte, wieder in den Fokus. Denn sie schützt Expertinnen und Experten zufolge auch vor einer Infektion mit den derzeit in vielen Ländern vermehrt auftretenden Affenpocken. Aufgrund der Ähnlichkeit der Viren würden Impfstoffe, die zum Schutz vor den echten Pocken entwickelt wurden, auch vor Affenpocken schützen, erklärt ein Sprecher des bayerischen Gesundheitsministeriums gegenüber unserer Redaktion und ergänzt: „Von der WHO wird die Wirksamkeit der Impfung gegen Affenpocken mit circa 85 Prozent angegeben.“
Der alte Pocken-Impfstoff hat viele Nebenwirkungen
Auch der Virologe und Pockenexperte Professor Dr. Gerd Sutter von der Ludwig-Maximilians-Universität München erklärt in einem Interview mit der Zeit, dass der Pockenimpfstoff gegen die Affenpocken helfe. Und das Vakzin von damals gibt es sogar noch: „Von dem klassischen Pockenvirenimpfstoff, einem Lebendimpfstoff, haben wir in Deutschland so viel Vorrat, dass man die ganze Bevölkerung impfen könnte“, erklärt er.
Den Vorrat gebe es für den Fall, dass Pockenviren aus einem bisher unbekannten Reservoir wieder auftauchten oder als Biowaffe eingesetzt würden. Aus Sicherheitsgründen horteten deshalb viele Länder noch die alten Impfstoffe. „Ich würde aber den Einsatz des neuen, modernen Impfstoffes bevorzugen“, sagt Sutter. „Der hat deutlich weniger Nebenwirkungen.“
Wegen Nebenwirkungen soll altes Vakzin nicht gegen Affenpocken eingesetzt werden
Auch das Bundesgesundheitsministerium will das alte Vakzin wegen der starken Nebenwirkungen nicht gegen die Affenpocken einsetzen. Stattdessen wurde ein anderer Impfstoff bestellt, wie am Dienstag bekannt gegeben wurde. Um für mögliche Ringimpfungen – für enge Kontakte infizierter Personen – gewappnet zu sein, hat Deutschland prophylaktisch bis zu 40.000 Dosen des Vakzins Imvanex bestellt, wie Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach erklärte.
Bei Imvanex, das 2013 in der EU zugelassen wurde, handle es sich um einen Impfstoff, der modifiziertes Vacciniavirus Ankara (MVA) – ein abgeschwächtes Kuhpockenvirus – enthält. „Dieser Impfstoff hat in den USA und in Kanada auch die Zulassung für die Impfung gegen Affenpocken“, erklärt der Sprecher des bayerischen Gesundheitsministeriums. In der EU wäre diese Impfung gegen Affenpocken nur in einer sogenannten Off-Label-Verwendung möglich. Das bedeutet: Eine Verwendung außerhalb der Zulassung, die derzeit nur für Menschen-Pocken gilt.
In Westdeutschland gab es bis 1976 eine Impfpflicht gegen Pocken
Bei der Impfstoffversorgung, so sie denn nötig wird, wird wohl das Biotechnologieunternehmen „Bavarian Nordic“ mit einem Standort in Martinsried bei München eine große Rolle spielen. Vor wenigen Tagen hatte das Unternehmen bekannt gegeben, dass es einen Vertrag „mit einem nicht genannten europäischen Land“ über die Lieferung seines Pockenimpfstoffs Imvanex als Reaktion auf neue Fälle von Affenpocken abgeschlossen hat. Die Aktienkurse des Unternehmens steigen seit Tagen an, zuweilen gab es deutlich zweistellige Kursgewinne.
In Bayern gibt es – Stand Dienstagabend– bisher drei Affenpockenfälle, mehrere Kontaktpersonen sind zudem in Quarantäne. Wie viele Menschen im Freistaat als Kinder gegen Pocken geimpft wurden, könne man nicht sagen, erklärt der Sprecher des bayerischen Gesundheitsministeriums. In der Bundesrepublik war die Pocken-Impfung bis 1976 für einjährige Kinder Pflicht. In der DDR wurde die Impfpflicht 1982 aufgehoben. Es sei, heißt es aus München, prinzipiell davon auszugehen, dass auch in Bayern seit 1976 – nach Wegfall der Verpflichtung zur Erstimpfung – keine flächendeckenden Impfungen gegen Pocken mehr durchgeführt wurden.