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Verkehrsicherheit: 70 Jahre Schulweghelfer: Annemarie Mayr aus Friedberg erinnert sich

Verkehrsicherheit

70 Jahre Schulweghelfer: Annemarie Mayr aus Friedberg erinnert sich

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    Gelber Umhang und Warnkelle: So kennt man Annemarie Mayr. Seit vielen Jahren ist sie als Schulweghelferin für die Sicherheit der Kleinsten in Friedberg da.
    Gelber Umhang und Warnkelle: So kennt man Annemarie Mayr. Seit vielen Jahren ist sie als Schulweghelferin für die Sicherheit der Kleinsten in Friedberg da. Foto: Ulrich Wagner

    Dem Bub mit dem blonden Wuschelkopf pressiert’s. Er rennt an dem Jungen mit der roten Bommelmütze vorbei, um die Kurve, auf die Ampel zu. Jetzt noch schnell drüber, wenn’s schon mal grün ist. Die Frau mit dem knallgelben Umhang über der Winterjacke steht schon am Übergang der B300, hier in Friedberg, die Kelle ausgestreckt und schaut ihm noch nach, wie er, auf der anderen Straßenseite angekommen, seiner Mama entgegenrennt. „Na, der hat’s aber eilig gehabt“, sagt Annemarie Mayr, die Frau in gelb. Und richtet den Blick dann wieder die Straße hoch, wo sich die nächsten Grundschüler auf den Heimweg machen.

    Ehrenamtliche verhindern als Schulweghelfer viele Unfälle

    Zwei Buben kommen mit Tretrollern angefahren. „Diese Dinger“, sagt Annemarie Mayr und es klingt nach einem Kopfschütteln. „Wie die damit den Berg runtersausen.“ Die Seniorin mit den kurzen, braunen Haaren postiert sich schon immer zwei Meter vor der Fußgängerampel, sicher ist sicher. Damit die Kinder ja rechtzeitig anhalten. „Es ist halt ein gefährliches Eck hier.“

    Annemarie Mayr kennt das Eck hier in- und auswendig. Sie weiß, wo die Gefahren lauern. Die Rechtsabbieger, die aus der Stadt kommen und oft zu schnell sind. Die Lastwagen und die vielen Autos, die auf der B300 dahinrauschen. Die Radfahrer, die sich durchschlängeln. Und dazwischen braucht es noch Platz für die Kinder. Wie viele Stunden sie hier gestanden ist, bei Wind und Regen genauso wie in der sommerlichen Mittagshitze, lässt sich nicht mehr sagen. Es ist ihr auch nicht wichtig. Genauso wenig, wie die Sache mit dem Alter, über das sie ja eigentlich nicht reden will – letztes Jahr ist sie 80 geworden.

    Nein, es geht ihr um die Kinder und um deren Sicherheit. Deswegen hat sie vor 26 Jahren als Schulweghelferin angefangen, hat jeden Montag- und Freitagmittag Kinder über diese Kreuzung begleitet, bis sie im letzten Jahr dann einen Fahrradunfall hatte. Seither springt Annemarie Mayr nur ein, wenn sonst keiner Zeit hat.

    Ehrenamtliche, die den Schulweg der Kinder sichern, werden immer wichtiger. Es sind Rentner wie Annemarie Mayr, Mütter und Väter von Schulkindern, aber auch Kinder und Jugendliche, die Dienst als Schülerlotsen und -lotsinnen tun. Seit genau 70 Jahren gibt es den Schülerlotsendienst in Deutschland. 70 Jahre, in denen die Helfer wohl viele Unfälle verhindert haben. Zumindest ist in dieser Zeit kein schwerer oder tödlicher Unfall an einem gesicherten Übergang passiert, betont man bei der Deutschen Verkehrswacht.

    Früher starben viel mehr Kinder auf der Straße

    1953, als Bundesverkehrsminister Hans-Christoph Seebohm den Schülerlotsendienst ins Leben rief, waren die Probleme andere. Der Zuwachs an Mobilität im Zuge des Wirtschaftswunders wurde zunehmend zum Problem. Eltern hatten Angst, ihre Kinder allein zur Schule zu schicken. Wie groß das Problem war, zeigt ein Blick in die Unfallstatistik. Vor 70 Jahren verunglückten allein in Westdeutschland 32.807 Kinder unter 13 Jahren im Straßenverkehr, 1147 starben. Zum Vergleich: 2021 verloren in ganz Deutschland 49 Kinder unter 15 Jahren bei Verkehrsunfällen ihr Leben, 22.300 verunglückten. 

    Fernsehbeiträge aus den 1960er Jahren zeigen Schüler in kurzen Hosen, auf dem Kopf eine weiße Mütze mit dem grünen Kreuz der Bundesverkehrswacht und einen weißen Koppelgürtel samt Schulterriemen. Beherzt treten sie auf die Straße, strecken die rot-weiße Kelle aus als Zeichen dafür, dass die jüngeren Mitschüler die Straße passieren dürfen. Das Modell stammt aus den USA, wo Jugendliche seit den 1920er Jahren den Schulweg sicherten. Nach dem Zweiten Weltkrieg führten die US-Truppen den Schülerlotsendienst in ihrer Besatzungszone ein.

    Die Zahl der Schüler, die mitmachten, wuchs schnell. Die Lotsen, die mindestens 13 Jahre alt sein müssen, waren bei vielen beliebt und bekamen eine Menge Aufmerksamkeit. Der Sieger des Schülerlotsen-Bundeswettbewerbs 1956, ein Junge aus Kassel, durfte sogar in die USA reisen – ein Treffen mit Präsident Dwight D. Eisenhower inklusive. 1975 war die Zahl der Lotsen in Westdeutschland auf stolze 77.000 gewachsen. Davon ist man mittlerweile weit entfernt. Die Deutsche Verkehrswacht schätzt, dass heute bundesweit 50.000 Verkehrshelfer im Einsatz sind – die Hälfte davon allein im Freistaat.

    In Bayern machen die Erwachsenen zwei Drittel der Verkehrshelfer aus

    Bei der Landesverkehrswacht Bayern ist man stolz auf diese Tradition, darauf, dass so viele Ehrenamtliche morgens und mittags den Schulweg der Kinder sichern. „Wir kommen aus einer Zeit, wo wir in

    In Friedberg war es damals ein schlimmer Unfall Ende der 90er Jahre, der manche zum Umdenken brachte, genau hier, wo die Zeppelinstraße die B300 kreuzt. Ein Bub auf dem Fahrrad wurde von einem Lastwagen erfasst. Ein paar Eltern kamen zusammen und teilten sich auf, um morgens und mittags die Schüler über die Bundesstraße zu begleiten, Annemarie Mayr war damals schon dabei. Genauso wie Annemarie Schulte-Hechfordt. „Es konnte doch nicht sein, dass man die Kleinen da allein rüberlaufen lässt“, erklärt sie. 1999 dann rief Schulte-Hechfordt den Schulwegdienst ins Leben, trommelte mehr Ehrenamtliche zusammen und teilte sie ein.

    Mittlerweile koordiniert Claudia Schmid die 14 ehrenamtlichen Schulweghelfer in Friedberg. Die 69-Jährige steht selbst an der Fußgängerampel – unter anderem hier in der Stadtmitte, an der Kreuzung zwischen Aichacher Straße und Ludwigstraße, drei Mal die Woche morgens, zwei Mal mittags, ein paar Jahre macht sie das schon. Es müssten einfach ein paar Helfer mehr sein. „Mittlerweile ist das kein Ehrenamt mehr, das ist ein Ehrenjob“, sagt sie und man hört den Frust in ihrer Stimme. Die Kinder seien nicht das Problem. „Die Kinder sind die liebsten der Welt.“ 

    Viele Autos sind viel zu schnell unterwegs

    Claudia Schmid zeigt auf die Baustelle auf der anderen Straßenseite, die Absperrung davor, das Tempo 30-Schild. Eigentlich alles ersichtlich. „Das interessiert hier nur niemanden. Die Verkehrsregeln werden nicht eingehalten.“ Baustellenfahrzeuge blockierten den Weg, Autofahrer seien zu schnell unterwegs, Radfahrer schlichen sich zwischendurch, dazwischen dann noch Lieferfahrzeuge. Oder, schlimmer noch, Autofahrer, die an dieser Stelle links abbiegen, Richtung Kindergarten, obwohl das nicht zulässig ist. „Weil sie ja nur schnell ihr Kind mit dem SUV zum Kindergarten bringen müssen.“ Und dazwischen die Grundschüler, die an dieser Ampel sicher auf die andere Straßenseite kommen sollen. „Ich hab manchmal Angst, dass einer die Kontrolle verliert und in meine Kinder reinrast“, sagt Schmid.

    Dass das eigene Kinder sicher zur Schule kommt und wieder zurück – das wollen alle Eltern. Die Frage ist nur wie. Immer mehr Eltern bringen ihre Kinder mit dem Auto – Stichwort Elterntaxi. Der ADAC hat vor einigen Jahren Eltern nach dem Grund dafür gefragt. Die meisten meinen es nur gut. Fast zwei Drittel gaben an, ihr Kind vor Belästigungen schützen zu wollen, nahezu 60 Prozent halten den Radweg für zu unsicher, mehr als die Hälfte möchte ihr Kind davor bewahren, dass es bei Wind und Regen draußen unterwegs ist. Die Verkehrserzieher der Polizei wiederum werden nicht müde zu betonen, dass Kinder die Gefahren im Straßenverkehr nur einzuschätzen lernen, wenn sie den Schulweg selbst zurücklegen – am besten zu Fuß. Eltern sollten am Anfang den Schulweg gemeinsam mit ihren Kindern üben, die verschiedenen Gefahrenpunkte zeigen und erklären und selbst ein gutes Vorbild sein.

    In Friedberg wären Schulweghelfer dankbar um Nachwuchs

    An der B300-Kreuzung, wo Annemarie Mayr steht, bringt eine Mutter ihre Erstklässlerin, der Sohn, der in die Dritte geht, geht schon alleine. „Ich bin so froh, dass es Leute wie Sie gibt“, sagt sie zu Annemarie Mayr. Und dass sie sich das auch vorstellen könnte, Schulweghelferin zu sein – später, wenn die Kinder größer sind.

    In Friedberg wären sie dankbar um Nachwuchs. Viele der Schulweghelfer sind Rentner, erst seit diesem Jahr sind auch acht Schülerlotsen im Einsatz. Die Ausbildung der erwachsenen Schulweghelfer dauert gerade einmal zwei Stunden, sagt Markus Trieb, Pressesprecher des Polizeipräsidiums Schwaben Nord. „Die Schulweghelfer sind für die Arbeit der Polizei eine wichtige Unterstützung und können der Schutzengel unserer Kinder sein.“

    Annemarie Mayr hat früher noch Bonbons verteilt

    Auf den Schildern an den Lärmschutzwänden an der B300-Kreuzung stehen Sätze wie „Lärm macht krank“ und „Menschenschutz hat Vorrang“. Lastwagen lärmen vorbei, Autos hinterher, ein Krankenwagen mit Blaulicht und Sirene biegt um die Kurve. Annemarie Mayr muss sich die Ohren zuhalten. „Die Zeiten haben sich geändert“, sagt sie dann. Nicht nur wegen des Verkehrs. Früher hat sie noch Süßigkeiten verschenkt, kleine Sauergutzle mit Johannisbeergeschmack, zwei für jedes Kind. „Das geht heut nimmer, zu viel Verkehr“, sagt sie. Und dann gibt es noch etwas, was sie betrübt. Dass es heute so viel weniger Kinder sind, die sie mittags über die Ampel begleitet. Die einen werden gleich von Mama oder Papa mit dem Auto geholt, die anderen bleiben bis zum Nachmittag in der Schule. Annemarie Mayr schüttelt den Kopf, dass die Kleinen nicht mehr zum Mittagessen nach Hause kommen, das will ihr nicht in den Kopf. Damals, als ihre sechs Kinder klein waren, wäre das undenkbar gewesen.

    Ihre Kinder von der Kreuzung kennt Annemarie Mayr genau. Den Buben mit der Tarnfleckhose etwa, der immer so freundlich winkt. „Der wohnt da drüben.“ Manchen hat sie die Jacke zugemacht oder die Schuhe gebunden, wenn sie mal wieder mit offenen Schuhbändeln rumliefen. Sie wusste, was das Christkind gebracht hat oder wenn es in der Schule mal nicht so gut gelaufen ist. „Man hat ja nicht lang Zeit zum Reden“, sagt sie. Und dass sie in über 20 Jahren nur nette, liebe Kinder begleitet habe. Das Wichtigste aber in all den Jahren war, dass nichts passiert ist. „Wenn auch nur ein Kind verunglückt wäre, wäre es eines zu viel gewesen.“

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