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Verena Bentele im Interview: Vom Biathlon zum VDK-Kampf für die Pflege

Interview

Zukunft der Pflege: „Wir werden uns auf die Familien verlassen müssen“

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    Verena Bentele ist Präsidentin des größten deutschen Sozialverbandes VdK.
    Verena Bentele ist Präsidentin des größten deutschen Sozialverbandes VdK. Foto: Marlene Gawrisch

    Frau Bentele, die Menschen in unserem Land werden immer älter, in 20 Jahren soll es bis zu neun Millionen Deutsche geben, die über 80 Jahre sind. Was bedeutet das?
    VERENA BENTELE: Das ist doch erst einmal sehr positiv – und zugleich natürlich eine Herausforderung. Um für sie gerüstet zu sein, brauchen wir noch mehr Strukturen. Damit meine ich zum Beispiel Einrichtungen wie Kurzzeit-Pflegeplätze, Senioren-Cafés oder neue Wohnformen für Menschen, die zwar keine Pflege brauchen, aber im Alltag ein wenig Unterstützung. Ich glaube, dass uns das als Gesellschaft guttäte, wenn wir offen wären für neue Formen des Zusammenlebens.

    Mit zunehmendem Alter steigt das Risiko der Pflegebedürftigkeit, bei den über 90-Jährigen sind es acht von zehn. Wer soll sich um all die Menschen kümmern, die Pflege ist doch jetzt schon am Limit?
    BENTELE: Mit Blick auf die professionelle Pflege in Heimen und bei Pflegediensten stimmt das sicherlich. Die Menschen finden kaum noch Angebote und die Beschäftigten klagen oft zu Recht über die Arbeitsbedingungen. Da kann man sicher etwas tun und die Jobs attraktiver machen. Aber wir können nicht alles mit beruflich Pflegenden auffangen. Deswegen müssen wir die Familien stärken.

    Der Großteil der Pflegebedürftigen wird von Angehörigen versorgt. Finden die Anliegen dieser Pflegenden genug Beachtung?
    BENTELE: Das finde ich oft so irritierend an den politischen Diskussionen. Da geht es immer um die Belange der professionellen Pflege, selten um die Arbeit in den Familien. Sie ist das Stiefkind der Politik. Dabei werden es die Familien sein, auf die wir uns verlassen müssen. Es gibt schlicht keine andere Möglichkeit.

    Was wären für Sie als Sozialverband jetzt die wichtigsten Schritte, um den pflegenden Angehörigen zu helfen?
    BENTELE: Als Erstes die Lohnersatzleistung für pflegende Angehörige. Viele von ihnen reduzieren ihren Job oder geben ihn ganz auf. Wir haben das vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung durchrechnen lassen: Jedem fünften pflegenden Angehörigen droht Armut, weil später die Rente nicht reicht. Bei pflegenden Frauen ist sogar jede Vierte betroffen.

    Die Lohnersatzleistung steht im Koalitionsvertrag der Ampel . . .
    BENTELE: . . . wird aber wahrscheinlich in dieser Legislaturperiode nicht verwirklicht. Das ist eine Riesen-Enttäuschung. Um auf die vorherige Frage zurückzukommen: Es muss außerdem viel einfacher werden, an Hilfen zu kommen. Hier bremst die Bürokratie, und viele Menschen wissen gar nicht, welche Hilfen es schon gibt. Und schließlich: Wir brauchen viel mehr Kurzzeit- und Tagespflege-Einrichtungen, damit die pflegenden Angehörigen mal eine Pause machen können. Viele von ihnen sind körperlich und seelisch am Ende.

    Das alles kostet Geld. Woher soll das kommen?
    BENTELE: Erstens könnte man die gesetzlichen und privaten Pflegekassen zusammenlegen, um die finanzielle Ausstattung zu verbessern. Zweitens werden wir Steuergelder brauchen: Ich denke hier an eine höhere Besteuerung der Vermögen und großen Erbschaften. Denn Arbeit darf in unserem Land nicht noch teurer werden.

    Was halten sie vom Gedanken einer Pflege-Vollversicherung, für die sich jetzt auch die CSU starkmacht?
    BENTELE: Ich weiß, das ist populär. Aber ich bin da skeptisch. Zum einen gibt es heute schon neben der Pflegeversicherung die staatliche Hilfe zur Pflege. Die wollen viele nicht in Anspruch nehmen, weil diese auch aufs Privatvermögen zurückgreift. Aber ist es wirklich die Aufgabe des Staates, die Erben zu schützen und stattdessen die Allgemeinheit zu belasten? Außerdem machen heute teilweise private Pflegeanbieter zehn bis zwölf Prozent Rendite. Wollen wir mit einer Vollversicherung dieses Geschäft wirklich noch attraktiver machen?

    Kümmert sich die heutige Politik genügend um die Pflege-Herausforderung, die da auf die Gesellschaft zurollt?
    BENTELE: Leider nein. Es wird zwar viel geredet über diese Riesen-Aufgabe, aber geändert hat sich nicht wirklich was.

    Gleichzeitig gibt es immer mehr ältere Menschen, die noch richtig fit sind. „70 ist das neue 50“, heißt der Spruch. Müssen wir also gar nicht so pessimistisch sein, sondern nur mehr für uns tun?
    BENTELE: Klar. Genügend Bewegung, eine gesunde Ernährung, Prävention. Das sind alles wichtige Bausteine, da können viele mehr tun – und unser Gesundheitssystem sollte auch mehr in diese Angebote investieren.

    Sie waren früher Leistungssportlerin, haben als Biathletin und Skilangläuferin zwölf paralympische Wettbewerbe gewonnen, sind auf den Kilimandscharo gestiegen. Wie halten Sie sich heute fit?
    BENTELE: (lacht) Ich war am vergangenen Sonntag in München beim Monopteroslauf im Englischen Garten, 19 Kilometer, das hat Spaß gemacht. Wenn es geht, laufe ich täglich, zumindest aber jeden zweiten Tag.

    Würden Sie dieses Programm zur Nachahmung empfehlen?
    BENTELE: Im Grunde ja, aber es muss nicht laufen sein. Wer das nicht will oder kann, dem sage ich: Such dir was, was dir Spaß macht. Bewegung jedenfalls ist gut für Körper und Seele.

    Zur Person

    Verena Bentele, 42 und aus Lindau, ist seit 2018 Präsidentin des VdK, des größten deutschen Sozialverbandes. Zuvor war das SPD-Mitglied Behindertenbeauftragte der Bundesregierung. Die von Geburt an blinde Frau ist eine der erfolgreichsten Wintersportlerinnen der Welt.

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