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Verbrechen: Wenn aus Kindern Mörder werden – eine Spurensuche

Rund zweieinhalb Monate nach dem tödlichen Schuss erinnert in Lohr ein kleiner Schrein an den toten Schüler.
Verbrechen

Wenn aus Kindern Mörder werden – eine Spurensuche

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    Es ist der letzte Freitag vor Beginn des neuen Schuljahres. Wenige Tage später sollen zwei 14-Jährige eigentlich in die neunte Klasse der Gustav-Woehrnitz-Mittelschule im unterfränkischen Lohr starten. Doch gegen 16.30 Uhr meldet sich ein anderer Jugendlicher bei der Polizei: Er wisse von einem Bekannten, der jemanden umgebracht habe. Und tatsächlich: In einem Gebüsch am Rand des Schulzentrums finden die Polizisten einen schwer verletzten Jungen. Als die Rettungskräfte eintreffen, können sie nur noch seinen Tod feststellen. Er wurde mit einem Kopfschuss getötet, wie sich später herausstellt. Noch am Abend nimmt die

    Hat Deutschland ein Problem mit tödlicher Gewalt unter Schülerinnen und Schülern?

    Der Fall in Lohr ist nur eine von mehreren Gewalttaten unter Kindern und Jugendlichen, die aus dem zu Ende gehenden Jahr in Erinnerung bleiben werden. Januar 2023: Ein 14-Jähriger erschlägt seinen Mitschüler, auch 14, in Wunstorf bei Hannover. März: Zwei Mädchen im Alter von zwölf und 13 Jahren gestehen, die ebenfalls zwölfjährige Luise erstochen zu haben. April: Ein Elfjähriger soll in einem Kinderheim im oberfränkischen Wunsiedel ein zehnjähriges Mädchen erdrosselt haben. September: Ein Junge mit sechs Jahren stirbt in Pragsdorf (Neubrandenburg), als Tatverdächtiger wird ein 14-Jähriger festgenommen. November: Ein 15-Jähriger stirbt im Krankenhaus, nachdem ein gleichaltriger Mitschüler in Offenburg im Klassenzimmer auf ihn geschossen hatte.

    Immer folgt auf solche Taten die Frage: Wie kann ein Kind so etwas tun? Hat Deutschland ein Problem mit tödlicher Gewalt unter Schülerinnen und Schülern? 

    Der Polizeilichen Kriminalstatistik für Deutschland zufolge sind Morde unter Kindern und Jugendlichen selten. Im Jahr 2022 gab es 18 Fälle des Verdachts auf Mord und Totschlag durch Kinder unter 14 Jahren. Im Vorjahr waren es 19 Fälle gewesen, 2020 und 2019 jeweils elf. Ob auch Kinder die Opfer waren, geht daraus nicht hervor. Unter Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren registrierte die Polizei zuletzt eine Steigerung bei Tötungsdelikten. Hatte es 2021 insgesamt 173 Verdächtige gegeben, waren es ein Jahr später 198. 

    Am Tag nach der Tat durchsuchten Einsatzkräfte des Bayerischen Landeskriminalamts den Tatort nach Patronenhülsen.
    Am Tag nach der Tat durchsuchten Einsatzkräfte des Bayerischen Landeskriminalamts den Tatort nach Patronenhülsen. Foto: Patty Varasano

    Auch für Bayern gibt es seit Montag neue Zahlen. Laut der Strafverfolgungsstatistik, die Justizminister Georg Eisenreich in München vorstellte, steigt die Zahl der jugendlichen Gewalttäter insgesamt. 641 Jugendliche wurden im Jahr 2022 bayernweit wegen Gewaltkriminalität verurteilt – fast fünf Prozent mehr als im Vorjahr. Besonders deutlich ist die Steigerung mit 15 Prozent bei der gefährlichen, potenziell tödlichen Körperverletzung. Die Justizminister der Länder haben jüngst Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) gebeten, die Ursachen wachsender Kinder- und Jugendgewalt in einer Studie untersuchen zu lassen.

    Die Motive besonders junger Täterinnen und Täter bleiben oft unklar oder werden von den Behörden unter Verschluss gehalten. Nur nach dem Amoklauf an der Offenburger Schule, bei dem der Verdächtige noch weitere Schüsse abfeuerte und eine Lehrerin schlug, hat die Ermittlungsbehörde sich dazu geäußert: Eifersucht habe den Jugendlichen getrieben, heißt es. 

    Die Reaktionen am Schulzentrum Lohr reichen von Wut bis Trauer und Schock

    Zum Motiv des Todesschützen im bayerischen Lohr macht die Staatsanwaltschaft keine Angaben - ebenso wenig dazu, wie er an die Pistole gelangte, die vorschriftsmäßig aufbewahrt wurde. Sie gehörte einem Nachbarn des 14-Jährigen, der die Waffe legal besaß und mit dem Jungen einen freundschaftlichen Umgang pflegte. Der Mann war jedoch schwer krank, zum Tatzeitpunkt lag er bereits seit längerer Zeit im Krankenhaus. Im Oktober ist der 66-Jährige gestorben, befragt werden kann er nicht mehr.

    Der Schulstart, nur vier Tage nach der Tat, ist für alle bedrückend. Polizeifahrzeuge haben sich rund um das Schulgelände positioniert. Sie sollen die Schülerinnen und Schüler vor der Presse und Neugierigen abschirmen. Gemeinsam mit den Lehrkräften versammeln sich die Kinder und Jugendlichen vor dem Gedenkort, der in der Nähe des Tatorts eingerichtet wurde. Am Nachmittag des ersten Schultags findet ein Trauergottesdienst für das Opfer statt, mehr als 500 Menschen nehmen teil.

    Die drei Schulen, die auf dem Schulzentrum untergebracht sind, holen sich gleich nach der Tat Unterstützung. Psychologen sind vor Ort, kümmern sich um die Schülerinnen und Schüler, die noch lange unter dem Geschehenen leiden werden. "Die Reaktionen sind sehr unterschiedlich, von Wut bis hin zu ganz tiefer Traurigkeit und Schock", sagt Konrektorin Ingrid Otto in einem Interview mit unserer Redaktion rund einen Monat nach der Tat. 

    Bis in den Abend hinein suchten Spezialisten in der Nähe des Tatorts am Lohrer Schulzentrums nach Spuren.
    Bis in den Abend hinein suchten Spezialisten in der Nähe des Tatorts am Lohrer Schulzentrums nach Spuren. Foto: Höfig, NEWS5/dpa

    Einer, der sich in der Gedankenwelt von schwer straffällig gewordenen Kindern und Jugendlichen auskennt wie kaum jemand anders, ist der Marburger Kinder- und Jugendpsychiater Helmut Remschmidt, Autor des Fachbuchs "Wenn Kinder töten". Er war ein gefragter Gesprächspartner in diesem an Verbrechen unter Kindern und Jugendlichen so erschütternd reichen Jahr. Auch unserer Redaktion hat er ein Interview gegeben, es war nach dem Mord an der zwölfjährigen Luise durch ihre beiden ebenso jungen Mitschülerinnen in Freudenberg. Die Tatmotive seien - wie bei Erwachsenen - bei Kindern und Jugendlichen sehr unterschiedlich, erläuterte Remschmidt damals. "Was man sagen kann: Es sind – anders als im Erwachsenenalter – ganz selten Bereicherungsdelikte." Auch Tötungsdelikte aus sexuellen Motiven heraus kämen seltener vor. 

    Gewalttätige Kinder: Das Elternhaus spielt eine große Rolle – doch generalisieren sollte man nichts

    "Was im Kinder- und Jugendalter häufiger zu beobachten ist, sind Beziehungs- und Affekttaten. Auch das Motiv, sich für eine Beleidigung zu rächen, gibt es natürlich in allen Altersstufen." Das Elternhaus spielt dem Psychiater zufolge "eine sehr wichtige Rolle" bei der Wahrscheinlichkeit, dass Kinder Schuld auf sich laden. "Es ist nachgewiesen, dass Kinder, die im Elternhaus Opfer von Gewalt wurden, später auch häufiger Täter werden. Kinder kommen ja ohne moralisches Bewusstsein auf die Welt, sie wissen also nicht, was gut und was böse ist, das lernen sie im Elternhaus, im Kindergarten, in der Schule." Generalisieren dürfe man jedoch nichts. "Auch Kinder aus sehr intakten Elternhäusern können zu Straftätern werden." Den Einfluss sozialer Medien, etwa von Gewaltvideos, die sich Kinder ansehen, bezeichnete Remschmidt als groß.

    Prävention ist schwierig. Aber lange schon leisten etwa in Bayern Schulen ihren Beitrag dazu. Die Webseite des Kultusministeriums listet allein acht schulische Programme auf, die Schüler stark machen sollen gegen angewandte und erlebte Gewalt. Ein wesentlicher Bestandteil: die Persönlichkeit und Sozialkompetenz zu stärken. Aber wie sind Schulen für den Ernstfall vorbereitet, welche Notfallpläne greifen, wenn tatsächlich ein bewaffneter Täter ins Schulgebäude oder den Pausenhof eindringt? 

    Seit 2013 sind staatliche Schulen laut dem bayerischen Kultusministerium nicht nur verpflichtet, ein Krisenteam rund um den jeweiligen Schulpsychologen einzurichten, sondern auch in Zusammenarbeit mit dem Schulaufwandsträger und der Polizei ein Sicherheitskonzept zu entwickeln und kontinuierlich zu aktualisieren. "Durch regelmäßige Abfrage bei der Schulaufsicht vergewissert sich das

    Was konkret ein solcher Notfallplan enthält, soll nicht nach außen dringen. Eine Anfrage bei der Polizei liefert aber Eckpunkte. "Verhaltensorientierte Maßnahmen", erklärt etwa ein Sprecher des Polizeipräsidiums Schwaben-Nord, seien ebenso enthalten wie aktuelle Lage- und Baupläne der Schule, Fotos des Objekts, Erreichbarkeiten des Lehrergremiums oder die Frage, wen die Schule im Ernstfall verständigen müsse. Wird der Alarm regelmäßig geübt? "Jein", sagt der Polizeisprecher: "Wir bieten Übungen an, aber ohne Beteiligung von Schülern. Solche Vollübungen finden dann vorzugsweise an Tagen wie dem Buß- und Bettag statt, da dann keine Schüler anwesend sind." Man wolle schließlich keine Traumata auslösen oder Eltern verunsichern. "Was aber viel von den Schulen in Anspruch genommen wird, sind Lehrerfortbildungen." Dabei würden auch praktische Übungen durchgeführt - etwa das Einsperren im Klassenraum oder wie man es schafft, einen Sichtschutz herzustellen.

    Im Fall Lohr fand die Tat in den Sommerferien statt, das Schulgelände war verwaist. Trotz allem, die Schulleiterin der Mittelschule, Susanne Rinno, betont nach dem tödlichen Schuss gegenüber unserer Redaktion: "Wir erleben die Schule nicht als unsicheren Ort."

    Noch vor Weihnachten könnte Anklage gegen den Todesschützen von Lohr erhoben werden

    Heute, rund zweieinhalb Monate nach der Tat, sind die Bäume um den Tatort kahler geworden, die Stelle ist nicht mehr so versteckt wie im Sommer, wirkt fast schon offen. Ein kleiner Schrein hält die Erinnerung an das Opfer wach. Viele Grablichter stehen an einem Baum, an ihm hängt ein Foto des Getöteten, bunte Blumen stehen in Vasen, daneben zwei kleine Schneemänner und ein Weihnachtsbaum aus Plastik. "Wir vermissen dich" steht auf Grablicht-Deckeln und Borten. Man sagt, dass Opfer und Täter befreundet waren.

    Die Ermittlungen sind laut Oberstaatsanwalt Thorsten Seebach weit gediehen. Er hoffe, bald den Abschlussbericht der Würzburger Kripo zu bekommen. Dann könnte er Anklage erheben, "wenn es gut läuft, noch vor Weihnachten". Ab 14 Jahren ist man strafmündig. Das Höchstmaß für Mord liegt bei jugendlichen Tätern wie in Lohr bei zehn Jahren Haft. (mit huda)

    Hören Sie sich dazu auch unseren Podcast "Augsburg, meine Stadt" mit dem Strafverteidiger Walter Rubach an – unter anderem zu der Frage: "Warum verteidigen Sie Mörder und Sexualstraftäter?" Die Folge können Sie sich hier anhören:

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