Feldbett an Feldbett steht in der Notunterkunft. Auf einem der Betten liegt der Stofflöwe eines Kindes neben dem Kopfkissen. Die Menschen, die dort ausharren, sind aus der Ukraine vor dem Bombenhagel geflohen. Unter ihnen sind die Schwächsten der Schwachen. 82 Waisenkinder, teils schwer körperlich und geistig behindert, haben über 30 Stunden Fahrt hinter sich. Teils mangelernährt und dehydriert, sind sie nach fast 1100 Kilometern mit dem Evakuierungszug in Stalowa Wola an der polnischen Ostgrenze angekommen. Ohne ihre Pflegekräfte und Helferinnen und Helfer hätten sie niemals alleine fliehen können, als Anfang April die ersten Raketen in der Nähe des Waisenhauses im ukrainischen Ort Krywyj Rih einschlugen.
Das DRW in Ursberg hilft ukrainischen Waisenkindern
Ihr Hilferuf schallte bis aufs schwäbische Land, ins Dominikus-Ringeisen-Werk (DRW) in Ursberg im südlichen Landkreis Günzburg, einer Einrichtung für Menschen mit einer geistigen und mehrfachen Behinderung, mit Lern- und Sinnesbehinderung, Autismus, erworbener Hirnschädigung, psychischer Erkrankung und für Menschen im Alter. Am Stammsitz der kirchlichen Stiftung leben etwa 900 Menschen mit Behinderung, über 4600 Mitarbeitende arbeiten dort. Auch die 82 ukrainischen Waisenkinder sollen hier Zuflucht finden. In einer tagelangen Aktion werden sie mit Flugzeugen, Bussen und Rettungswagen nach Ursberg gebracht.
Seit Sonntagabend leben mittlerweile in einem extra dafür ertüchtigten Gebäude auf dem Gelände des DRW 120 neue Bewohnerinnen und Bewohner. Neben den Waisenkindern wurden auch die 17 ukrainischen Pflegekräfte und deren 20 Familienangehörige in Sicherheit gebracht. „Man kann sagen, wir haben Menschenleben gerettet“, sagt Josef Liebl vom DRW-Vorstand. „Das ukrainische Waisenhaus liegt neben einem Krankenhaus. Die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass es beschossen wird.“ Liebl trägt eigentlich die Berufsbezeichnung „Leiter Vorstandsressort Entwicklung, Bildung, Marketing“, aber seit einigen Tagen ist der 55-Jährige vor allem eines: Katastrophenmanager. Er ist einer von vielen Organisatoren und Organisatorinnen, die eine der größten, wenn nicht gar die größte Evakuierungsaktion der vergangenen Jahrzehnte in Bayern gestartet und erfolgreich umgesetzt haben.
Die Türen der Unterkunft in Ursberg bleiben in den ersten Tagen für Medienvertreter geschlossen. Den geflüchteten, teils traumatisierten Menschen soll Ruhe gewährt werden, sagt Liebl. Zu viel Trubel sei es in den vergangenen Tagen gewesen. Dass die Waisenkinder in Ursberg einen Zufluchtsort gefunden haben, war Glück – oder eine gute Zeitfügung. „Das Haus war frei und hätte eigentlich saniert werden sollen. Dass wir dafür Zeit gebraucht hätten, kommt jetzt der Situation zugute.“
Die Kinder und Jugendlichen haben schwere Körperbehinderungen
Den Kindern geht „gut so weit“, berichtet er. Aber was bedeutet „gut“ nach einer tagelangen, kräftezehrenden Flucht aus der Heimat? „Die Kinder und Jugendlichen sind gut versorgt. Aber man muss schon sehen: Zusätzlich haben die Menschen Vorbelastungen, teils seit Geburt sehr schwere Körperbehinderungen und müssen ärztlich betreut werden.“ Dazu kommen die psychischen Belastungen durch die kräftezehrende Flucht – auch bei den ukrainischen Pflegekräften, die diese Odyssee angeführt haben.
Dr. Eugen Telnykh ist Arzt am Medizinischen Versorgungszentrum, das zum Ringeisen-Werk gehört, und gebürtiger Ukrainer. Er kümmert sich seit der Flucht in Polen um die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen. „Er leistet mit die wichtigste Hilfe, da er auch Ukrainisch spricht“, findet Liebl. Die psychischen Belastungen könne aber auch Dr. Telnykh noch nicht absehen. In Ursberg werden jetzt dringend ukrainische Fachkräfte, Übersetzerinnen und Übersetzer gesucht. Bisher liegt der Pflegeschlüssel bei einer Pflegekraft pro fünf Waisenkindern.
Viele haben sich schon gemeldet oder packen einfach mit an, weil sie gerade da sind. Zwei ehemalige Einrichtungshilfen, die schon in Rente sind, kümmern sich derzeit um die Flüchtlingseinrichtung. Zwei Dolmetscherinnen, die aus der Ukraine geflohen sind, sind täglich vor Ort. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ringeisen-Werks leisten nach ihrer regulären Arbeitszeit Hilfe bei der Pflege. Oder gehen mit den Jugendlichen auf dem Gelände spazieren. Die Kollegin aus der Finanzbuchhaltung trägt in ihrer Pause ein ukrainisches Waisenkind auf dem Arm. „Dieser Einsatz von den Menschen vor Ort und auch den Ehrenamtlichen, die sich gemeldet haben, ist unbeschreiblich und beflügelt uns alle“, sagt Liebl.
Es gibt jedoch, wenn auch wenige, kritische Stimmen zu diesem Projekt, wie Manuel Liesenfeld, Pressesprecher des DRW, erzählt. „Es sind Kommentare von Menschen, die sagen, ukrainische Kinder würden den Pflegebedürftigen in der Region ein Pflegebett wegnehmen. Aber das stimmt so nicht. Das Gebäude hier ist eine Flüchtlingsunterkunft. Keine Eingliederungshilfe nach deutschem Standard.“ Es sind Kommentare, die sich die Verantwortlichen nicht zu Herzen nehmen. Weil sie wissen, das Richtige getan zu haben. Und eigentlich haben sie auch gar keine Zeit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Wie lange die ukrainischen Kinder in Ursberg bleiben, ist unklar.