Wo sonst Promis übernachten, wird nun über den Ukraine-Krieg verhandelt
Der Vierwaldstättersee dient am Wochenende als Kulisse für die bisher wichtigste Ukraine-Konferenz. Die Schweizer legen sich dafür mächtig ins Zeug.
Pfarrer Jan Strancich hat seine Schäfchen schon fürs große Wochenende vorbereitet. "Wir wollen für die Politiker beten, damit sie von Gott gestärkt werden und sich für den Frieden einsetzen", lässt er auf einem Flugblatt verkünden. Seine modernistisch gebaute Kirche steht in Obbürgen, eigentlich ein völlig unbedeutender Fleck im idyllischen Zentralschweizer Kanton Nidwalden, umgeben von Bergwiesen und Wald. Von hier aus hat man jedoch den vollen Blick hinauf zu dem Ort, an dem nun ein Stück Weltgeschichte aufgeführt wird: die hochgepriesene Ukraine-Konferenz an diesem Wochenende.
Als Schauplatz des Treffens dient ein Komplex aus mehreren mondänen Hotels auf dem langgestreckten Bergrücken des 1128 Meter hohen Bürgenstocks. Kulisse ist der blau schimmernde Vierwaldstättersee samt den schneebedeckten Gipfeln der eidgenössischen Hochalpen. Traum-Ambiente – und ein fast schon unvorstellbarer Kontrast zum tagtäglichen Sterben in der Ukraine.
Bisher haben gut 90 Delegationen für die Ukraine-Konferenz zugesagt
Vielleicht könnte Pfarrer Strancichs Anruf an himmlische Mächte angesichts der verfahrenen Lage im Kriegsgebiet durchaus hilfreich sein. Die Frage ist nur, ob während der Konferenz überhaupt viele Obbürgener für das fromme Tun des katholischen Geistlichen daheim sein werden. "Ich und meine Familie schon mal nicht", sagt Philippe Bohny einige Tage zuvor auf einem morgendlichen, von mildem Sonnenlicht beschienenen Schulfest.
Andere Eltern stoßen auf dem Hof vor den Klassenzimmern bei Fruchtsaft, Kuchen und Kinderspielen ins selbe Horn. "Nichts wie weg", scheint die Parole zu lauten. "Das wird hier ja alles Hochsicherheitszone. Das Militär ist unterwegs, Diplomaten und Staatsmänner müssen an- und abreisen", beschreibt Bohny das, was man gelinde gesagt als albtraumhafte Störung des beschaulichen Dorfdaseins begreifen kann.
Eingeladen sind Vertreterinnen und Vertreter von rund 160 Staaten und Organisationen. Bisher haben gut 90 Delegationen ihr Kommen zugesagt. In diesem Rahmen werden mehr als 2000 Teilnehmer erwartet, darunter als eine zentrale Figur der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Er tourt sowieso gerade wieder als Bittsteller durch die Welt. Beispielsweise war er erst in Berlin auf einer Wiederaufbaukonferenz für sein Land. Doch die Strahlkraft der Bürgenstock-Konferenz übertrifft alle bisherigen Bemühungen um die Ukraine.
An der Spitze des deutschen Verhandlungsteams steht Bundeskanzler Olaf Scholz. Der französische Präsident Emmanuel Macron reist auch an. Die USA schicken unter anderem ihre Vizepräsidentin Kamala Harris. Und für die Europäische Union ist Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf dem Bürgenstock. "Ein großer Auftrieb", sagt ein Obbürgener Bergbauer, der sich Josef rufen lässt. Der schwitzende Mann holt gerade frisch gemähtes Gras mit einem alten Holzrechen fürs Heu ein; dort, wo ein enges Sträßchen vom Dorf hinauf zur luxuriösen Hotelgruppe führt. Ab und an röhrt ein sündhaft teurer Sportwagen der Marken Lamborghini oder Porsche an seinem steilen Hang vorbei. Noch sind private Gäste oben, die sich die Übernachtungspreise leisten können – beginnend bei gut 800 Euro für die günstigen Zimmer. Fürs Wochenende sind aber alle ausquartiert, egal wie reich oder schön. Reservierungen wurden storniert.
Im russischen Fernsehen war vom "Ball der Satanisten" die Rede
"Klar doch, die hohen Herrschaften müssen ja unter sich sein", sagt Josef. Skeptisch fügt er an: "Hoffentlich hilft es wenigstens. Der Putin ist ja schon mal nicht da." Richtig. Russlands Präsident hat noch nicht einmal eine Einladung erhalten. Zuständig dafür wäre die Schweizer Regierung gewesen. Sie ist Veranstalter.
Dieser Gastgeberstatus beruht auf einem Besuch Selenskyjs zu Beginn des Jahres in Bern, wo er Gespräche mit der eidgenössischen Bundespräsidentin Viola Amherd führte, eine Vertreterin der Bürgerlichen in der Schweiz, die auch als Verteidigungsministerin amtiert. Sie versprach ihm, eine hochrangige Ukraine-Konferenz zu organisieren. Schweizer Boden schien sich zu empfehlen, weil sich die kleine Alpenrepublik bisher um weitgehende Neutralität bemüht hat – ganz nach der gerne beschworenen Tradition, fremden Konflikten möglichst fernzubleiben und seinen Geschäften nachzugehen.
Die Russen zeigten sich trotzdem verärgert. Ihr Außenminister Sergei Lawrow machte unwirsch klar, sein Land wolle keine Einladung. Es werde auch nie eine solche annehmen. Im russischen Staatsfernsehen durfte getobt werden. Ein Moderator sprach davon, dass die Schweiz zum "Ball der Satanisten" einlädt. Die verschreckte eidgenössische Regierung unterließ daraufhin jede offizielle Offerte an den Kreml. Ein weiterer Eklat sollte vermieden werden. Bundespräsidentin Amherd verkündete: "Für einen Frieden braucht es beide Parteien am Tisch. Im Moment scheint das noch nicht möglich zu sein."
Es folgten weitere Rückschläge. Wladimir Putins wichtigster Unterstützer, das chinesische Regime unter Xi Jinping, bleibt dem Treffen genauso fern wie das ambitionierte Schwellenland Brasilien. Dessen Ukraine-skeptischer Präsident Lula da Silva möchte zusammen mit seinem Kollegen Xi eine eigene Konferenz organisieren.
Die Schweiz lässt sich die Ukraine-Konferenz umgerechnet gut 15 Millionen Euro kosten
Amherd gibt sich in der Öffentlichkeit dennoch von der Bedeutung der Bürgenstock-Runde überzeugt. Immerhin legt die Schweiz dafür umgerechnet mehr als 15 Millionen Euro Steuergelder auf den Tisch. Amherd schwebt dabei als Gesprächsformat "eine Dialogplattform" vor. Auf ihr soll nun "in einem ersten Schritt diskutiert werden, auf welchem Weg ein Frieden in der Ukraine erreicht werden kann".
Miteinander reden werden dabei vor allem Vertreter europäischer Länder, dazu Abgesandte weiterer westlich orientierter Staaten. Aus dem Bereich der Schwellen- und Entwicklungsländer sorgt wenigstens Indien mit einer Delegation für wahrnehmbare Bedeutsamkeit – zum großen Aufatmen der Organisatoren, sucht doch das Riesenland ansonsten auch die Nähe zu Russland.
Bis zum Konferenzstart will die eidgenössische Diplomatie noch weitere Kandidaten zur Teilnahme motivieren – angestrengt hinter den Kulissen, wie es heißt. Daneben rückt dieser Tage verstärkt das Schaffen einer speziellen Atmosphäre auf dem Bürgenstock in den Fokus. Schampus und Austern statt Stahlgewitter an der Front, könnte man meinen. "Die Delegationsteilnehmer müssen sich wohlfühlen. Wenn sie sich über verlorenes Gepäck oder schlechtes Essen ärgern, sind sie nicht fokussiert auf den Inhalt der Konferenz", betont Térence Billeter, Protokollchef im Schweizer Außenministerium, gegenüber den Medien.
Chris Franzen, frischgebackener Hotelchef auf dem Bürgenstock, sagt dazu in munteren Worten: "Ich stelle sicher, dass alles nach Plan verläuft, dass sich die Gäste wohlfühlen und ein Ambiente entsteht, das der Konferenz förderlich ist." Perfekter Service sei wesentlich. 700 Mitarbeiter seien ihm dabei behilflich. Und den Gästen stünden alle Dienstleistungen seines Hauses zur Verfügung. "Ob die Konferenzteilnehmer Zeit für Seefahrten, Golf oder Spa haben, bezweifle ich aber."
Über Generationen hinweg wollte schon viel Prominenz die Aussicht vom Bürgenstock genießen
Dass sich Franzen nebenbei über die vielen schönen Bilder freut, die von seinem Reich aus in alle Welt gesendet werden, ist naheliegend. Er herrscht auf dem Bürgenstock unter anderem über vier exklusive Herbergen. Zwei davon gehen auf klassische Grand Hotels der Belle Époque zwischen 1870 und dem Ersten Weltkrieg zurück, die Urzellen des gehobenen Tourismus auf dem Bergrücken. Es gibt mehr als 380 Zimmer und 67 Residence Suites für besondere Ansprüche. Das Konferenzzentrum umfasst gut 2200 Quadratmeter. Eigentümer ist über Subfirmen das Emirat Katar.
An die zahlende Kundschaft wird der Komplex unter dem Namen Bürgenstock Resort Lake Lucerne gebracht. Wobei Lake Lucerne englisch für Vierwaldstättersee ist. Lucerne steht für Luzern, die größte Stadt an diesem weit gestreckten Gebirgsgewässer. Von den Hotels aus gemessen liegt der See etwa 450 Meter tiefer. Über Generationen hinweg wollte schon viel Prominenz die Aussicht genießen: Schauspieler wie Sophia Loren, Audrey Hepburn und Sean Connery, Politiker wie der erste Bundeskanzler Konrad Adenauer, der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter oder Indiens längst verstorbene Premierministerin Indira Ghandi.
Auch internationale Konferenzen kennt der Bürgenstock – zuletzt aus dem Jahr 2004, als es um die Zukunft der zwischen Griechen und Türken geteilten Mittelmeerinsel Zypern ging. Nichts war aber so brisant wie nun die Ukraine-Konferenz, vor allem was die Sicherheit angeht. Aus entsprechenden Kreisen ist jedoch zu hören, dem Bürgenstock komme dabei entgegen, dass er während der Coronazeit als Ausweichstandort für das Weltwirtschaftsforum in Davos vorgesehen war. Die Gründe: wesentlich isolierter und überschaubarer als der gediegene Graubündner Wintersportort.
Das Schweizer Militär will für die Ukraine-Konferenz rund 4000 Mann aufbieten
Zur Standortverlegung kam es zwar nicht. "Aber auf die ganzen seinerzeit entworfenen Sicherheitspläne konnte zurückgegriffen werden. Das ist natürlich komfortabel", erzählt ein Polizist unter der Hand. Er und seine Kolleginnen und Kollegen müssen übers Wochenende Sonderschichten schieben. Das Militär will rund 4000 Mann aufbieten. Schon jetzt stöhnen Soldaten beim Aufbau der 6,5 Kilometer langen Schutzzäune. "Der Feierabend ist knapp bemessen", sagt einer der Uniformierten.
Unterhalb des Hotelkomplexes auf Höhe von Obbürgen verwandeln sie blühende Wiesen mithilfe von Stahlmatten in einen Hubschrauberlandeplatz. Zumindest der exklusivste Gästekreis wird nämlich vom Flughafen Zürich per Heli-Shuttle eingeflogen. Vorausgesetzt, die Wolken hängen nicht hinderlich tief. Denn dann müssten als Hubschrauberersatz dicke Diplomatenlimousinen das kurvige Bergsträßchen bewältigen – eine Herausforderung an die Mägen der Transportierten.
Möglicherweise kann der Obbürgener Pfarrer Strancich aber auch hier mit Gebeten unterstützend eingreifen. Er will ja laut seiner Ankündigung den Allmächtigen um verhandlungsfitte Politiker bitten.
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Da kann man den Gästen nur einen angenehmen Aufenthalt wünschen. Gut Essen und Trinken ist sicher gestellt in auserlesenem Ambiente. Ob die Ergebnisse der Konferenz den hochtrabenden Erwartungen des UA Präsidenten entsprechen darf infrage gestellt werden. Eben eine neue Solidaritätsveranstaltung mit gegenseitigem auf die Schulter klopfen. Es besteht die Gefahr dass das Resümee am Ende ist "Ausser Spesen nichts gewesen". Meine unfrommen Wünsche für den Verlauf der Tagung.
Woher diese Gehässigkeit, Jochen? Warum bedenken sie nicht mal den Kreml damit, zum Beispiel den komplett durchgeknallten Ex-Präsidenten, der sich kürzlich dazu verstieg, Clooney Folter anzudrohen? Na? Warum nicht, Jochen?