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Türkei: Griechenland und die Türkei: Das Feuer machte sie zu Feinden

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Griechenland und die Türkei: Das Feuer machte sie zu Feinden

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    So oder so ähnlich muss es damals ausgesehen haben, als ganz Turgutlu in Flammen stand.
    So oder so ähnlich muss es damals ausgesehen haben, als ganz Turgutlu in Flammen stand. Foto: Boris Roessler, dpa (Symbolfoto)

    Es will ihm partout nicht in den Kopf gehen, es übersteigt seine Fantasie. "Stellen Sie sich das vor", sagt Mehmet Gökyayla: "Sie sollen mit Menschen zusammenleben, die Ihr Haus niedergebrannt haben, die Ihre Mutter und Ihre Kinder ermordet und Ihre Frau vergewaltigt haben." So sei der Krieg gewesen, sagt der Lokalhistoriker, der im Garten einer Villa im westtürkischen Turgutlu unter Eukalyptusbäumen sitzt und vom griechisch-türkischen Krieg von 1919 bis 1922 erzählt. Anderswo in der Welt längst vergessen, wirft der Krieg hier an der Ägäis nach hundert Jahren noch immer seinen Schatten auf die Gegenwart. "Deshalb konnten die Griechen nicht hier bleiben, als der Krieg vorbei war", sagt Gökyayla über die griechische Minderheit von

    Heute bemühen sich die Türkei und Griechenland um bessere Beziehungen: Am kommenden Dienstag kommt der neue griechische Außenminister George Gerapetritis zu seinem Antrittsbesuch in die Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis setzten sich im Juli am Rande des Nato-Gipfels zusammen und wollen sich in wenigen Wochen bei der UN-Vollversammlung in New York noch einmal treffen. Die Luftwaffen beider Länder verzichten seit Monaten auf provokative Manöver über der Ägäis. Doch das Erbe der Zeiten, in der sich Türken und Griechen gegeneinander viel Leid antaten, verschwindet damit nicht einfach.

    Kyriakos Mitsotakis, griechischer Ministerpräsident.
    Kyriakos Mitsotakis, griechischer Ministerpräsident. Foto: Petros Giannakouris, AP/dpa

    Die Geschichte der Kleinstadt nahe Izmir geht bis auf die Antike zurück, doch historische Sehenswürdigkeiten sucht man hier vergeblich; außer schäbigen Wohnblöcken und Zweckbauten gibt es nicht viel zu besichtigen. Das war nicht immer so, sagt Gökyayla. "Hier sah es vor gut hundert Jahren noch ganz anders aus, da waren hier andere Häuser, andere Straßen, andere Stadtviertel", erzählt der Lokalhistoriker. "Hier, wo wir jetzt stehen, da stand damals die Mittelschule für Mädchen, da vorne war eine prächtige Moschee, und daneben stand die größte Bibliothek der gesamten Region – auch sie wurde von den Griechen in Brand gesteckt." Drei Tage lang wütete in Turgutlu der Großbrand, den griechische Soldaten bei ihrem Abzug aus der Stadt am 4. September 1922 legten. Als die Flammen sich erschöpft hatten, lag Turgutlu in Schutt und Asche. Von 6000 Häusern standen nur noch 200; tausende Menschen waren tot – wie viele genau, weiß man bis heute nicht.

    Griechische Truppen hatten Turgutlu am 29. Mai 1919 eingenommen. Ermuntert von der Weltkriegs-Siegermacht Großbritannien, griffen die Griechen damals in West-Anatolien an, das zum geschlagenen Osmanischen Reich gehörte. Drei Jahre später starteten die Türken unter dem späteren Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk eine Gegenoffensive, die im September 1922 mit der griechischen Niederlage endete. Die Griechen und Griechinnen nennen den Konflikt die "kleinasiatische Katastrophe" – die Türken feiern ihn als "nationalen Befreiungskrieg".

    Der Brand strukturierte die Zeitrechnung neu

    1,5 Millionen griechische Menschen in Anatolien und eine halbe Million Türken im heutigen Griechenland mussten einst ihre Heimat verlassen. Das Leiden der griechischen Bevölkerung bei der Vertreibung ist relativ gut dokumentiert, setzte in Griechenland doch damals schon ein intensiver Aufarbeitungsprozess ein; die Türkei schwor dagegen auf Verdrängung und Vergessen. Das Trauma lebte aber im Bewusstsein der Bevölkerung von Turgutlu fort, erzählt Gökyayla, auch in seiner eigenen Familie. "Wenn ich meine Großmutter frage, wie alt sie ist, dann sagt sie: 'Beim Brand war ich sechs Monate alt.' Oder wenn in Turgutlu über Grundbesitz gesprochen wird, dann heißt es: 'Wir haben dieses Feld drei Jahre vor dem Brand gekauft.'"

    Jahrzehnte dauerte es nach dem Krieg, bis hier eine neue Stadt auf die Beine kam, und schön ist sie nie geworden. Ein hübsches Gebäude gibt es im neuen Turgutlu immerhin, eine Fabrikantenvilla aus dem Jahr 1925 – eines der ältesten Häuser der Stadt. Die Gemeinde hat es vor ein paar Jahren gekauft, restauriert und ein Stadtmuseum darin eröffnet; es ist das erste und bisher einzige Heimatmuseum in der Türkei, das sich diesem Kapitel der Geschichte widmet. Museumsdirektor Mehmet Gökyayla will die Ausstellung nicht als anti-griechische Propaganda-Schau verstanden wissen. "Wir wollen Schulkindern zeigen, wie furchtbar der Krieg war, aber wir wollen keine Feindschaft gegen andere Volksgruppen bei ihnen nähren. Denn bis zum Krieg lebten jahrhundertelang alle hier zusammen – sie waren Nachbarn, trieben Handel und hatten keine Probleme miteinander", sagt Gökyayla, der Besucherinnen und Besucher persönlich durch die Räume führt.

    Lokalhistoriker Mehmet Gökyayla hat ein Museum aufgebaut, das die Gräben in Turgutlu überwinden will.
    Lokalhistoriker Mehmet Gökyayla hat ein Museum aufgebaut, das die Gräben in Turgutlu überwinden will. Foto: Susanne Güsten

    "Kopf einziehen", heißt es beim Eintreten durch die niedrige Tür, dann steht man in einer Gasse von Turgutlu, wie es einmal war. Drei Wohnhäuser und zwei Geschäfte sind hier nachgebildet – eine Schmiede und eine Werkstatt für Pferdewagen. "In dieser Gasse ist die Zeit eingefroren am Abend des 4. September 1922 um zwanzig nach acht – der Augenblick, als das Feuer begann." Der Blick fällt zuerst auf einen Soldaten, der auf ein Haus zugeht – eine mannshohe Schaufensterpuppe in der Uniform der griechischen Armee von 1922. In der Hand trägt er einen Benzinkanister. "Hier sehen wir einen griechischen Soldaten vor dem Haus, an der Hauswand dahinter sehen wir die Schatten von zwei weiteren Soldaten", erklärt der Museumsdirektor. "Die drei sind ein Brandschatzungskommando der griechischen Armee – das waren immer Teams von drei Mann. Sie gingen von Haus zu Haus, von Gasse zu Gasse und sorgten dafür, dass kein Haus verschont blieb, dass alle Häuser in Brand gesteckt wurden."

    "Hände hoch", schallt es auf Griechisch aus einem Lautsprecher, wenn Besucher in das erste Wohnhaus eintreten. Ein verängstigt blickendes Puppen-Paar sitzt hier beim Abendessen in der Küche, in der Tür steht ein griechischer Soldat und zielt mit dem Gewehr auf Mann und Frau. Die Nachstellung zeige ein historisch verbrieftes Ereignis, sagt Gökyayla, als Menschen beim Abendessen ermordet worden seien. "Die griechischen Soldaten zündeten die Häuser an, sie warfen Bomben hinein, sie stürmten in die Häuser und erschossen die Familien darin", sagt er. "Die Gewalt dauerte zweieinhalb Tage."

    Im Museum ist die Brandstiftung durch griechische Soldaten dokumentiert.
    Im Museum ist die Brandstiftung durch griechische Soldaten dokumentiert. Foto: Susanne Güsten

    Die oberen Etagen des Museums sind anderen Themen der Stadtgeschichte gewidmet – der Eisenbahnanbindung etwa und dem Rosinenhandel. Erst im letzten Raum oben unter dem Dach kommt das Museum wieder auf die Griechen zurück, diesmal mit anderem Fokus. Bilder der Kirchen im früheren Turgutlu werden hier zusammen mit historischen Aufnahmen seiner Moscheen gezeigt, in einem Schaukasten liegen eine alte Bibel und eine Tora neben dem Koran, an der Wand hängt ein traditionelles Hochzeitsgewand, wie es früher alle Bräute in Turgutlu trugen – Christen ebenso wie Muslime. Wie überall im Osmanischen Reich hatten die nicht muslimischen Minderheiten allerdings auch in Turgutlu den Status von Bürgern zweiter Klasse. Viele Christen hier begrüßten daher den Einmarsch der griechischen Armee in ihrer Stadt im Mai 1919. "Als die griechische Armee auf der Hauptstraße von Turgutlu einmarschierte, säumten die ortsansässigen Griechen ihren Weg, sie schwenkten Fahnen und jubelten den Soldaten zu", erzählt Gökyayla. "Sie freuten sich, weil sie nun obenauf waren in der Stadt."

    Rund 23.000 Einwohner hatte Turgutlu bis dahin, zählt Gökyayla auf, davon waren etwa 4000 Griechen. Die griechischen Bewohner flohen beim Abzug ihrer Armee mit ihr aus der Stadt: mit Militärtransporten, mit der Eisenbahn, per Pferdewagen oder zu Fuß. Als die türkische Armee am 7. September 1922 in Turgutlu einzog, waren keine zehn Christen mehr da. Die Griechen folgten dem Gebot der Stunde, meint Gökyayla: "Manche hatten sich freiwillig zur griechischen Armee gemeldet, alle übrigen Griechen von Turgutlu hatte die griechische Armee in der letzten Kriegsphase zwangsverpflichtet. Wie hätten diese Männer und ihre Familien den Menschen hier noch ins Gesicht sehen können? Unmöglich. Deshalb mussten sie fort." Beim Bevölkerungsaustausch wurden an ihrer Stelle später Muslime aus Griechenland in Turgutlu angesiedelt, die inzwischen in der Bevölkerung der Stadt aufgegangen sind. Von den geflohenen Griechen ist, soweit der Museumsdirektor weiß, nie wieder einer nach Turgutlu zurückgekehrt.

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