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Türkei: Ein Jahr nach dem Erdbeben: „Für mich ist jeder Tag der 6. Februar"

Menschen gehen nach dem Erdbeben im Februar 2023 durch die türkische Stadt Hatay. Bei der Katastrophe starben zehntausende Menschen.
Türkei

Ein Jahr nach dem Erdbeben: „Für mich ist jeder Tag der 6. Februar"

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    Rusen Karakaya trägt Trauer: schwarzes T-Shirt, schwarze Jeans und schwarze Turnschuhe, die schwarzen Haare hochgesteckt, die Augen gerötet. Um den Hals trägt sie ein Goldkettchen mit einem goldenen Schriftzug: Selin – der Name ihrer Tochter, die beim Erdbeben in der Türkei vor einem Jahr getötet wurde. Die Zeit heile gar nichts, erzählt die Hochschullehrerin ein Jahr nach der Katastrophe: „Ich wache immer am selben Tag auf: am 6. Februar. Wenn ich die Augen öffne, ist die Erinnerung da. Ich blicke in das Zimmer meiner Tochter, und es ist leer.“ Ihr Leben sei vorbei, sagt Karakaya. Aber ihr Kampf habe erst begonnen. 

    Ein Jahr ist es her, dass Rusen Karakaya ihre Tochter zum letzten Mal umarmte. Am 3. Februar 2023 war das, als Selin vor ihrer Schule in Famagusta im türkischen Teil von Zypern in einen Bus zum Flughafen kletterte. Freudige Aufregung herrschte in dem Bus, der voller Kinder war: 24 Volleyball-Spielerinnen und Spieler im Alter von 12 bis 15 Jahren; außerdem eine kleine Schwester, die mitreisen durfte, ein jugendlicher Hilfstrainer und 13 Erwachsene: Lehrer, Trainer und einige Eltern als Aufsicht. Ihr Ziel: das Halbfinale der türkischen Volleyball-Meisterschaften im südtürkischen Adiyaman. 

    Nach dem Erdbeben ist vom Hotel in Adiyaman nur noch Schutt übrig

    Das Team kam am frühen Abend in Adiyaman an, wo die Schule ein Hotel gebucht hatte, erzählt Rusen Karakaya im Vereinsheim von Selins Volleyballmannschaft in Famagusta, das mit Trophäen und Bildern der toten Kinder geschmückt ist. „Ich hatte mir das Hotel vorher auf Google angesehen. Da waren Fotos und Bewertungen, das sah alles gut aus, und so sagten wir, in Ordnung, das scheint tatsächlich das beste Hotel in Adiyaman zu sein. Als Selin sich bei der Ankunft meldete, habe ich sie nur gefragt, ob das Hotel sauber ist.“ Karakaya schluchzt auf: „Das ist alles, was ich gefragt habe: ob es sauber ist...“ 

    Isias hieß das Hotel. Grand Isias Hotel. Die Bilder und Bewertungen, die Rusen Karakaya und ihr Mann Enver damals betrachteten, sind heute noch im Internet zu sehen, auch wenn in Wirklichkeit nur noch Schutt dort liegt: ein zehnstöckiger Bau mit verspiegelter Fassade und vier Sternen, ein helles Foyer, großzügige Zimmer mit modernen Bädern. Selin bezog mit ihren drei besten Freundinnen ein Zimmer. 

    Die letzte Nachricht der Mutter: "Gute Nacht, Selin, ich liebe dich"

    „Am Abend des 5. Februar haben wir getextet, und ich habe gefragt, willst du per Facetime reden?“, erzählt Karakaya. „Sie antwortete, Mama, ich bin müde und gehe schlafen, wir sprechen uns morgen. Sie schrieb mir gute Nacht, Mama, und ich schrieb gute Nacht, Selin, ich liebe dich.“ Karakaya kommen wieder die Tränen. „Ich habe sie nicht mehr gesprochen an dem Abend, das bereue ich so sehr.“

    Rusen Karakaya mit ihrer Tochter Selin.
    Rusen Karakaya mit ihrer Tochter Selin. Foto: Rusen Karakaya

    Es war ihr letzter Kontakt zu ihrer Tochter, die eine Woche zuvor 14 Jahre alt geworden war. Um 4.17 Uhr am 6. Februar erschüttert ein gewaltiges Erdbeben der Stärke 7,8 die Südosttürkei rings um Adiyaman. Auch Nordsyrien ist betroffen. Erst später wird das dramatische Ausmaß bekannt: Rund 60.000 Menschen starben, davon 53.496 in der Türkei. 

    Als die Erde bebte, war es auf Zypern 3.17 Uhr; bis dorthin war die Erschütterung zu spüren. „Ich bin von dem Beben aufgewacht, mein Mann sagte, los, raus, ich griff nach dem Telefon, rannte in den Garten und rief Selin an. Sie ging nicht dran. Ich rief wieder an und wieder und wieder. Nichts.“ Karakaya und ihr Mann versuchten, die Lehrer und Trainer anzurufen, die mitgereisten Eltern, doch nirgends bekamen sie auch nur ein Klingelzeichen. 

    Die Väter graben mit den nackten Händen nach den verschütteten Kindern

    Die Karakayas fuhren zum Flughafen. „Immer mehr Eltern kamen an, Flüge wurden gestrichen, alles schrie und weinte. Wir haben alle herumtelefoniert, die Regierung, den Präsidenten, alle, und haben um ein Rettungsflugzeug gefleht.“ Es wurde Nachmittag, bis ein Flugzeug mit einer Rettungsmannschaft startklar war. Die Väter durften mitfliegen, die Mütter nicht. Enver Karakaya flog in die Türkei, seine Frau musste nach Hause zurückkehren.

    „Ich habe keine Sekunde gedacht, dass Selin tot sein könnte“, erzählt Karakaya über die folgenden Stunden. „Ich habe nur gebetet, dass sie vorsichtig ist, dass sie sich nicht verirrt und nicht mit Fremden spricht.“ Dann rief ihr Mann an. „Er sagte: Ich bin angekommen – aber hier ist nichts mehr.“ Statt des Hotels fanden Enver Karakaya und die anderen Väter und Helfer aus Zypern in der Stadtmitte von Adiyaman nur noch einen Schutthaufen. Als wäre ein riesiger Eimer voller Sand umgestülpt worden, so beschrieb später ein Gutachter die Einsturzstelle des Hotel Isias. 

    „Enver hat mich angerufen und gesagt, wir graben mit den nackten Händen“, erzählt Karakaya. „Vielleicht ist irgendwo da drin ein Hohlraum, in dem einige Kinder am Leben sind.“ 

    Keines der Kinder überlebte das Erdbeben

    Es gab keinen Hohlraum. Keines der Kinder überlebte. Selin und ihre drei Freundinnen wurden am 11. Februar ausgegraben. „Enver hat mich angerufen. Er sagte, ich habe sie gefunden. Sie trug die Socken, die sie so liebte...“ Rusen Karakaya ringt nach Atem. „Die Kinder wurden in Särgen heimgebracht“, sagt sie mit erstickter Stimme. „Und wir haben unsere 14-Jährige beerdigt.“

    Rasch wurde die Frage laut, warum das Hotel Isias beim ersten Erdstoß in sich zusammensackte, während andere Gebäude ringsum stehen blieben. „Es war Mord“, sagt Rusen Karakaya. „Sie haben sich nicht um die Gesetze geschert. Sie haben sich nicht an die Bauvorschriften gehalten. Sie haben die Behörden geschmiert. Alles, um Gewinn und Geld zu machen. Sie waren gierig. Sie sind Mörder.“

    Das Hotel war ein Paradebeispiel für Pfusch am Bau

    Sie – damit meint Karakaya den Hotelbesitzer und Bauherren, die Architekten und Ingenieure und die Bauaufsichtsbehörden bis hinauf zur türkischen Regierung, die Bausünden gegen Geld mit einer Amnestie legalisierte. Denn das Hotel Isias, so stellte sich heraus, war ein Paradebeispiel für den in der Türkei verbreiteten Pfusch am Bau. 1992 als Wohnblock geplant, blieb das Gebäude jahrelang als Rohbau stehen. Erst ein Jahrzehnt später wurde es fertig gebaut und als Hotel genehmigt, obwohl sich seither die Bauvorschriften geändert hatten. Gutachten zufolge wurde beim Bau minderwertiges Material verwendet. Zuletzt wurde noch ein ungenehmigtes Stockwerk aufgesetzt und bei der Bau-Amnestie im Jahr 2018 legalisiert. 

    Blick auf die heutigen Überreste des Hotel Isias.
    Blick auf die heutigen Überreste des Hotel Isias. Foto: Susanne Güsten

    „Wir können das nicht als Schicksal hinnehmen und unser Leben einfach weiterleben“, sagt Karakaya. „Wir werden Gerechtigkeit für unsere Kinder erkämpfen.“ Dafür schlossen sich die zyprischen Eltern zu einem Verein zusammen, dessen Vorsitzende sie nun ist. Die Anwaltskammer von Nordzypern vertritt den Verein "Pro Bono", auch die Regierung hilft. Die Gesichter der 26 getöteten Kinder kennt in

    Am 3. Januar begann der Prozess gegen den Besitzer des Hotels

    Ein kultureller Unterschied ist das zur Türkei. In der türkischen Erdbebenregion habe er beobachtet, dass die Menschen das Erdbeben als Schicksal hinnehmen, berichtet der Anwaltskammervorsitzende Hasan Esendagli in seinem Büro im türkischen Sektor der Hauptstadt Nikosia. „Das ist bei uns anders: Die Gesellschaft verfolgt die Ermittlungen genau und erwartet ein Ergebnis.“ 

    Am 3. Januar dieses Jahres wurde in Adiyaman der Prozess gegen den inhaftierten Besitzer des Hotel Isias und zehn weitere Angeklagte eröffnet, darunter der Architekt und der Ingenieur. "Bewusste fahrlässige Tötung" lautet der Vorwurf der Staatsanwaltschaft, eine Eigenheit des türkischen Strafrechts, auf die bis zu 22,5 Jahre Haft stehen. Die Angehörigen der getöteten Kinder waren entgeistert; als Nebenkläger in dem Prozess fordern sie die Verurteilung wegen vorsätzlicher

    Per Videoschalte wies der Hotelbesitzer in der Verhandlung alle Schuld von sich. Wenn es kein so starkes Erdbeben gegeben hätte, dann wäre sein Hotel nicht eingestürzt, sagte er. Das Gericht vertagte sich auf den 26. April. Anwaltskammerchef Esendagli sieht die weiteren Aussichten nüchtern. “Wenn wir uns ähnliche Fälle in der türkischen Rechtsprechung ansehen, dann finden wir keine Gerichtsurteile, in denen die verantwortlichen Personen mit hohen Strafen, mit abschreckenden Strafen, belegt wurden – die Bilanz der Türkei ist da nicht gut”, sagt Esendagli.

    Ein Jahr nach dem Erdbeben werden noch immer Ruinen abgerissen

    In Adiyaman hat sich der Staub noch nicht gelegt. Ein Jahr nach dem Beben werden noch immer Ruinen abgerissen, Zehntausende Menschen hausen in Notunterkünften. In einer Klinik am Stadtrand behandelt der Arzt Ismail Tosun die Bewohner der umliegenden Containerlager, die unter der Kälte leiden, der asbestbelasteten Luft und dem verseuchten Wasser. Tosun ist Vorsitzender der Ärztekammer von Adiyaman und hat seine Befürchtungen, was den Isias-Prozess angeht. “Tausende weitere Gebäude sind eingestürzt – was ist mit denen?”, fragt der Arzt. “Wenn es immer nur um Isias geht, dann wird es leider wieder damit enden: Die Bauherren vom Isias werden zu hohen Strafen verurteilt, alle anderen werden laufen gelassen. Das war schon beim Erdbeben von Izmit 1999 so – da wurde ein einziger Bauunternehmer verhaftet und medienwirksam verurteilt, und alle anderen kamen davon. So wie es aussieht, wird es in Adiyaman genauso laufen.”

    Isias solle ein Präzedenzfall werden, hofft dagegen Rusen Karakaya; das sei das Einzige, was sie noch vom Leben wolle. „Mein Leben drehte sich um Selin, für sie habe ich gelebt“, sagt die Mutter. „Nun dreht es sich um diesen Kampf, denn sonst habe ich nichts mehr – kein Kind, keine Ziele und keine Hoffnungen.“ Nur das Streben nach Gerechtigkeit für Selin erhalte sie noch aufrecht. „Wenn ich sie einst im Himmel wiedersehe, dann soll sie auf mich stolz sein können. Deshalb muss ich stark bleiben und kämpfen.“ 

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