Pioniere benötigen manchmal nicht viel mehr als Mut, Tatkraft und pures Gottvertrauen. Den Anfängen ist selten anzusehen, was einmal aus ihnen erwachsen wird. So war das auch bei Hedi und Hans Lingg in Oberstaufen. Die beiden packten einfach an. Einen Bergbauernhof hatten sie einmal, neun Kühe, zwei Schweine, ein Ross, dazu Wiesen und Wälder, mit denen damals aber – im Gegensatz zu heute – nicht viel anzufangen war. Heute sitzt das ältere Ehepaar am Holztisch in der Stube des Hotels Bergkristall in Oberstaufen, in ihrem Rücken viele Schwarz-Weiß-Bilder. Familienbilder. Aber auch Stationen, wie aus dem Bauernhof innerhalb von 50 Jahren ein luxuriöses Wellnesshotel wurde.
Wie im Hotel Bergkristall in Oberstaufen alles begann
Goldene Zeiten waren es in den 50er und 60er Jahren für den Tourismus. Wirtschaftswunderjahre. Aufbruchstimmung. Man wollte sich nach den harten Aufbaujahren was gönnen. Und doch waren die Anfänge bescheiden. Die ersten Neugierigen wagten sich über den Brenner nach Italien. Andere zog es in die Berge. Bauern stellten ihre Wiesen für Zeltgruppen zur Verfügung, so mancher große Campingplatz ist so entstanden. Andere richteten ein Zimmer im Haus für die Fremden her, mancherorts mussten dafür die Kinder ins Heu ausweichen. Und Touristinformationen hießen damals noch Fremdenverkehrsbüros.
Auch die Linggs wollten als junges Paar vom aufkeimenden Tourismus in Oberstaufen profitieren. Das Kurheim zog viele Urlauber an. Und die Schrothkur natürlich. Der Bergbauernhof der Linggs im Ortsteil Willis, nur zwei Kilometer entfernt vom Ortskern Oberstaufens, war das ideale Ausflugsziel. Ohnehin fragten immer wieder mal Leute an, ob sie auf dem Hof nicht etwas zu trinken bekommen könnten. Hedi und Hans erkannten ihre Chance. So haben die Linggs begonnen, neben der Arbeit auf dem Bauernhof Gäste zu empfangen. "Wir haben uns das einfach zugetraut", sagt Hedi Lingg, brauner Kurzhaarschnitt, Brille, fesche Bluse. "Wir hatten einfach diesen Mut."
Und manchmal, wenn die 81-Jährige erzählt, meint man so etwas wie ein ungläubiges Staunen herauszuhören, was diesem ersten Schritt alles folgte. Doch in erster Linie bedeutete dieser für die Familie sehr viel Arbeit. Hedi schmiss die Küche und managte die vier Söhne. Der heute 86-jährige Hans trieb den Hof um und sorgte für den Spaß der Gäste. Für ihn als Musikant und Vorplattler im Trachtenverein, der Auftritte in Volkszelten gewohnt war, kein Problem. Bald gab es zünftige Jodlerabende. Bis Mitternacht ging das oft so. Und am nächsten Morgen mussten wieder die Tiere versorgt werden.
Aber es war ein Erfolg vom ersten Moment an. 1967 war es, als das Bergstüble öffnete. Dafür wurde der Wohnteil des alten Bauernhofs abgerissen und ein neues Gebäude erstellt. Der Besuchermagnet? Hedis Kuchen. Vor allem der Sauerkirschkuchen. "Mei, davon habe ich tausende gebacken." Fast ihr Leben lang stand Hedi jeden Morgen spätestens um fünf Uhr in der Küche, um vier bis acht Kuchen zu backen. Dann mussten die vier Söhne für die Schule fertiggemacht werden. Und kurz darauf kamen schon die Köche. Und der Tag im Bergstüble nahm seinen umtriebigen Lauf.
Weil Leute öfters wegen einer Übernachtung anfragten, wurden Fremdenzimmer eingerichtet. Mit Bad und Toilette. Nicht auf dem Gang. Sondern im Zimmer. Das war damals so fortschrittlich, dass es in Oberstaufen für Gesprächsstoff sorgte. Es war aber auch der Ursprung des heutigen Hotelbetriebs. 1985 hatte das Bergstüble schon 40 Betten. Die Linggs haben einfach immer weitergemacht. Vor zwei Jahren erst hat Hedi aufgehört, Kuchen für das Hotel zu backen. Urlaub? Zweimal waren die Linggs in Ellmau. Sonst haben sie anderen Ferien ermöglicht.
Heute: Der Tourismus im Allgäu ist auf Rekordhöhen
Tourismus hat sich verändert, ist professioneller geworden. Das Allgäu fuhr in den letzten Jahren einen Rekord nach dem anderen bei den Übernachtungszahlen ein, wird oft von Ausflüglern überrannt. Orte haben Marketingkonzepte erarbeitet und sich Profile gegeben. Für die Urlauber gibt es Sommerrodelbahnen, Bergroller-Abfahrten und was nicht alles. Liftbetriebe wurden Aktiengesellschaften, die gewinnoptimiert arbeiten müssen. Doch Tourismus wird nicht mehr nur positiv als Wirtschaftsfaktor und Arbeitgeber gesehen. Manchem ist es zu viel. Overtourism war das Schlagwort, bevor die Corona-Pandemie alles änderte.
Hans-Jörg Lingg, graue gewellte Haare, Trachtenweste, Jeans, dazu schicke braune Lederboots, steht unter dem großen Baldachin des Hotels und plaudert mit Gästen. Neuankömmlinge führt er immer zuerst an der Lobby vorbei vor die Glasscheibe des neuen "Panorama-Restaurants". Dieser Bergblick! Die Gäste sollen erst mal staunen. Der Hochgrat in der Ferne, im Dunst der Säntis in den Schweizer Bergen, davor die sanft bewaldeten Allgäuer Berge. Ein Wow-Effekt. Und unten rechts steht ein echter Platzhirsch: Hansi, 14 Jahre alt, ein 20-Ender. Der Star des Hotels, zum Bergkristall gehört auch ein Wildgehege.
Hans-Jörg Lingg hat nach seinen Wanderjahren als Koch in den 90er Jahren das Hotel von seinen Eltern übernommen. Mit seiner Frau Sabine, die ebenfalls vom Fach ist, überlegte er, was man Eigenes aus dem Bergstüble machen könnte. Wellness war damals der große neue Trend im Tourismus. Das junge Ehepaar schaute sich in Österreich um, wo erste Hotels schon Ideen mit Erfolg umgesetzt hatten, besuchte Seminare und wusste schließlich: Das wird ihr Ding. 1995 war das Bergstüble Geschichte. Die Linggs eröffneten das Vier-Sterne-Hotel Bergkristall mit 65 Betten, samt Schwimm- und Heubad, Saunen und Wasserbetten – allem eben, was damals so dazugehörte.
Das Paar zählte zu den Wellness-Pionieren im Allgäu. Das neue Haus kam bei den Urlaubern gut an. Und doch denkt der 58-Jährige Hotelchef nicht gerne an diese Zeit zurück. Die Finanzierung war auf falsche Beine gestellt. Das Hotel lief, doch hängen blieb nichts. "Wir haben einfach nur geschuftet", sagt Lingg. "Wenn du viel selber machst, hast du keine Kosten." Küche, Gästebetreuung, dann wieder Küche, dann schnell umzogen und weiter bis zum Schluss an der Bar. Sabine an der Rezeption und omnipräsente Hausdame. Harte zehn Jahre. Oft am Rand des Abgrunds. Heute, auf der Terrasse des Restaurants sitzend, sagt er: "Das hat uns aber auch stark gemacht." 2006 wurde das Bergkristall auf 100 Betten erweitert. Früher war das Sofa im Zimmer wichtig, plötzlich mussten die Bäder groß sein. Die Zimmer auch. Bis zu 55 Quadratmeter haben sie nun. "Eine ganz neue Gästeklientel" konnten die Linggs dadurch ansprechen. Die Winterpause ab November gab es längst nicht mehr. Die Wellnessgäste kamen das ganze Jahr, hatten aber auch höhere Ansprüche im Gepäck: größere Saunen, Indoorpool, Outdoorpool, Ayurveda, Behandlungskabinen für kosmetische Anwendungen und eine Wellness-Rezeption folgten. 16 Mitarbeiter arbeiten nun allein im Spa-Bereich. 25 Jahre gibt es mittlerweile das Bergkristall, heute hat es 133 Betten und 115 Mitarbeiter. Durchschnittlich eine Million Euro hat Lingg im Jahr für Baumaßnahmen ausgegeben. "Ich habe fünf Mal groß gebaut", sagt er. Denn Stillstand dürfe man sich nicht leisten.
So soll es im Hotel im Allgäu weitergehen
Im digitalen Zeitalter geht es im Tourismus auch viel um Selbstinszenierung. Für Urlauber und Gastgeber gleichermaßen. Schon jetzt ist es von Vorteil, wenn Reiseziele instagramable sind. Irgendwie paradox: Im Urlaub wollen viele aber digital Detox, digitale Entgiftung, die ständige Erreichbarkeit abschalten. Entschleunigen! Zukunftsforscher haben einen Trend zur Langsamkeit ausgemacht: Slowtravel als Pendant zu Slowfood. Zuletzt kam noch ein anderes Schlagwort auf: Staycation. Urlaub zu Hause oder in der Heimat verbringen und gleichzeitig dadurch bewusst den Ausstoß von Kohlendioxid einsparen. Corona hat die Zukunft ungewiss gemacht. Der Tourismus aktuell befindet sich in einer nie da gewesenen Krise. Die Probleme der vergangenen Jahre, Overtourism und ökologische Neuausrichtung, spielen dabei noch nicht mal eine Rolle. Im Gegensatz zu den großen Tourismusplayern, die um ihre Existenz kämpfen, können etwa Hotels, Pensionen oder Campingplatzbesitzer zuversichtlicher in die Zukunft schauen. Viele Urlauber blieben in diesem Corona-Sommer in Deutschland, Verluste konnten dadurch abgefedert werden.
Im Bergkristall ist die nächste Generation schon am Start. Sebastian, 29, frisch verheiratet mit Janina, kümmert sich um die Digitaliserung. Sein Bruder Johannes, 26, arbeitet als Barkeeper. Die Minze für seine Cocktails holt er übrigens aus Oma Hedis Kräutergarten. Längst sind die Söhne an der Weiterentwicklung des Hotels beteiligt. Schon vor Jahren hat er mit einem Architekten eine Art Zukunftspapier entworfen: die Bergkristall-Vision. Alles, von Wünschen bis zu Hirngespinsten, wurde da hineingeschrieben. "Ich bin gerne vorbereitet", sagt Hans-Jörgg Lingg. Ein paar Suiten würde er gerne noch anbauen. Oder die parkenden Autos unter einem grünen Dach verstecken. Auch über Chalets hat er nachgedacht. Doch die möglichen Folgen der Pandemie geben ihm zu denken. "Jetzt liegen wir knapp unter dem Vorjahresergebnis", sagt Lingg. Doch was, wenn der Nachholbedarf an Auslandsurlauben groß ist? "Dann trifft das meine Söhne."
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