Startseite
Icon Pfeil nach unten
Bayern
Icon Pfeil nach unten

Jugendkriminalität: Streetworker: "Viele haben überhaupt kein Mitgefühl"

Jugendkriminalität

Streetworker: "Viele haben überhaupt kein Mitgefühl"

    • |
    Streetworker in Bayern beobachten, dass die Gewaltbereitschaft bei Kindern und Jugendlichen zunimmt. Vielen von ihnen seien die Folgen ihres Tuns gar nicht bewusst, heißt es.
    Streetworker in Bayern beobachten, dass die Gewaltbereitschaft bei Kindern und Jugendlichen zunimmt. Vielen von ihnen seien die Folgen ihres Tuns gar nicht bewusst, heißt es. Foto:  Oliver Berg, dpa (Symbolbild)

    Herr Pleines, Sie sind Mitglied der Landesarbeitsgemeinschaft Streetwork Bayern. Was ging in Ihnen vor, als Sie von dem Fall in Immenstadt hörten, bei dem ein 17-Jähriger einen Obdachlosen verprügelt haben soll? Das Opfer ist später gestorben.

    Jan Pleines: Wir haben im Streetwork-Kreis sehr viel über diesen Fall gesprochen. In seiner ganzen Härte gehört er sicher zu den Einzelfällen, aber er passt leider auch in die große Entwicklung, die wir sehen: Die Gewaltbereitschaft der Kids nimmt deutlich zu. Es wird heute viel schneller zugeschlagen. Und die

    Was beobachten Sie genau?

    Pleines: Früher haben sich die Jungs beispielsweise zum Fußballspielen verabredet, heute verabreden sich schon 13-, 14-Jährige zum Schlägern. Was besonders erschreckend ist: Viele haben überhaupt kein Mitgefühl. Es wird nur darauf geschaut, wie es mir selbst geht, und mir muss es gut gehen. Da muss man aber dazusagen: Diese Ichbezogenheit, diese Rücksichtslosigkeit erleben die Kids natürlich in unserer Gesellschaft, das kommt nicht aus dem Nichts.

    Haben Sie ein Beispiel?

    Pleines: Einer meiner Jungs sitzt im Gefängnis, weil er bei Schockanrufen mitgemacht hat.

    Bei denen Menschen um viel Geld betrogen werden ...

    Pleines: Genau. Und als im Gerichtssaal ein Opfer erzählt hat, wie schlimm das alles für ihn war, hat der Junge nur gesagt: "Wenn jemand so dumm ist …" Den hat es überhaupt nicht interessiert, wie es dem Opfer geht.

    Kommt man denn an die Jugendlichen noch heran?

    Pleines: Man kommt an viele Jugendliche sogar sehr gut heran, vor allem wenn man länger vor Ort arbeitet und gute Beziehungen zu ihnen aufgebaut hat. Die Kids kommen dann auch von sich aus zu einem, haben großes Vertrauen und erzählen von ihren Problemen, holen sich Hilfe. Einzelgespräche werden immer stärker bei uns nachgefragt, die Kids kommen also wirklich zu unseren Bürozeiten. Sie wissen ja auch, dass wir eine Schweigepflicht haben.

    Sprechen Sie dann die Gewaltbereitschaft direkt an?

    Pleines: Wir machen die Kids vor allem auf die möglichen Folgen aufmerksam. Ein Beispiel: Auf einem Sommerfest bei uns ist auf den Kopf eines Jungen eingeschlagen worden, der schon am Boden lag. Der hätte tot sein können. Das ist demjenigen, der zuschlug, aber gar nicht klar gewesen. Der sagte zu mir: "Jetzt übertreib doch nicht, das ist doch nur Spaß." Dass dies eben kein Spaß ist, sondern tödliche Folgen haben kann, das muss man ihnen tatsächlich erklären.

    Wird es dann ernst genommen?

    Pleines: Ja. Aber die Wirkung unserer Arbeit ist oft nicht sofort sichtbar, sie wirkt aber langfristig. Das ist auch eines unserer Hauptprobleme: Wir können zwar sagen, mit wie vielen Jugendlichen wir vor Ort arbeiten, aber wir haben keine Zahlen, die den Erfolg unserer Arbeit beweisen. Dabei kommen zu uns oft noch nach Jahren Leute und sagen: "Bei dir habe ich gelernt, dass ich meine Fäuste nicht brauche, dass Argumente viel cooler sind." Und genau darum geht es uns, den Kids klarzumachen: Wer schlägt, hat keine Argumente.

    Sie sagen, dass Sie oft den Erfolg nicht beweisen können. Wird deswegen an Streetworkern gespart? 

    Pleines: Leider ja. Wir werden zwar zunehmend auch in den ländlichen Raum geholt, was es früher so gar nicht gab. Aber viele verstehen einfach nichts von unserer Arbeit. Sehr oft wird eine Streetwork-Stelle geschaffen, weil Jugendliche Lärm machen, Dreck und Ärger. Streetwork soll dann so schnell wie möglich für Ordnung sorgen. Wer so denkt, hat von Streetwork keine Ahnung. Und das frustriert dann auch unsere Kolleginnen und Kollegen vor Ort, die ohnehin nicht selten gleich für mehrere Gemeinden zuständig sind. Unser Kerngeschäft ist es, Beziehungsarbeit zu leisten, da zu sein für die jungen Leute vor Ort, vor allem zuzuhören. Wir sind eine Lobby für die Kids, denn gerade Jugendliche haben in unserer Gesellschaft leider keine Lobby, und das spüren sie.

    Wie meinen Sie das?

    Pleines: In unserer Gesellschaft gibt es viele Angebote für kleine Kinder und für Erwachsene, Jugendliche dagegen gelten oft nur als Ärgernis, die man nirgends haben möchte. Ihnen wird beispielsweise oft gar kein Platz geboten, um sich zu treffen. Zuhören tut ihnen ohnehin oft niemand. Viele Jugendliche fühlen sich nicht gewollt und an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Auch daraus erwächst Gewaltbereitschaft.

    Jan Pleines ist Sozialpädagoge und arbeitet seit vier Jahren als Streetworker im oberbayerischen Herrsching. Er ist Mitglied in der Landesarbeitsgemeinschaft Streetwork Bayern.
    Jan Pleines ist Sozialpädagoge und arbeitet seit vier Jahren als Streetworker im oberbayerischen Herrsching. Er ist Mitglied in der Landesarbeitsgemeinschaft Streetwork Bayern. Foto: Jan Pleines

    Kommen die aggressiven Jugendlichen aus Elternhäusern mit Migrationshintergrund oder aus benachteiligten Familien?

    Pleines: Nein. Wir haben Jugendliche aus allen Schichten. Und den Trend zur Gewaltbereitschaft sehen wir quer durch alle Schichten.

    Wo sehen Sie die Ursachen dafür?

    Pleines: Meiner Einschätzung nach haben die drei Jahre Corona massive Schäden angerichtet. Sehr viele Kinder und Jugendliche waren komplett auf sich allein gestellt, hatten kaum Kontakt zu anderen. Früher wurden die Jüngeren oft von den Älteren sozialisiert, Ältere sind auch oft Vorbilder, das fiel alles weg. Die Kleinen sind heute viel frecher, ihnen fehlt oft einfach der Respekt, den sie früher in der Gruppe mit Älteren gelernt haben. Und wir haben zumindest das Gefühl, dass viele verstärkt auch einfach aus Langeweile schlägern.

    Und mit welchen Problemen kommen die Jugendlichen zu Ihnen?

    Pleines: Sehr viele haben psychische Probleme, bekommen aber keinen Therapieplatz, das ist ein Drama. Wir im Streetwork sind weder Therapeuten noch Psychologen, aber wir können zuhören, und genau das tun wir. Das schätzen die Jugendlichen auch. Was wir auch beobachten: Es gibt eine Verschiebung im Konsumverhalten. Immer mehr Kids nehmen Medikamente und Koks. Bei den Medikamenten ist es vor allem Tilidin.

    Ein beruhigendes, aber auch euphorisierendes und enthemmendes Schmerzmittel ...

    Pleines: So ist es. Tilidin wurde von Rappern wie Capital Bra besungen, tja, und jetzt wird es eben von wahnsinnig vielen jungen Leuten auch genommen. Man kommt ja bei uns an fast alles ran.

    Zur Person: Jan Pleines, 38, ist Sozialpädagoge und arbeitet seit vier Jahren als Streetworker im oberbayerischen Herrsching. Er ist Mitglied in der Landesarbeitsgemeinschaft Streetwork Bayern.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden