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Dienstag ist ein guter Tag zum Sterben: Herr Mayer ist lebensmüde

Sterbehilfe

Dienstag ist ein guter Tag zum Sterben: Herr Mayer ist lebensmüde

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    Sepp Mayer aus München sagt: „Das ist doch ein großes Glück, dass es möglich ist, menschenwürdig aus dem Leben zu scheiden.“
    Sepp Mayer aus München sagt: „Das ist doch ein großes Glück, dass es möglich ist, menschenwürdig aus dem Leben zu scheiden.“ Foto: Stephanie Sartor

    Der Dienstag, sagt Sepp Mayer und schaut durch das Fenster seines Wohnzimmers in seinen winterkahlen, nieselregennassen Garten, der Dienstag also sei ein guter Tag zum Sterben. Am besten im Februar, wenn die ersten Märzenbecher blühen. Mayer, 84 Jahre alt, hat ein sehr unverkrampftes Verhältnis zum Tod. Man möchte fast sagen: ein freundschaftliches. „Der Gedanke macht mir keine Angst“, sagt er und lächelt. „Im Gegenteil. Er befreit mich.“ An diesem Dezembervormittag sitzt der Mann in Blue-Jeans und rotem Pulli auf einem Holzstuhl im Erdgeschoss seines Hauses im Münchner Stadtteil Laim, hinter ihm ein großes Bücherregal und ein alter Bauernschrank. Vor ihm ein kleines Tischchen mit Mosaikplatte, dahinter die tiefe Fensterbank, der Blick nach draußen. Dann beginnt Mayer zu erzählen. Von seinem Wunsch, zu sterben.

    Mayer ist nicht krank, nicht gebrechlich. Er ist nur einfach, im wahrsten Sinne, lebensmüde. Es würde langsam reichen, findet er. Selbstbestimmt dem eigenen Dasein ein Ende setzen - das wünscht sich Mayer. Und das ist in Deutschland möglich, seit das Bundesverfassungsgericht im Februar 2020 das Verbot der Suizidhilfe für verfassungswidrig erklärt hat. Genauer: das „Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“. Seither können sich Menschen wie Mayer, aber natürlich vor allem auch solche, die schwer krank sind, eine Freitodbegleitung vermitteln lassen.

    Eine gesetzliche Neuregelung der Sterbehilfe gibt es bisher nicht

    Eine wirkliche Reform der Sterbehilfe gibt es trotz des Urteils in Deutschland aber bisher nicht. Im Sommer 2023 hat der Bundestag zwei Gesetzesentwürfe zu einer Neuregelung abgelehnt. „Wir lassen Menschen mit Sterbewunsch allein“, sagte damals die Grünen-Politikerin Renate Künast, die mit ihrem Vorschlag gescheitert war. Ihre Kritik: Im Bereich der Sterbehilfe agierten Vereine, deren Arbeit nicht klar geregelt sei und die den Zugang zur Hilfe von hohen Beiträgen abhängig machten. Unter anderem die Bundesärztekammer hatte damals aber davor gewarnt, eine Neuregelung zu überstürzen. Das Parlament müsse sich ausführlich mit dem Thema befassen, zudem brauche es eine breite gesellschaftliche Debatte. Auch der damalige bayerische Gesundheitsminister Klaus Holetschek hielt eine Abstimmung im Bundestag für verfrüht. Einer seiner Kritikpunkte war, dass die geplante Neuregelung die Suizidprävention nicht ausreichend stärke.

    Sepp Mayer aus Laim kennt die politischen Debatten der vergangenen Jahre. Er selbst beschäftigt sich indes schon viel länger mit dem Thema - seit fast 40 Jahren ist er Mitglied in der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS). Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts sind dort die Zahlen der Freitodbegleitungen deutlich gestiegen. 2021 beendeten in Deutschland 120 DGHS-Mitglieder auf diesem Weg ihr Leben, im Jahr 2023 waren es bereits 419. Die Vermittlung des assistierten Suizids ist im Mitgliedsbeitrag der DGHS enthalten. Vorbereitung und Durchführung kosten dann 4000 Euro. Für Paare, die gemeinsam sterben wollen, sind es 6000. „Das ist doch ein großes Glück, dass es möglich ist, menschenwürdig aus dem Leben zu scheiden“, sagt Mayer.

    Sepp Mayer will auf keinen Fall ins Pflegeheim

    Menschenwürdig, selbstbestimmt - diese Worte fallen oft im Gespräch mit Mayer, das vieles ist, vor allem reflektiert, versöhnlich, klar, nie traurig, oft fröhlich. Was für ihn nicht zu diesen Begriffen passt: Im Pflegeheim auf den Tod warten. „Für mich steht fest, dass ich auf gar keinen Fall in ein Altersheim gehe. Das wäre für mich der absolute Horror“, sagt Mayer, schlägt die Beine übereinander und blickt nachdenklich hinaus in seinen Garten. Vorher, bevor er pflegebedürftig wird, will er „den Absprung schaffen.“ Das gilt auch für den Fall, dass er schwer erkrankt. „Wenn ich eine Krebsdiagnose bekäme, würde ich mich nicht behandeln lassen“, sagt er. „Dann würde ich sofort zum Telefon gehen, die DGHS anrufen und sagen: Wir müssen uns jetzt über meinen Tod unterhalten.“ Aber auch ohne schwere Krankheit, ohne die Aussicht, ins Pflegeheim zu müssen, steht für Mayer fest: „100 werde ich nicht, das schwöre ich.“

    In Deutschland ist der assistierte Suizid noch relativ neu, in der Schweiz indes schon lange eine Option. Viele Menschen aus ganz Europa reisen dorthin, um ihr Leben zu beenden - längst ist von einem „Sterbehilfe-Tourismus“ die Rede. Die meisten Menschen, die in der Schweiz sterben wollten, kamen einer Erhebung der Universität in Zürich zufolge über Jahre aus Deutschland und Großbritannien. Mittlerweile, seit sich die Situation in der Bundesrepublik 2020 geändert hat, kommen die meisten Sterbewilligen aus Frankreich, wie der Sterbehilfe-Verein Dignitas berichtet. Auch die Nachfrage aus Großbritannien dürfte bald abnehmen: Ende November stimmte die Mehrheit der Abgeordneten im britischen Unterhaus einem Gesetzesentwurf zur Legalisierung der Sterbehilfe zu.

    Das Infusionsventil müssen die Menschen selbst öffnen

    Was viele Menschen nicht wissen: Anders als in Deutschland reicht in der Schweiz die sogenannte Lebenssattheit nicht aus, um eine Freitodbegleitung zu bekommen - die ist nur für Menschen möglich, die nachweislich an einer unheilbaren Krankheit leiden. Was in der Schweiz und in Deutschland gleich ist: Wer sterben will, muss den entscheidenden Schritt am Ende selbst tun, im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte und aus freiem Willen. Der Arzt stellt das tödliche Medikament zur Verfügung - das Infusionsventil müssen die Menschen dann selbst öffnen.

    Gerhart Gross berät seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes Menschen, die nicht mehr mögen. Er sitzt an einem kalten Winterabend in der Altbauwohnung seiner Lebensgefährtin Irmgard Pohl im schicken Münchner Stadtteil Haidhausen, Parkett, Kunst an den Wänden, großer Holztisch, vor sich eine Tasse Kaffee, draußen vor dem Fenster fällt Schnee. „Man bekommt ein anderes Gefühl für die Endlichkeit“, sagt Gross, früher Personalleiter, heute, im Ruhestand, bei der DGHS Ansprechpartner für das südliche Bayern.

    Gerhart Gross und Irmgard Pohl wollen ihr Leben nicht unnötig in die Länge ziehen. Ins Pflegeheim will keiner der beiden.
    Gerhart Gross und Irmgard Pohl wollen ihr Leben nicht unnötig in die Länge ziehen. Ins Pflegeheim will keiner der beiden. Foto: Stephanie Sartor

    Wer bei ihm einen Antrag auf eine Freitodbegleitung stellt, wird zunächst nach Berlin vermittelt, wo der Antrag geprüft wird. Dann geht der Fall an einen Juristen, der das Erstgespräch führt, ein zweites Gespräch übernimmt ein Mediziner. Wenn beide Gespräche zu dem Ergebnis kommen, dass der Sterbewunsch nicht nur einem spontanen Affekt entspringt, sondern auf einer rationalen, dauerhaften, freiverantwortlichen Entscheidung fußt, kann ein Termin vereinbart werden. Für Menschen, die etwa an einer Demenz oder einer psychischen Erkrankung leiden, birgt das Hürden. Denn dann wird es schwieriger, festzustellen, ob die Entscheidung wirklich frei und eigenverantwortlich getroffen wird.

    „Wir hatten ein tolles Leben. Warum sollten wir es uns am Ende verhunzen?“

    Gross kann von vielen Menschen erzählen, die sich entschieden haben, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Etwa die eines Mannes, der mit Anfang 50 mit seinem Gleitschirm abgestürzt und seither querschnittsgelähmt war. Sein Handy konnte er nur noch mit einem Stift, den er mit dem Mund balancierte, bedienen. „Drei Jahre hat er es mit Reha probiert“, erzählt Gross. „Dann hat er gesagt: Jetzt ist Schluss.“

    Gross und Pohl – er 82, sie 74 – sind sich einig, dass sie ihr Leben nicht unnötig in die Länge ziehen wollen. Ins Pflegeheim zu gehen, kommt für beide nicht infrage. Sich zu Hause pflegen zu lassen auch nicht. „Was hat man dann noch vom Leben?“, fragt Gross und lächelt seine Partnerin an. Die sagt: „Wir hatten ein tolles Leben. Warum sollten wir es uns am Ende verhunzen?“

    Sepp Mayer will im Kreise seiner Familie sterben

    Zurück in Laim. Bei Sepp Mayer, der die Sache mit dem Sterben genauso sieht. Aus seinem Wunsch, selbstbestimmt zu sterben, macht er kein Geheimnis. „Meine Kinder wissen genau Bescheid, sie sind bis ins letzte Detail informiert“, sagt Mayer, hält einen Moment inne und sagt dann: „Aber ich fühle bei ihnen schon eine gewisse Zurückhaltung und auch Angst.“ Natürlich werde es schwer für seine Kinder, sich von ihm zu verabschieden. „Aber die müssen verstehen, dass ich nicht unsterblich bin.“

    Eigentlich will Mayer nicht zu Hause sterben. „Aber wenn man nicht in einem Krankenhaus oder im Pflegeheim ist, kann man die Freitodbegleitung nur im eigenen Haus machen“, sagt er. Er habe schon Kontakt mit einem Bestatter aufgenommen und ihn gebeten, ob er nicht dessen Räumlichkeiten nutzen könne. „Aber das wurde leider kategorisch abgelehnt.“ Mayer hätte gerne, dass seine Familie dabei ist, dass seine Kinder und seine Ex-Frau gemeinsam am Tisch sitzen, während er das Infusionsventil öffnet. Er überlege noch, ob er oben im Schlafzimmer oder hier unten im Wohnzimmer mit Blick in den Garten sterben will. „Wahrscheinlich Zweiteres“, sagt der 84-Jährige. „Und wenn ich noch rüstig genug bin, baue ich das Bett hier selbst auf. Oder ich leg‘ mich auf meine Liege“, sagt er und deutet auf ein Möbelstück mit Kuhfellmuster gleich neben der Tür, gegenüber dem Bücherregal.

    Ein Avatar spricht über das Thema Sterbehilfe

    Wie lange er tatsächlich noch leben wird und will - Mayer weiß es nicht. Die Zeit will er aber noch nutzen. An der Ludwig-Maximilians-Universität München nimmt er an einem Studienprojekt zur Alzheimerforschung teil, lässt sein Gehirn regelmäßig untersuchen. Nach seinem Tod will er seinen Körper der Wissenschaft zur Verfügung stellen. „Meine Organe will ich auch spenden, wenn sie denn noch brauchbar sind.“ Und Mayer will über das Thema Sterbehilfe aufklären, dazu beitragen, dass die noch immer herrschende Stigmatisierung abgebaut wird. Dafür hat er sich im Kunstprojekt „Ars Moriendi“ - aus dem Lateinischen übersetzt heißt das „Die Kunst des Sterbens“ - von 120 Kameras für ein 3D-Modell fotografieren lassen. „Die App fehlt noch, aber wenn sie da ist, dann kann man mit meinem Avatar Kontakt aufnehmen und sich anhören, was ich über das Sterben denke“, sagt er. „Ich bin zwar irgendwann nicht mehr da, aber der Avatar schon. Das ist doch schön.“

    Sterben will Mayer im Winter, am besten im Februar. „Da ist die Stimmung eh so düster“, sagt der 84-Jährige. Der Sommer erscheine ihm unpassend. „Da ist alles so lebendig, die Menschen gehen zum Baden, ich ja auch.“ Februar also. Wenn die ersten Märzenbecher blühen. Am besten an einem Dienstag, das habe er sich so überlegt. Denn der Dienstag, sagt Mayer, sei für ihn ein guter Tag zum Sterben.

    Kreisen Ihre Gedanken darum, sich das Leben zu nehmen? Sprechen Sie darüber! Es gibt eine Vielzahl von Hilfsangeboten. Hier finden Sie eine Übersicht. Im Notfall hilft der Rettungsdienst, den Sie unter der Telefonnummer 112 rund um die Uhr erreichen. Die Telefonseelsorge erreichen Sie unter der Nummer 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222. Die Hotline ist rund um die Uhr erreichbar, kostenlos und anonym.

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    9 Kommentare
    Klaus Reindl

    Aktuell ist das Thema ohnehin: der großartige Münchner Journalist und Schriftsteller Karl Stankiewitz ist vor wenigen Tagen freiwillig durch selbstbestimmtes Sterben aus dem Leben geschieden

    Jochen Hoeflein

    Volles Verständnis für Hr. Sepp Meyer. Dass man jenseits der 80 irgendwann lebensmüde wird- das Leben ist gelaufen - irgendwann ist man des Daseins überdrüssig auch ohne Krankheitsbeschwerden . Es gibt keine Herausforderungen mehr, die anlocken könnten. Bin selbst über 75 und mache mir auch Gedanken über den Tod . Habe selbst eine bösartige Tumorerkrankung überwunden, aber eine erneute Krebs OP vielleicht noch mit Chemo und anschliessender Pflegebedürftigkeit- Nein Danke. Im Pflegeheim auf den Tod warten -vielleicht noch weiter leben in geistiger Umnachtung -ein absolutes NoGo für mich. Möchte selbst bestimmt diese Welt verlassen.

    Maja Steiner

    Ob man es dann wirklich so durchzieht, wie man es sich vorgestellt hat - sofern man nicht wirklich sehr krank und/oder behindert ist.... man hängt dann doch mehr am Leben als man meint. Aber es ist gut und legitim, dass es die Möglichkeit gibt und es ist unredlich aus ihr immer einen Druck für Dritte ableiten zu wollen. Nein, den gibt es nicht. Es entscheidet jeder für sich und der Lebenswille - und deshalb mein Auftaktstatement - ist im Regelfall so stark, dass man nicht aus Rücksichtnahme auf andere die Infusion startet. Weil man sich etwas für sich selbst nicht vorstellen kann, sollte man es nicht unter fadenscheinigen Gründen anderen verbieten.

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    Jochen Hoeflein

    Gebe zu die Menschen sind unterschiedlich; es gibt Leute die selbst unter ständigen starken Gesundheitseinschränkungen am Leben hängen oft unter Bedingungen - Entschuldigung wenn ich das so formuliere oft unter Bedingungen, die man keinem Tier antun würde. Zumindest gibt es aber die Möglichkeit einer Patientenverfügung, in der man festlegen kann , dass lebenserhaltende Massnahmen unter bestimmten Randbedingungen unterbleiben. Nur muss man diese rechtzeitig machen und nicht erst wenn der gesundheitliche Gau bereits eingetreten ist.

    Gerold Rainer

    Ich denke im Fall von Sepp Maier ist das einfach nur ein dreifaches Luxusproblem. Armut? Nein. Schwere Krankheit? Nein. Einsamkeit? Nein.

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    Jochen Hoeflein

    Was heisst denn hier Luxusproblem? Soll man warten bis man pflegebedürftig und vollkommen hilflos wird und keine Entscheidungen mehr treffen kann. Den Gedanken an den Tod und die Erkenntnisse, dass das Leben zeitlich begrenzt darf man doch wohl anstellen. Oder ?!

    Thomas Keller

    Aber trotzdem ist niemand verpflichtet am Leben zu bleiben. Darum ist der Freitod bzw. der Versuch dazu nicht strafbar.

    Wolfgang Leonhard

    Ich finde es sehr befremdlich, wenn sich ein Mensch, dem es zumindest scheinbar an nichts fehlt, den eigenen Tod derart in den Mittelpunkt seines Lebens stellt. Womöglich steckt ja doch eine Krankheit wie eine Depression dahinter.

    Andreas Meinhardt

    Völlig klar, dass dieses Thema in den nächsten Jahren immer weiter En Vogue gestellt werden wird, da für die Boomer-Generation eine geordnete Pflege in einer menschenwürdigen Art und Weise gar nicht möglich zu sein scheint. Vor allem auch, wenn Pflege und Gesundheit von den beteiligten Organisationen immer stärker rein kapitalistisch betrachtet wird. Interessant hierbei auch, dass die Kirche insbesondere die katholische, überhaupt nichts mehr zu dem Thema Leben und Tot zu sagen hat. Haben die sich einfach durch die Missbrauchsskandale und die fehlende Läuterung bzw. eine fehlende neue Inquisition gegen die Täter, selbst zum Schweigen gebracht?

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