Die Nachricht kommt völlig unerwartet. Ich sitze am Laptop, als mein E-Mail-Postfach einen neuen Eingang meldet. „DRINGEND!“ steht in der Betreffzeile. Die Stiftung Aktion Knochenmarkspende Bayern (AKB) teilt mir mit, ich komme als Stammzellspenderin für einen Leukämie-Patienten in Frage. Ungläubig prüfe ich, ob es sich nicht um eine Spam-Nachricht handelt. Ich suche meinen Knochenmarkspender-Ausweis und vergleiche die Spendernummern. Kein Zweifel: Irgendwo da draußen gibt es jemanden, dem ich helfen kann. Dem ich vielleicht das Leben retten kann. Mehr als acht Jahre nach meiner Registrierung.
Die ganze Geschichte beginnt 2009. In diesem Jahr bekommt die Familie des drei Monate alten Luis Laurin aus dem Allgäu eine erschütternde Diagnose: Der Bub hat Blutkrebs, seine einzige Chance ist eine Knochenmarktransplantation. Aber weder in seiner Familie noch im weltweiten Register findet sich ein passender Spender. Die Eltern von Luis setzen alles in Bewegung und starten gemeinsam mit der AKB eine groß angelegte Kampagne.
Ich lese die Geschichte von Luis in der Zeitung und gehe an einem Wochenende im Dezember zum Roten Kreuz, um mir Blut abnehmen zu lassen. Auch 8424 andere Menschen kommen zu den Typisierungsterminen nach Kempten, Augsburg, Memmingen und Landsberg, sie alle wollen Luis helfen. Sämtliche Angaben werden in die Datei der AKB aufgenommen, gespeichert und anonymisiert ans Zentrale Knochenmarkspender-Register Deutschland in Ulm weitergeleitet. Dort schlummern sie jahrelang. Bis irgendwo auf der Welt ein Mensch an Leukämie erkrankt. Ein Mensch, der dieselben Gewebemerkmale hat wie ich.
Ich fühle mich wie eine Lottogewinnerin
Und nun liegt diese E-Mail in meinem Postfach. Ich rufe gleich bei der AKB an. Natürlich will ich immer noch spenden, sage ich am Telefon, und bekomme einen Termin für eine Blutentnahme zur Bestätigungstypisierung. Obwohl ich weiß, dass noch längst nicht klar ist, ob es wirklich zu einer Spende kommen wird, bin ich schon jetzt aufgeregt. Ich fühle mich wie eine Lottogewinnerin. Fast acht Millionen Menschen sind in Ulm anonym registriert, 2017 haben davon knapp 7000 tatsächlich Stammzellen gespendet. Als ich mich an den Gedanken gewöhnt habe, dass ausgerechnet ich vielleicht ein Leben retten kann, mache ich mich kundig, was genau hinter einer Stammzellspende steckt.
Die meisten werden für Menschen benötigt, die an Leukämie leiden. Bei ihnen reifen einige weiße Blutkörperchen nicht vollständig aus, teilen sich sehr schnell und verdrängen die gesunden Blutbestandteile. Viele Leukämie-Patienten haben nur noch eine Chance: den Komplettaustausch ihres außer Kontrolle geratenen blutbildenden Systems. Dazu werden gesunde Stammzellen benötigt, die für die Bildung aller Blutbestandteile zuständig sind. Damit die Transplantation gelingen kann, müssen bestimmte Gewebemerkmale von Spender und Empfänger übereinstimmen. Im weltweiten Spendernetzwerk mit mehr als 32 Millionen Registrierten wird heute für neun von zehn deutschen Patienten ein „genetischer Zwilling“ gefunden. Doch die Vielfalt der Merkmalskombinationen ist so groß, dass einige Kranke vergeblich warten.
Vier Wochen nach der Blutentnahme bekomme ich von der AKB wieder eine Mail. Das Transplantationszentrum habe mich tatsächlich als Spenderin angefordert. Die Aufregung, die sich in den letzten Wochen ein wenig gelegt hat, ist sofort wieder da. Gleichzeitig bin ich erleichtert, weil in der Mail auch steht, dass eine periphere Stammzellspende angefragt wurde. Diese Form der Stammzellentnahme, ambulant über eine Art Blutwäsche, wird heute in 80 Prozent der Fälle durchgeführt. Nur noch einem Fünftel der Spender wird unter Vollnarkose Knochenmark aus dem Becken entnommen.
Zur Voruntersuchung fahre ich zur AKB nach Gauting bei München. Die Spenderambulanz der Stiftung liegt auf dem Gelände einer Privatklinik. Die Räume sind hell und freundlich, an den Wänden hängen sauber gerahmt Zeitungsartikel und anonyme Briefwechsel zwischen Spendern und Empfängern. Es riecht nach Arztpraxis, aber es fühlt sich nicht nach Krankheit an. In den fünf Stunden Untersuchung und Aufklärung lerne ich drei gut gelaunte Ärzte der Spenderambulanz, einige andere Mitarbeiter und einen zweiten künftigen Spender kennen.
Ein kleines Rädchen in einer komplexen Lebensretter-Maschinerie
Jedes Jahr betreut die AKB zwischen 300 und 400 Spender, verarbeitet Stammzellpräparate und bringt sie in Transplantationskliniken in aller Welt. Hier wird mir bewusst, dass ich nur ein kleines Rädchen in der sehr komplexen Lebensretter-Maschinerie bin. Ein Rädchen. Aber für einen ganz bestimmten Menschen das entscheidende.
Je näher die Spende rückt, desto öfter stelle ich mir die Frage, wer dieser Mensch ist. Aus rechtlichen und ethischen Gründen ist die Spende anonym. Erst nach einer Sperrfrist können der Empfänger und ich ein paar Daten voneinander erfahren. Wenn wir beide es wollen und die Rechtslage in der Heimat des Empfängers es zulässt, dürfen wir dann auch anonym Briefe austauschen und uns vielleicht nach zwei Jahren persönlich kennenlernen.
Bisher kann ich aus den Aussagen der AKB-Mitarbeiter und dem, was ich gelesen habe, nur wenig ableiten. Der Empfänger oder die Empfängerin meiner Zellen ist höchstwahrscheinlich erwachsen, hellhäutig und nicht übergewichtig. Diese Informationen helfen mir, falls sie überhaupt stimmen, nicht weiter. Also entsteht in meinem Kopf ein eigenes Bild. Vor meinem inneren Auge ist der Empfänger ein Mensch in einem Krankenbett. Ich kann weder das Gesicht erkennen noch, ob es ein Mann oder eine Frau ist. Neben dem Bett sitzen andere Personen und blicken mich an. Die Szene strahlt Traurigkeit aus und Angst, aber auch große Hoffnung. Auf seltsame Weise fühle ich mich diesen Menschen, über die ich überhaupt nichts weiß, tief verbunden.
Einige Tage nach der Voruntersuchung bekomme ich die Nachricht, dass ich definitiv gesund und zur Spende freigegeben bin. In meinem Kopf herrscht Chaos. Freude und Angst, Stolz und Sorge vermischen sich zu diffusen Gefühlen. Ich schlafe schlecht, träume wirr und wache mitten in der Nacht auf, weil mir der Gedanke gekommen ist, dass der Empfänger künftig meine DNA im Blut haben wird.
Es gibt kein anderes Thema mehr für mich. Selbst Menschen, die mich in der Bahn in ein Gespräch verwickeln, müssen sich meine Loblieder auf die Medizin anhören. Mit den Menschen, die mir näherstehen, teile ich auch meine Ängste und Zweifel. Ganz allein bin ich aber mit dem Druck der Verantwortung. Mir wurde eindringlich erklärt, dass ich rechtlich gesehen jederzeit zurücktreten könne. Doch zehn bis zwölf Tage vor der Spende wird der Empfänger auf die Transplantation vorbereitet, sein Immunsystem wird systematisch zerstört. Wenn die lebensrettenden Stammzellen dann nicht kommen, hat er keine Chance. Würde ich den Vorgang abbrechen, käme das einem Todesurteil gleich.
Ich bin fast erleichtert, als ich vier Tage vor der Spende mit der sogenannten Mobilisierung beginnen darf. Bisher war meine Rolle passiv: zuhören, verstehen, untersuchen lassen, zustimmen. Jetzt kann ich erstmals aktiv meinen Teil dazu beitragen, dass alles klappt. Vier Tage lang muss ich mir zweimal täglich einen Botenstoff spritzen, der die Stammzellproduktion anregt. Die Spritzen und die Nebenwirkungen, die noch vor einigen Wochen meine größte Angst waren, stellen sich als halb so schlimm heraus.
Für die erste Spritze gehe ich zum Hausarzt, wo mir eine Arzthelferin gut zuredet. Den Rest schaffe ich allein. Das Mittel meldet meinem Körper eine vermeintliche Infektion, dementsprechend krank fühle ich mich. Aber alles in allem habe ich Glück: Ich benötige kaum Schmerztabletten und die 24-Stunden-Notrufnummer der AKB muss ich auch nicht wählen.
Nach zweieinhalb Stunden sagt die Ärztin: Alles gut
Dann ist er endlich da, der sogenannte Tag null. Der Blutspendedienst des Roten Kreuzes in München führt für die AKB meine Stammzellentnahme durch. Ich kann es kaum erwarten, dass endlich alles vorbei ist. Die letzten Stunden werden dann doch schwieriger als erwartet. Meine Venen spielen nicht mit, der Druck ist zu niedrig. Immer wieder schlägt der mannshohe Apparat, an den ich über zwei Schläuche in den Armvenen angeschlossen bin, Alarm. Eine Ärztin und zwei Pfleger ziehen und drücken an den Schläuchen, die in meinen Armen stecken, jede neue Einstellung verschafft mir nur eine Weile Ruhe. Erst nach zweieinhalb Stunden kommt mit den aktuellen Laborwerten die beruhigende Nachricht: Die Ärztin ist mit den Blutwerten zufrieden, mein Knochenmark hat in den letzten Tagen gute Arbeit geleistet. Eine Stunde noch, dann sind genügend Stammzellen gewonnen.
Mit jedem Tropfen, der in den Kunststoffbeutel an der Maschine fließt, fällt ein wenig Druck von mir ab. Als die Pfleger endlich vorsichtig die Schläuche aus meinen schmerzenden Armen ziehen, ist das gesamte Blut meines Körpers etwa zwei Mal durch die Maschine gelaufen. Dabei wurden 674 Millionen Stammzellen gewonnen, die jetzt ein Kurier innerhalb von 48 Stunden zum Empfänger bringt. Ich bin müde und erleichtert, dass der weitere Lauf des Schicksals nicht mehr in meiner Hand liegt. Jetzt kann ich nur hoffen, dass mein neuer Blutsbruder oder meine Blutsschwester die riskante Behandlung gut übersteht und gesund weiterleben kann. Und dass wir uns irgendwann vielleicht sogar kennenlernen können.
Sicher hat die Person, die vor gut acht Jahren für den kleinen Luis Knochenmark gespendet hat, genauso inständig darauf gehofft, dass alles gut geht. Leider hat der tapfere Bub trotz allem seinen Kampf gegen die Leukämie verloren. Doch er hinterlässt ein außergewöhnliches Vermächtnis: Ich bin bereits der 101. Mensch, der dank Luis einem Menschen die Chance auf ein neues Leben schenken durfte. Bestimmt werden noch viele weitere folgen.
Die Autorin: Anna Munkler ist freie Journalistin und lebt im Oberallgäu.