Startseite
Icon Pfeil nach unten
Bayern
Icon Pfeil nach unten

Stadt vs. Land: Warum politische Unterschiede wachsen

Stadt-Land-Serie

Keine Chance den Grünen: Wie unterschiedlich wählen Stadt und Land wirklich?

    • |
    • |
    Die Unterschiede im Wahlverhalten zwischen Stadt und Land sind heute größer als noch vor 15 Jahren.
    Die Unterschiede im Wahlverhalten zwischen Stadt und Land sind heute größer als noch vor 15 Jahren. Foto: Karl-Josef Hildenbrand/Kay Nietfeld, dpa

    Der Schlachthof ist traditionell kein einfaches Terrain für einen Grünen. Max Deisenhofer, Landtagsabgeordneter der Partei, steht in Kapuzenpullover und mit grauer Cap in einem Kühlraum der Metzgerei Diem. Um ihn herum: tote Schweine, die von der Decke hängen, und rote Kunststoffkisten, in denen Rippen, Bäuche, Köpfe lagern. Ein Mitarbeiter zerlegt die Fleischteile mit einem langen Messer. „Das wird Kochschinken“, sagt Karl Diem, Senior-Chef der Metzgerei.

    Deisenhofer will heute zuhören. Er lässt sich erklären, wie die Schweine am Schlachthof ankommen, wie Diems Mitarbeiter sie wiegen, fixieren, in der „Tötebox“ zunächst mit Strom betäuben und dann – nun ja – töten. Viel mehr noch interessiert sich Deisenhofer aber für das, was hier vor circa drei Monaten passiert ist. Das Hochwasser. Das hat in Diems Schlachthof massive Schäden angerichtet. Gabelstapler: kaputt. Verpackungsmaschine: kaputt. Das Lager: unter Wasser. Teile der Ware: nicht mehr verkaufbar. Aber deshalb Staatshilfen beantragen? Wollte Diem nicht. Und Deisenhofer möchte wissen, warum. Er will helfen. „Einen großen Teil muss ich am Ende sowieso wieder zurückzahlen, wie bei den Corona-Hilfen“, sagt Diem. Unterm Strich verursachten ihm die Staatshilfen nur zusätzliche Arbeit. „Meine Erfahrung ist: Geld, das zu leicht kommt, bleibt nicht lange. Man muss schon dafür arbeiten.“

    Sind die Menschen auf dem Land konservativer? Tendenziell ja, sagt der Politikwissenschaftler

    Nicht nur der Schlachthof ist traditionell kein einfaches Terrain für die Grünen. Hier in Deisenhausen, einer Gemeinde bei Krumbach, haben die Grünen bei der vergangenen Landtagswahl etwa acht Prozent der Stimmen geholt – nur gut die Hälfte ihres Gesamtergebnisses. Damit stehen sie nicht allein da. SPD und FDP kommen bei den Wählerinnen und Wählern in Deisenhausen nicht einmal über die Fünf-Prozent-Hürde. Mehr als drei Viertel der Stimmen teilen CSU, Freie Wähler und die AfD unter sich auf. In den angrenzenden Gemeinden und Stimmkreisen ist das Bild ähnlich.

    Progressive Parteien – so scheint es – haben es schwer, auf dem Land Wahlen zu gewinnen. Ihre Hochburgen liegen in der Stadt. In München beispielsweise holten die Grünen bei der Landtagswahl vier Direktmandate, bei der Bundestagswahl eines. Und die Unterschiede sind heute stärker als noch vor einigen Jahren. Die Frage ist nur: Woran liegt das? Sind Menschen auf dem Land grundsätzlich konservativer eingestellt? Und Städter zunehmend links, grün, progressiv?

    Max Deisenhofer informiert sich bei der Familie Diem über die Folgen des Hochwassers.
    Max Deisenhofer informiert sich bei der Familie Diem über die Folgen des Hochwassers. Foto: Jonathan Lindenmaier

    Lukas Haffert sagt: ja, zumindest in der Tendenz. Haffert ist Politikwissenschaftler an der Universität Genf. Für sein Buch „Stadt, Land, Frust: Eine politische Vermessung“ hat er die Unterschiede im Wahlverhalten von Stadt und Land untersucht. „Der Effekt ist in Westdeutschland nicht so stark ausgeprägt wie in Frankreich oder den USA, in Ostdeutschland schon eher“, sagt Haffert. „Aber auch hier man kann definitiv feststellen: Das Land ist konservativer als die Stadt.“ Das hat sich bei den Wahlen in Thüringen und Sachsen bewahrheitet. Die AfD, die in den beiden Bundesländern erwartungsgemäß stark abgeschnitten hat, kam in kleinen Gemeinden auf Stimmanteile von 36 Prozent, in Großstädten auf 21 Prozent.

    Doch die Gründe für das Stadt-Land-Gefälle sind andere als in Frankreich und den USA. Das zeigt sich im US-Wahlkampf gerade wieder besonders deutlich. Von „den Abgehängten“ ist da häufig die Rede, den „Vergessenen“. Gemeint sind Wählerinnen und Wähler, die in strukturschwachen, eher ländlichen Regionen des Südens oder Mittleren Westens leben und ihr Kreuz bei Donald Trump machen. „Rural resentment“ nennen Wahlforscherinnen und -forscher dieses Phänomen, „ländliche Verbitterung“.

    Familienunternehmen wie die Diems sind „Stabilitätsanker“ in Deutschland

    „Das sehen wir in Deutschland nicht, zumindest nicht im Westen“, sagt Haffert. „Von ‚abgehängt‘ kann hier keine Rede sein.“ Zwar sitzen die großen Dax-Unternehmen in den Metropolen. Aber Deutschland ist eben auch das Land der Mittelständler, der Familienunternehmen, der „Hidden Champions“. Kleine und mittlere Firmen, die in ihrem Segment Marktführer sind – und die man häufig in ländlichen Regionen findet. Forscher des Instituts der Deutschen Wirtschaft schreiben in einer im Mai erschienen Studie mit Blick auf ländliche Regionen gar vom „Stabilitätsanker Deutschlands“.

    In gewisser Weise ist die Familie Diem einer dieser Stabilitätsanker. Zum Familienunternehmen gehört nicht nur die Metzgerei in Krumbach, sondern auch der benachbarte Gasthof, der seit 1876 existiert, ein Biergarten, ein Hotel und ein Feinkostladen mit Online-Shop. Gut 30 Mitarbeiter hat das Unternehmen und die ganze Familie hilft mit, neben Vater Karl arbeiten auch seine Frau und beide Söhne in der Firma. Über die Jahre haben die Diems ihr Unternehmen ausgebaut und neue Geschäftsfelder erschlossen. Heute verkaufen sie neben Fleisch und Wurst beispielsweise auch vegane Konserven und Gin.

    Unternehmen wie das der Diems sind wichtige Arbeitgeber und wirtschaftlich prägend in ländlichen Regionen. „Wir finden auf dem Land überdurchschnittlich viele Menschen, die im produzierenden Gewerbe arbeiten“, sagt Lukas Haffert. „Das sind Bevölkerungsgruppen, die in der Tendenz – natürlich nicht alle - eher für konservative Parteien stimmen.“ Außerdem spielt das Thema Eigentum für die Menschen auf dem Land eine größere Rolle als in der Stadt – das eigene Auto, das eigene Haus, das eigene Grundstück. „Themen wie das Heizungsgesetz oder das Verbrenner-Aus kommen da eher schlecht an,“ sagt Haffert. „Und die Mietpreisbremse stößt auf wenig Interesse.“

    Das Lager der Familie Diem stand nach dem Starkregen unter Wasser.
    Das Lager der Familie Diem stand nach dem Starkregen unter Wasser. Foto: Privat

    Geändert hat sich an diesen Einstellungen über die vergangenen Jahre wenig. Und doch ist der Unterschied im Wahlverhalten größer geworden. „War das geografische Profil der Parteien in den 2000ern noch relativ ähnlich, sehen wir spätestens seit der Bundestagswahl 2017 deutliche Polarisierungen“, sagt Lukas Haffert. Das zeigt sich besonders an den Grünen, die in dieser Zeit immer bessere Wahlergebnisse holen – das aber eben vor allem in der Stadt. Auf dem Land dagegen dominieren weiter konservative Parteien. Außerdem konnte sich am rechten Rand die AfD etablieren. Eine Partei, die ihre Hochburgen – siehe Sachsen und Thüringen – in ländlichen Regionen hat.

    Früher ging es um wirtschaftspolitische Konfliktlinien. Heute? Um Klimaschutz und Grenzsicherung

    Diese Entwicklung hat viel mit der Verschiebung gesellschaftlicher Diskurse zu tun. Verliefen die in den frühen 2000er Jahren noch sehr viel deutlicher entlang wirtschaftspolitischer Konfliktlinien mit linken Positionen (starker Sozialstaat, mehr Umverteilung) auf der einen Seite und eher wirtschaftsliberal-konservativen Einstellungen (freie Märkte, wenig Einmischung durch den Staat) auf der anderen, wandelte sich das in den folgenden Jahren immer stärker zu einer kulturellen Auseinandersetzung. Zwischen den sogenannten Kosmopoliten, die für offene Gesellschaften eintreten, für Themen wie Klimaschutz, Gleichberechtigung oder auch gendergerechte Sprache – und überdurchschnittlich häufig in der Stadt leben. Und auf der anderen Seite Kommunitaristen, die sichere Grenzen fordern, Traditionen hochhalten, der Globalisierung zumindest skeptisch gegenüberstehen. Sie wohnen eher auf dem Land. Der Stadt-Land-Graben wurde so – fast nebenbei – zu einer wichtigen politischen Konfliktlinie in westlichen Gesellschaften. 

    Natürlich sind solche Einordnungen immer vereinfachend und generalisierend. Weder in der Stadt noch auf dem Land sind Wählergruppen homogen. Und das heißt eben auch: Auf dem Land können die Grünen durchaus gute Ergebnisse erzielen. Als Max Deisenhofer 2020 als Landrat für Günzburg kandidierte, holte er mehr als 26 Prozent der Stimmen. Damit gewann er zwar nicht die Wahl, erzielte für die Grünen aber ein mehr als respektables Ergebnis. Wie schafft man das? „Man muss zuhören, mit den Menschen ins Gespräch kommen und Themen ansprechen, die sie hier vor Ort umtreiben. Und das können sehr wohl auch grüne Themen sein“, sagt er. „Flächenverbrauch zum Beispiel. Oder wie jetzt: die Folgen des Hochwassers. Denn den Menschen hier ist ja klar, solche Hochwasser werden in Zukunft häufiger kommen und sie verlangen zu Recht, dass der Staat sie schützt.“ Debatten um das Gendern dagegen helfen da wenig.

    Aber auch Persönlichkeit spiele eine Rolle. „Um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, hilft es, wenn die Leute schon wissen, wer du bist, bevor du überhaupt in die Politik gehst“, sagt er. „Hier kannte man mich zum Beispiel aus dem Handballverein oder vom Schafkopfspielen. Und eben nicht zuerst als Politiker oder gar als Grünen.“ Das zeigt sich auch bei den Diems. Hier ist er nicht „Herr Deisenhofer“, hier ist er „der Max“.

    Aber „der Max“ kann nicht immer und überall vor Ort sein. „Da hat die CSU einen Vorteil, sie ist auf dem Land stärker verankert als wir“, sagt Deisenhofer. Das sei nicht nur im Wahlkampf entscheidend, weil mehr Geld und mehr Helferinnen und Helfer zur Verfügung stehen. „Sondern auch, wenn es darum geht, Termine zu besetzen. Die CSU stellt meist auch Bürgermeister und Landrat“, sagt er. „Da fällt es beim Stadtfest nicht auf, dass der Landtagsabgeordnete vielleicht mal nicht da ist. Wir Grünen sind da einfach weniger präsent.“ Der Erfolg, er bedingt sich manchmal auch selbst.

    „Man wird bei der Wahl belohnt, wenn man zeigt, dass man anpackt“, sagt CSU-Mann Fackler

    Einer dieser gut verankerten Politiker ist Wolfgang Fackler. Die Sonne scheint hell in Donauwörth, als Fackler – CSU-Landtagsabgeordneter für den Stimmkreis Donau-Ries, blonde Haare, blaues Polohemd – durch die Innenstadt schlendert. Heute ist Oldtimer-Tag. Menschen aus Donauwörth und Umgebung stellen ihre historischen Autos aus: Alte VW-Käfer in unterschiedlichsten Farben stehen am Straßenrand, Herkules-Motorräder und gleich vier graue DeLoreans nebeneinander, wie man sie aus dem Film „Zurück in die Zukunft“ kennt. Der ganze Tag ist eine einzige Zeitreise durch die Automobilgeschichte und ein Fest für den Verbrennungsmotor.

    Eine Zeitreise durch die Automobilgeschichte: Der Oldtimertag in Donauwörth.
    Eine Zeitreise durch die Automobilgeschichte: Der Oldtimertag in Donauwörth. Foto: Helmut Bissinger

    Wenn man Wolfgang Fackler so durch die Stadt begleitet, bekommt man das Gefühl, er kenne eigentlich jeden. Hier ein Händedruck, da ein „Servus“ und „ach, den Bus kenn ich doch noch vom letzten Mal. Baujahr Anfang 70er, oder?“ Einer der Aussteller will Fackler noch ein besonderes Stück zeigen. „Das wird dir jetzt nicht gefallen“, sagt er. Er zieht ein altes Wahlplakat hervor, selbstgemalt. „Die Grünen in den Kreistag“, steht in bunten Buchstaben darauf. „Hab ich in einem Schuppen gefunden“, sagt er. „Wahrscheinlich aus den 80ern noch.“ Beide lachen. „Und heute sitzen sie in Berlin und München“, sagt Fackler.

    Heute sitzen die Grünen im Kreistag. Bei der vergangenen Wahl im Jahr 2020 holten sie fast 13 Prozent der Stimmen.
    Heute sitzen die Grünen im Kreistag. Bei der vergangenen Wahl im Jahr 2020 holten sie fast 13 Prozent der Stimmen. Foto: Jonathan Lindenmaier

    Sorgen machen um die Konkurrenz muss Fackler sich weder im Kreis- noch im Landtag. Mehr als 40 Prozent wählten in seinem Stimmkreis CSU, in manchen Gemeinden kamen die Christsozialen gar über 50 Prozent. Liegt das nur daran, dass die CSU gut vernetzt ist? Nur an Tradition? Fackler glaubt das nicht. „Man wird bei der Wahl belohnt, wenn man etwas Konkretes erreicht“, sagt er. „Ein Beispiel: Nachdem ich es geschafft habe, 2021 einen neuen Hausarzt nach Wemding zu holen, war mein Erststimmen-Ergebnis dort deutlich höher als im Schnitt.“ Mit reiner Stimmungspolitik komme man nicht weit.

    Doch wird gerade der Stadt-Land-Gegensatz in der Politik gerne genutzt, um Stimmung zu machen. „Nicht Berlin, nicht Kreuzberg, Gillamoos ist Deutschland“, rief zum Beispiel Friedrich Merz in einer Bierzeltrede. „Mir geht es zunehmend auf den Zwirn, dass in manchen Berliner Restaurants die Bedienung nur Englisch spricht“, sagte Jens Spahn in einem Interview. Und Annegret Kramp-Karrenbauer beschwerte sich: „Wer war denn von euch vor Kurzem mal in Berlin, da seht ihr doch die Latte-Macchiato-Fraktion, die die Toiletten für das dritte Geschlecht einführen.“

    Dass gerade der Stadt-Land-Gegensatz so ausgeschlachtet wird, wundert den Politiologen Lukas Haffert nicht. „Der Wohnort, die Heimat, ist für viele Menschen identitätsstiftend“, sagt er. „Das zeigt sich zum Beispiel im Fußballstadion, wenn man für den lokalen Verein jubelt, aber eben auch in der Politik.“ Auffällig sei aber schon, dass diese Form der Agitation meist gegen die Stadt geht. „Dass ein Politiker sich auf die Bühne stellt und gegen das Land wettert, ist unvorstellbar“, sagt Haffert. „Die Stadt steht dabei stellvertretend für ‚Eliten‘, für ‚die da oben‘.“

    Fackler trägt sich bei einem der Aussteller in das Besucherbuch ein.
    Fackler trägt sich bei einem der Aussteller in das Besucherbuch ein. Foto: Jonathan Lindenmaier

    Von populistischen Parolen hält Wolfgang Fackler wenig. „Damit erntet man vielleicht kurz Applaus, Wahlen gewinnt man langfristig so nicht“, sagt er. Im Gegenteil. Es sei ja gerade die Stärke der CSU, dass sie viele unterschiedliche Menschen hinter sich vereint. „Damit tragen wir ja dazu bei, dass Stadt und Land eben nicht auseinanderdriften wie anderswo. Eben weil wir noch eine klassische Volkspartei sind.“ Natürlich seien auch hier die Menschen unzufrieden mit der Politik in Berlin oder München. „Aber ein langjähriger ehemaliger Bürgermeister hat mir mal gesagt: Solange der Bürger sich noch bei dir beschwert, weiß er, dass du noch was für ihn tun kannst“, sagt er. Ähnlich sieht das Maximilian Deisenhofer. „München ist weit weg von Krumbach, umso wichtiger ist es, dass wir vorbeikommen und zuhören.“ Auch, wenn er die Diems nicht wirklich von den Hochwasserhilfen überzeugen kann: Mehr als einmal bedankt sich die Familie für den Besuch. „Es hat mich wirklich gefreut, dass du bei uns angeklopft hast“, sagt Karl Diem. „Das bedeutet uns viel.“

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare

    Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.

    Registrieren sie sich

    Sie haben ein Konto? Hier anmelden