Seit drei Jahren begleitet Christine Wiedenmann die Schülerin Irina Tag für Tag in den Unterricht. Gerade haben die beiden den Wechsel von der Grundschule auf eine Mittelschule hinter sich. Das Mädchen lebt mit einer Beeinträchtigung. Mit welcher, möchte ihre Familie nicht veröffentlicht wissen, genauso wenig Irinas richtigen Vornamen. Nur so viel: Ohne ihre Schulbegleiterin könnte sie vermutlich nicht auf einer Regelschule lernen.
Die beiden treffen sich schon vor Unterrichtsbeginn an Irinas Schule im Allgäu. Wiedenmann gibt dem Mädchen Sicherheit, ein vertrautes Gesicht im großen Schulhaus. „An so einem Morgen gibt es so viel zu beachten“, erklärt die 46-Jährige, die früher einmal Grundschullehramt studiert hat. „Ist die Brille da, die Hefte, das Mäppchen, was steht auf dem Stundenplan? Für Irina wäre das alleine zu viel.“
Allein in Schwaben haben mehr als 900 Kinder eine Schulbegleitung
Dass sie alleine große Schwierigkeiten in der Schule hätten, das gilt für immer mehr Kinder in Schwaben. Nach Angaben des Bezirks ist die Zahl derer, die in der Schule oder Vorschule eine Hilfsperson brauchen, innerhalb eines Jahres um ein Viertel gestiegen. Hatten zum Stichtag am 31. März 2023 noch 725 Kinder eine Schulbegleitung in Anspruch genommen, waren es zum gleichen Datum dieses Jahres schon 915. In der Regel ist jede Schulbegleitung für ein einzelnes Kind zuständig. Der Anstieg wirkt sich auf die Bezirksfinanzen aus. Seit dem Haushaltsjahr 2021 sind die Ausgaben für Schulbegleitungen von gut 19,6 Millionen Euro auf zuletzt gut 30 Millionen gestiegen. Dabei finanziert der Bezirk Begleitpersonen bei körperlichen Beeinträchtigungen, bei psychiatrischen Diagnosen sind die Jugendämter zuständig. Die schulischen Helferinnen und Helfer sind bei verschiedenen Trägern angestellt, Christine Wiedenmann etwa bei der Kolping Akademie.
Die Probleme der betroffenen Kinder sind vielfältig: Autismus und ADHS machen häufig eine Schulbegleitung nötig - aber auch Defizite beim Hören oder dem Sehvermögen. Manche Kinder haben schlicht Angst, alleine die Schule zu betreten. Schulbegleitungen helfen, Lernziele zu erreichen und soziale Kontakte zu knüpfen. Ganz wichtig aber, das betont die Allgäuer Schulbegleiterin Wiedenmann: „Irina soll weder in Bequemlichkeit verfallen noch von mir abhängig sein. Das Ziel ist, dass sie selbst erkennt, was sie zu tun hat, dass sie mit der Mehrheit in ihrer Klasse mithalten kann.“
Wie viel Zeit ihr Job in Anspruch nimmt, sei sehr unterschiedlich, sagt die 46-Jährige, selbst Mutter eines Sohnes im Grundschulalter. Im Schnitt dürften es in Schulwochen etwa 26 bis 28 Stunden sein. „Während der ersten beiden Jahre war es sehr anstrengend“, erinnert sie sich. Wiedenmann saß mit Irina an ihrem Platz, hatte von der Schere bis zum Kleber alles doppelt dabei, was das Mädchen vielleicht brauchen konnte. „Ich musste dem Unterricht folgen und die Inhalte parallel vereinfacht an Irina weitergeben.“ Gleichzeitig musste sie sich an die Begrifflichkeiten der Lehrkraft halten, um das Mädchen nicht zu verwirren.
Warum immer mehr Kinder auf eine Schulbegleitung angewiesen sind, dazu gibt es viele Vermutungen und keine Statistik. Stefanie Bieneck, Leiterin des Bereichs Schule, Jugend- und Familienhilfe an der Kolping Akademie in Memmingen, hat zumindest Indizien. „Wir vermuten eine Kombination aus mehreren Faktoren“, sagt Bieneck. Früher besuchten etwa Kinder mit einer körperlichen Beeinträchtigung oft die Förderschule. „Heute wird der Inklusionsgedanke groß geschrieben, man fragt sich intensiver: Könnte das Kind auf einer Regelschule mithalten? Wenn ja, ermöglicht eine Schulbegleitung in vielen Fällen deren Besuch.“ Außerdem habe sich die medizinische Diagnostik verbessert, Beeinträchtigungen würden oft früher erkannt und Fördermaßnahmen früher ergriffen.
„Soziale Ängste und Angststörungen haben merklich zugenommen.“
Stefanie Bieneck, Familienexpertin der Kolping Akademie
Die Kolping-Expertin geht davon aus, dass auch die Nachwirkungen der Coronapandemie verantwortlich für die Entwicklung sind. „Zwei Jahre lang hat Schule nicht regulär stattgefunden“, sagt Bieneck. „Soziale Ängste, Angststörungen haben seitdem merklich zugenommen.“ Auch dann können Eltern den Antrag auf eine Schulbegleitung stellen.
Was für die Inklusion fortschrittlich ist, stellt den Staat vor Herausforderungen. Wie Bezirkstagspräsident Martin Sailer (CSU) kürzlich im Interview mit unserer Redaktion betonte, sah sich der Bezirk noch im Oktober einem Finanzloch von 250 Millionen Euro ausgesetzt. Vor allem die Sozialausgaben und Personalkosten sind demnach in die Höhe geschnellt. Sailer forderte daher mehr finanzielle Hilfe vom Freistaat. Gleichzeitig sagt Kolping-Expertin Bieneck über Schulbegleitungen: „Für einen großen Teil dieser Kinder ermöglicht die Begleitung überhaupt erst einen Schulbesuch.“
Schulbegleitung: Pädagogisches Vorwissen ist nicht nötig
Zwar lernen Schulbegleitungen in Workshops, wie sie „ihren“ Kindern behilflich sein können, doch pädagogische Vorkenntnisse brauchen sie nicht. Christine Wiedenmann, Irinas Helferin im Allgäu, ist dennoch jeden Tag dankbar für das Vorwissen aus ihrem Lehramtsstudium. „Ich wünsche mir zugunsten der Qualität, dass man eine pädagogische Vorqualifikation zur Voraussetzung macht - oder eine solche Fortbildung berufsbegleitend anbietet.“ Wenn für Irina der Gong zum Schulschluss ertönt, ist Wiedenmanns Arbeitstag nicht zu Ende. Mindestens einmal pro Woche dokumentiert sie ihre Beobachtungen. „Ich stehe mit den Lehrkräften, den Eltern und mit meiner Chefin bei Kolping in regelmäßigem Austausch. Bei mir als Schulbegleitung, so könnte man sagen, laufen alle Fäden zusammen.“ Mit Irinas Mutter habe sie „ein sehr offenes Verhältnis - sie ist dankbar für die Unterstützung“.
Das große Ziel ist, dass Irina irgendwann alleine klarkommt. Schon jetzt wolle sie oft beweisen, dass sie etwas auch ohne fremde Hilfe schafft, erzählt Wiedenmann: „Hast du gemerkt, in den letzten zwei Tagen habe ich gar nichts von dir gebraucht, sagt sie dann zum Beispiel. Das macht mich glücklich.“
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