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So anstrengend ist für Rollstuhlfahrer eine Reise mit der Bahn

Lesetipp

Eine Bahnfahrt im Rollstuhl: Luca Ram lässt sich nicht vergessen

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    Luca Ram sitzt im Rollstuhl – und ist gerade am Augsburger Hauptbahnhof gestrandet.
    Luca Ram sitzt im Rollstuhl – und ist gerade am Augsburger Hauptbahnhof gestrandet. Foto: Paulus

    Und jetzt ist er da. Am Gleis acht am Augsburger Hauptbahnhof sitzt ein junger Mann im Rollstuhl, der geschlossene Kragen seiner Jacke und der Schirm seiner Mütze verdecken den Blick auf sein Gesicht, nur seine Hand mit dem Handy darin, das er sich ans Ohr hält, ist zwischen seiner Kleidung zu erkennen. Das ist Luca Ram, der sich Hilfe ruft, auf seinem Weg von Landsberg nach Augsburg-Lechhausen. Würde Ram mit dem Auto in die Redaktion der Augsburger Allgemeinen fahren, wäre er schon lange da. So aber wird seine Reise noch fast eine Stunde dauern. Die meiste Zeit davon muss er warten.

    Um 6 Uhr sei er aufgestanden, erzählt er im Zug, der um kurz nach 8 Uhr von Landsberg nach Augsburg gestartet ist. "Bei mir dauert auch daheim morgens alles etwas länger", berichtet er. Begonnen hat seine Reise ohnehin schon lange vorher. Drei Tage vor Abfahrt meldet er sich bei Bus und Bahn an, denn immer wieder braucht Ram Hilfe auf seiner Fahrt. Damit er die auch bekommt, müssen die Unternehmen wissen, dass er an Bord ist. Also füllt der 19-Jährige ein Formular aus, damit ihm Helfer geschickt werden können. Spontan jemanden mit der Bahn besuchen? Für ihn gar nicht so einfach. Die Bahn gibt an, um 20 Uhr des Vorabends brauche es eine Anmeldung. "Das funktioniert aber leider nicht immer", sagt Ram. "Deswegen mache ich das lieber zur Sicherheit drei Tage davor."

    Wie ein Rollstuhlfahrer eine Bahnfahrt nach Augsburg erlebt

    Ram hat kürzlich die Schule beendet. Was er einmal arbeiten wird, weiß er noch nicht, aktuell sammelt er erste Berufserfahrungen. Was Ram schon weiß: Er schreibt gerne, ist neugierig und nicht dazu bereit, Ungerechtigkeiten hinzunehmen. Gute Voraussetzungen, um ein Journalist zu sein – also macht er ein Praktikum in unserer Redaktion. Doch wenn niemand aus seiner Familie ihn fahren kann, ist Ram auf Bus und Bahn angewiesen.

    So wie heute. Er wohnt in Landsberg und könnte auch im Homeoffice arbeiten, zumindest gelegentlich. Doch er besteht darauf, vor Ort zu sein. "Das ist besser", sagt er. "Da bekomme ich mehr mit, kann einfacher Fragen stellen oder mitreden." Um vor Ort zu sein, nimmt er einiges in Kauf, das frühe Aufstehen, eine Zug- und zwei Busfahrten pro Strecke, Enttäuschungen, manchmal sogar Schmerzen und einige Demütigungen. So wie manche Blicke in der Bahn. "Aber die nehme ich schon gar nicht mehr wahr", erzählt Ram. Und manchmal schafft er es nicht einmal ans Ziel – so wie neulich. "Der Bus kam einfach nicht", sagt Ram. Er schafft es nicht einmal aus Landsberg hinaus, geschweige denn nach Augsburg. Ram muss wieder zurück nach Hause.

    Luca Ram ist als Praktikant in unserer Redaktion. Er sitzt im Rollstuhl und ist oft auf Bus und Bahn angewiesen.
    Luca Ram ist als Praktikant in unserer Redaktion. Er sitzt im Rollstuhl und ist oft auf Bus und Bahn angewiesen. Foto: Christof Paulus

    Aber das sei die Ausnahme. Eigentlich laufe es mit den Bussen in Landsberg ganz gut. Heute auch. Um 8 Uhr erreicht er den Bahnhof, schiebt sich zum Gleis, und wartet auf den Zug nach Augsburg. Der kommt, Ram kann ohne Hilfe in den Zug rollen und stellt sich sofort auf den freien Platz für Rollstühle. Ein Blick aufs Handy: Ram checkt die Mail, in der ihm bestätigt wird, dass in Augsburg eine Mobilitätshilfe der Deutschen Bahn auf ihn wartet, die ihn aus dem Bahnhof bringt. Der Zug fährt los.

    Rollstullfahrer aus Landsberg erzählt: Viele Arbeitsplätze in der Region nicht barrierefrei

    Unter anderen Umständen hätte Ram gar nicht so weit fahren müssen. Für Praktikanten, die wie er erste journalistische Erfahrungen sammeln, ist die Mantelredaktion der Augsburger Allgemeinen in der Regel nicht die erste Station. Am meisten zu lernen und zu arbeiten gibt es für sie in den Lokalredaktionen, von denen es mit dem Landsberger Tagblatt auch eine in Rams Heimat gibt. Doch aus dem Büro am Lechufer kann er nicht arbeiten: Es ist nicht barrierefrei. Also fährt er ins fast 50 Kilometer entfernte Augsburg. Die Infrastruktur ist ein Problem, das nicht nur unsere Redaktion hat.

    Bei einem Automobilhersteller habe er als Praktikant gearbeitet, sagt Ram. Doch er landete in der Mechatronikabteilung – obwohl er zu den Fertigungsmechanikern wollte und ihm das zugesagt war. "Kurzfristig ging das dann doch nicht, aber ich weiß nicht, wieso man das nicht früher gemerkt hat", sagt er. Bei anderen Bewerbungen beginnen die Probleme schon weit vorher. "Manche denken, nur weil ich im Rollstuhl sitze, dass ich auch geistig behindert bin", erzählt Ram. Ein Vorurteil, dass er auch auf dieser Reise noch zu spüren bekommen wird.

    Schon mit Verspätung, die er sich unterwegs eingefangen hat, erreicht der Zug Augsburg. Menschen laufen an Ram vorbei, der erst alle aussteigen lässt. Manche steigen beim Passieren im engen Gang über seine Füße, die von einem Bügel umgeben sind. Den hat sein Vater kürzlich an den Rollstuhl montiert. "Einige passen nicht auf", sagt Ram. Wenn sie dann über seine Füße stolpern, tut auch ihm das weh. Jetzt ist er geschützt.

    Ein Bügel am Rollstuhl schützt Luca Rams Füße vor Zusammenstößen und Unfällen.
    Ein Bügel am Rollstuhl schützt Luca Rams Füße vor Zusammenstößen und Unfällen. Foto: Christof Paulus

    Inzwischen ist ein Zugbegleiter bei Ram angelangt. Anders als in Landsberg kann er hier nicht alleine den Zug verlassen, der Höhenunterschied zwischen Gleis und Ausstieg ist zu groß. Also montiert der Zugbegleiter eine Rampe. Zwei, drei Handgriffe sind das, er legt die Enden auf den Boden und fixiert die Rampe schnell am Zug, sodass Ram hinausrollen kann. In Augsburg ist Ram damit angekommen. An seinem Ziel aber noch nicht.

    Jedes Mal, wenn Ram einen Anschluss verpassen könnte, bangt er darum, dass der Mobilitätsservice am Bahnhof verspätet für ihn nicht mehr zur Verfügung steht. Jeder Umstieg kann für ihn zum Stress werden: Kommt er ebenerdig aus dem Zug? Oder wo sind die Leute, die ihm helfen sollen?

    Zwei, drei Minuten schaut Ram am Augsburger Bahnhof den Bahnsteig hinauf und hinab, bevor er das Handy aus der Tasche zieht. "Die haben mich wieder vergessen", sagt er. "Das kommt öfter vor." Warteschleifenmusik erklingt am Handy. Es dauert Minuten, bis Ram mit jemandem sprechen kann. "Doch, ich habe es angemeldet", spricht er in den Hörer. "Doch. Doch. Okay. Ja, ich warte." Zwei Mitarbeiter der Bahn am Gleis haben mitgehört. "Sie brauchen die Mobilitätshilfe?", fragt ihn einer. "Also fürs nächste Mal: Sie können den Bahnhof auch alleine verlassen", will er ihm dann erklären.

    So ist der Stand beim barrierefreien Ausbau am Bahnhof in Augsburg

    Wegen des Umbaus sind am Augsburger Bahnhof aktuell mehrere Durchgänge gesperrt, die barrierefreien Aufzüge funktionieren noch nicht. Tatsächlich könnte Ram über eine Rampe und einen Tunnel den Nordausgang des Bahnhofs erreichen, wie ihm der Bahn-Mitarbeiter erklärt. Doch zum Nordausgang will Ram gar nicht, sondern zum Vorplatz, wo er einen Bus erwischen muss. Also tut er das, was er oft tut, um zu seinem Recht und seiner Hilfe zu kommen: Er ist klar und bestimmend, und pocht auf einen Helfer. Den Weg zur Rampe muss er so trotzdem machen, um mit einem Lastenaufzug auf Gleis eins mit Zugang zur Bahnhofshalle zu kommen. Doch den langen Umweg rund um den Bahnhof, wie vom DB-Mitarbeiter vorgeschlagen, spart er sich.

    Bald soll alles besser werden: "Noch 2023 wird der Augsburger Hauptbahnhof für die Fahrgäste vollständig barrierefrei sein", teilt die Bahn auf Anfrage unserer Redaktion mit. Das erleichtere das Bahnfahren für alle – ob Rollstuhlfahrerin oder Familie mit Kinderwagen.

    "Was machst du in Augsburg?", fragt der Mitarbeiter Ram. "Ach, du hattest schon Texte in der Zeitung? Dann kannst du dich bestimmt gut ausdrücken", hakt er nach. "Ich bin auch nicht geistig behindert", sagt Ram. Der Mann fühlt sich ertappt. So habe er das nicht gemeint, schließlich gebe es auch viele "Normale", die Probleme mit der Sprache hätten, will er fortfahren – aber normal, das sei Ram ja auch, sieht er dann schnell ein. "Er hat es sicher gut gemeint, war vielleicht etwas überfordert", bewertet Ram die Situation später. Doch etwas abgestempelt fühlt er sich schon. Und hat das Gefühl, dass ihm die Schuld an der Lage gegeben werden soll.

    Wie Mobilitätshelfer an Bahnhöfen unterstützen sollen

    Auch der Bahn-Mitarbeiter will ihn noch einmal aufklären, wie und wann eine Mobilitätshilfe zu beantragen ist. Alles längst getan, hakt Ram ein. "Wollen Sie die Bestätigung sehen?", fragt er und greift nach seinem Handy. "Nein, nein", entgegnet der Mann schnell. Es tue ihm leid, dass bei der Ankunft keiner da war. Offenbar sei der Mobilitätshelfer schon an einem anderen Gleis gewesen und habe Ram deshalb nicht gesehen, da der Zug später und auf einem anderen Gleis einfuhr. Aber man tue sein Bestes.

    Rund eine halbe Stunde dauert es, bis Ram den Bahnhof verlassen kann. Zwei junge Frauen holen ihn ab, begleiten ihn zum Lastenaufzug und zum Hauptausgang. Der 44er-Bus soll ihn jetzt in Richtung Lechhausen und Hammerschmiede bringen. Der Bus fährt ein, die Fahrerin steigt aus, klappt die Rampe auf und lässt Ram hineinfahren. Er kommt auf seinem Platz im mittleren Teil des Busses zum Halten und zieht die Bremse an seinen Rädern fest. Kürzlich half ihm das aber nichts, wie er erzählt: Ein Busfahrer stieg so hart auf die Bremse des Busses, dass Ram nach vorn rutschte. So hart und so fest, dass er gegen eine Glaswand knallte. Dabei verletzte er sich am Fuß. Auch dagegen schützt ihn nun der Bügel am Rollstuhl.

    Und ab und zu kann er nicht einmal mitfahren: "Wenn Busfahrer manchmal im Stress sind, haben sie keinen Bock auf mich", erzählt Ram. Dann rauschten sie vorbei oder hielten nur kurz, ohne die Rampe am Bus zu montieren. Ram kommt dann nicht hinein. Und muss auf den nächsten Bus warten.

    Luca Ram auf seinem Weg vom Augsburger Hauptbahnhof mit dem Bus durch die Stadt.
    Luca Ram auf seinem Weg vom Augsburger Hauptbahnhof mit dem Bus durch die Stadt. Foto: Christof Paulus

    Halb 11 ist schon vorbei, Ram hat sein Ziel erreicht. Die Bilanz der Reise: Mit dem Auto hätte er es in einer Dreiviertelstunde von Tür zu Tür geschafft. Regulär dauert eine Verbindung mit Bus und Bahn schon mehr als doppelt so lange. Zugverspätung und Wartezeit am Hauptbahnhof kosteten Ram heute wieder rund 60 Minuten. Drei Stunden, nachdem er das Haus verlassen hat, ist er an seinem Ziel. Und was all diese Zahlen nicht ausdrücken können: die Nerven, die jede dieser Reisen kostet.

    Er weiß, dass er manchmal andere braucht, um voranzukommen. Aber wer braucht das nicht? Nur, dass Ram sich die Hilfe holen und einfordern muss, statt sie einfach zu bekommen. Aus der Spur bringt ihn das nicht. Er will ja ans Ziel kommen. 

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