Startseite
Icon Pfeil nach unten
Bayern
Icon Pfeil nach unten

Schulstart in Bayern 2024: Brief von Schulpädagoge Klaus Zierer an Erstklässler

Gastbeitrag zum Schulanfang

Liebe Kinder, Schule kann der schönste Ort der Welt sein

    • |
    • |
    134.000 Erstklässlerinnen und Erstklässler haben an diesem Dienstag ersten Schultag.
    134.000 Erstklässlerinnen und Erstklässler haben an diesem Dienstag ersten Schultag. Foto: Rolf Vennenbernd, dpa

    Vor über 70 Jahren schrieb Erich Kästner in seiner Ansprache zum Schulbeginn auf, was aus seiner Sicht für die nächste Generation wichtig war. Doch die Zeiten ändern sich. Nach Jahren des Aufstieges folgt eine Krise auf die andere. Der Ruf, das Bildungssystem müsse Verantwortung übernehmen, ist unüberhörbar.

    Derweil steckt es selbst in einer Krise, wie Pisa-Ergebnisse, Verwerfungen nach rechts und nach links sowie ein Digitalisierungswahn zeigen. Der Reformbedarf ist groß und Verantwortliche laufen Gefahr, den Blick fürs Wesentliche zu verlieren. Es ist also an der Zeit, mit einer neuen Ansprache zum Schulbeginn zu reagieren.

    Liebe Kinder,

    hier sitzt ihr nun: voller Erwartung, was auf euch zukommen mag. Dem Einen ist der Stuhl schon zu klein, dem Anderen noch zu groß. Doch euch allen ist die Freude gemein, endlich in die Schule gehen zu dürfen. Eure Augen leuchten! Wie recht ihr habt: Schule kann der schönste Ort der Welt sein.

    Lasst euch diese Freude nicht austreiben! Nur allzu viele verlieren sie, weil ihnen gesagt wird oder sie sich selbst einreden, die Schule sei das Wichtigste. Ohne Zweifel ist die Schule wichtig. Aber ihr lernt nicht für die Schule, sondern für das Leben. Das ist mein erster Ratschlag, ohne euch belehren zu wollen. Nachdenken sollt ihr, dafür ist die Schule da. Habt also den Mut, euren Verstand zu bedienen. Auch wenn ihr noch klein seid, denken kann der Mensch von Anfang an.

    Natürlich wollt ihr Lesen, Schreiben und Rechnen lernen und die Aussichten dafür stehen gut. Aber das Leben bietet so viel mehr. Da sind vor allem die vielen Menschen, denen man im Leben begegnet. Schaut bitte nach rechts und links. Wer sich wohl hinter den unbekannten Gesichtern verbirgt?

    Behaltet eure Neugier und fragt immerzu!

    Klaus Zierer, Schulpädagogik-Professor

    Dieser Fragen gibt es mehr: Wer bin ich und wer bist du? Woher kommen wir und warum sind wir? Warum lesen, rechnen, schreiben wir? Warum spielen, musizieren und zeichnen wir? Fragen sind wichtiger als Antworten, weil ohne Fragen Antworten keinen Sinn ergeben. Diese Neugier zeichnet euch Kinder aus. Während Erwachsene schon müde vom Leben sind, verbirgt sich für eure Augen hinter allem noch etwas Neues. Behaltet euch diese Neugier und fragt immerzu! Es gibt keine falschen Fragen, sondern nur falsche Antworten.

    So mancher rückt jetzt unruhig hin und her, weil er Unbehagen verspürt – ich sehe mich selbst noch dasitzen: Falsche Antworten sind doch in der Schule ein Fehler und damit schlecht? Wer euch so etwas erzählt, ist ein Dummkopf. Denn nur wer Fehler macht, lernt. Sie zeigen euch, was ihr schon wisst und was ihr noch nicht kennt. Heißt also eure Fehler willkommen. Nur mehrmals solltet ihr ein- und denselben Fehler nicht machen.

    Übt daher auch regelmäßig und arbeitet gewissenhaft! Nicht umsonst heißt es: Übung macht den Meister. Harte Arbeit ist die Basis des Erfolges und der Freude. Strebt dabei nach der goldenen Mitte: Übt nicht zu viel und nicht zu wenig, arbeitet nicht zu schnell und nicht zu langsam.

    An dieser Stelle muss ich euch warnen. Denn in der Schule werden Fragen gestellt, die euch auf den ersten Blick abwegig erscheinen: Wen interessiert das denn, werdet ihr bald denken. Seid hier offen! Manchmal zeigt sich auf den zweiten Blick erst das Besondere, das Interessante, das Faszinierende. Diese Fragen werden früher oder später auch benutzt, um euch Noten zu geben. Leider ist uns Erwachsenen bis heute noch nichts Besseres eingefallen, um euch einzuteilen. Seht Noten aber nie als Aussage über euch. Noten sind nur eine Aussage über das, was ihr an einem bestimmten Tag gekonnt habt. Sie beschreiben immer nur eure Leistung, aber nie euch selbst.

    Klaus Zierer, Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg.
    Klaus Zierer, Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg. Foto: Schulwerk der Diözese Augsburg

    Kein Spielen mehr, nur noch Lernen? Keine Sorge! Spielen und Lernen sind wie Bruder und Schwester. Macht euch das bewusst und versucht auch immer dann, wenn es ernst wird, das Spielen nicht zu vergessen. Der Mensch kann nicht immer lernen, spielen sollte er aber täglich.

    Sagt das auch euren Eltern, nehmt sie mit zum Spielen und gebt auf eure Eltern Acht. Ihr wisst es ja schon: Sie sind nicht perfekt und machen auch Fehler. Ab und zu ein Hinweis, wie es euch geht und wie ihr das seht, ist für sie wichtig.

    Und Sie, liebe Eltern, hören Sie zu und lassen Sie Ihre Kinder erzählen. Nur so können Sie erfahren, was Ihr Kind wirklich braucht. Hüten Sie sich davor, in Ihr Kind alle Erwartungen hineinzulegen, die Ihnen wichtig sind. Seien Sie geduldig und geben Sie Ihrem Kind Zeit: Zeit zum Wachsen. Wer zu stark zieht, reißt etwas ab.

    Das gilt auch für Sie, liebe Lehrer. Ihnen werden heute neue Kinder anvertraut. Denken Sie bitte immer daran, dass die Stunden, die Sie schon mehrfach unterrichtet haben, für die Kinder Neuland sind. Machen Sie sich also die Mühe und erklären sie, wofür man Ihr Wissen eines Tages brauchen wird. Als Lehrer müssen Sie sich immer wieder neu erfinden.

    Auch Lehrer irren.

    Klaus Zierer, Schulpädagogik-Professor

    Liebe Kinder, zeigt euch daher verständnisvoll gegenüber euren Lehrern. Auch sie irren. Gebt Ihnen daher fleißig Rückmeldung und seht es nicht als selbstverständlich, wenn alles gut läuft. Ein Lehrer freut sich, wenn er Anerkennung erhält. Schickt also ein Lächeln auf die Reise und ihr werden sehen: Es kommt vielfach zurück.

    Achtet also einander! Die Gemeinschaft verbindet und trägt – in der Schule und ein Leben lang. Schätzt euch also, ohne blind zu werden. Diskutiert, ja streitet, aber vertragt euch wieder.

    Noch ein letzter Gedanke: Ihr bekommt es sicher mit, dass die Welt aus den Fugen geraten ist, durch Kriege, Umweltkatastrophen und Leid. All das soll euch nicht gleichgültig sein, aber es soll euch auch nicht das Vertrauen nehmen, dass die Welt im Innersten gut ist. Vor allem das sollt ihr in der Schule lernen. Nutzt also in diesem Sinn den Tag!

    Zur Person: Klaus Zierer, 48, ist seit 2015 Inhaber des Lehrstuhls für Schulpädagogik an der Universität Augsburg und Buchautor. Er ist einer der bekanntesten Pädagogik-Experten Deutschlands.

    Diskutieren Sie mit
    1 Kommentar
    Gerold Rainer

    Ich finde es erschütternd, wie ein Herr Zierer als Experte für Schulpädagogik die Realität ausblendet. Schule kann zur Hölle auf Erden werden, wenn die Lehrer wegschauen und die gewaltbereiten das Faustrecht ungestraft anwenden können. Lehrer und Eltern, die aus Desinteresse oder Feigheit wegschauen, machen sich zu Mittätern. Das zweite Problem sind Kinder, die keine ausreichenden Deutschkenntnisse mitbringen, um dem Unterricht folgen zu können. Diese beiden Sachen müssen erst einmal stimmen, es ist nicht Aufgabe der Schule, Gewinner und Verlierer heranzuzüchten.

    Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.

    Registrieren sie sich

    Sie haben ein Konto? Hier anmelden