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Bilanz: Sechs Fragen, sechs Antworten: So muss Schule sich ändern

Welche ist die richtige Bildung für ein gutes Leben? Eine niemals unzeitgemäße Frage.
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Sechs Fragen, sechs Antworten: So muss Schule sich ändern

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    Was war das für ein Schuljahr! Zu Beginn, im September 2022, teils noch mit Maske im Klassenzimmer. Corona verlor seinen Schrecken, das Gespenst namens Lehrkräftemangel spukt bis heute herum. Dann diese ernüchternde Studie: Jeder vierte Viertklässler kann nicht richtig lesen – ein Schock. Seit ein paar Monaten stellt auch noch ChatGPT den Unterricht auf den Kopf. Nun ist es Zeit, Bilanz zu ziehen – anhand von sechs großen Themenfeldern. 

    Noten, Tests und Hausaufgaben: Alles auf den Prüfstand?
    Noten, Tests und Hausaufgaben: Alles auf den Prüfstand? Foto: Silas Stein, dpa (Symbolbild)

    Sind Hausaufgaben, Prüfungen und Noten in der jetzigen Form noch zeitgemäß? Diese Frage ist angesichts der rasanten Entwicklung künstlicher Intelligenz (KI) aktueller denn je. Denn wenn Schülerinnen und Schüler gestellte Aufgaben etwa mithilfe von ChatGPT lösen, lernen sie dann überhaupt noch etwas und ist ihre Benotung aussagekräftig? 

    Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV), sagt: "Das bulimische Lernen hat ausgedient." Damit gemeint ist das kurzfristige Auswendiglernen von Inhalten, die danach schnell wieder vergessen werden. Viel wichtiger sei die Kompetenzorientierung, die bereits seit 2014 im bayerischen Lehrplan steht: also die Fähigkeit, Gelerntes zu verstehen und anwenden zu können. In der Praxis ist die Theorie noch nicht immer Realität. Im Unterricht und in den Hausaufgaben müsse angewandtes Wissen geübt werden, um dann in Prüfungen in Form von Transferaufgaben vermehrt abgefragt zu werden, findet Fleischmann. Ergänzend dazu wünscht sich Heinrich Ritter, Landesschülersprecher der bayerischen Gymnasien, dass die KI an Schulen nicht verteufelt, sondern der richtige Umgang damit gelehrt wird. Man könne nicht vermeiden, dass Kinder und Jugendliche die Programme verwenden – da sei es besser, Tipps zu geben und die Art und Weise, wie gelernt wird, damit zu aktualisieren. Sowohl Ritter als auch Fleischmann sehen darin eine wichtige Vorbereitung auf die Berufswelt. 

    Auf Übung und Hausaufgaben folgt die Prüfung, auf die Prüfung die Note – ebenfalls ein strittiges Thema. Auf der einen Seite steht unter anderem Bayerns Kultusminister Michael Piazolo (Freie Wähler), der am aktuellen System festhält. Er sagte kürzlich: "Ich bin der Auffassung, dass wir Noten brauchen und viele Schülerinnen und Schüler Noten auch wollen."

    Auf der anderen Seite gibt es zum Beispiel den BLLV, der sich für ein differenzierteres Feedback ausspricht, als es bloße Ziffern leisten könnten. Regelmäßige Rückmeldungen seien wichtig, damit die Kinder und Jugendlichen einschätzen können, was sie verbessern müssen. Die reine Note hingegen würde enormen Druck erzeugen und demotivieren, heißt es vom größten Lehrkräfteverband in Bayern. Klar sei aber auch, dass Noten nicht von heute auf morgen abgeschafft werden könnten. Dafür müsste sich das ganze Schulsystem anpassen. Für den Landesschülersprecher Heinrich Ritter müsste sich vor allem verändern, was benotet wird. Aus seiner Sicht sollten zum Beispiel Mündliches und Teamwork mehr im Fokus stehen.

    Schule bis zum Nachmittag - ein Modell der Zukunft?
    Schule bis zum Nachmittag - ein Modell der Zukunft? Foto: Jens Kalaene, dpa (Symbolbild)

    Beim Ausbau der Ganztagsangebote hinkt Bayern im Bundesvergleich hinterher. Eine Studie des deutschen Familienministeriums zeigte jüngst für die Grundschulen, dass zuletzt nur 36 Prozent der Schülerinnen und Schüler Ganztagsmodelle in Anspruch nahmen – aber 59 Prozent der Eltern Bedarf angemeldet hatten. 

    Über alle Schularten hinweg gab es im Schuljahr 2022/23 bei insgesamt rund 6370 Schulen in Bayern an 2265 ein sogenanntes offenes Ganztagsangebot. Schülerinnen und Schüler verbringen dabei täglich mindestens sieben Stunden an der

    Schule von wann bis wann? Das tangiert auch die richtige Uhrzeit für den Schulbeginn. Die Schlafforschung belegt, dass sich bei Schülerinnen und Schülern die innere Uhr im Teenager-Alter vom „frühen Vogel“ zum „Spättyp“ entwickelt. Sprich: Würde Schule später beginnen als um acht Uhr, käme vielen das rein wissenschaftlich zugute. Umfragen unter Kindern und Jugendlichen ergaben aber, dass ihnen im Zweifel ein freier Nachmittag noch wichtiger ist, als morgens eine Stunde länger zu schlafen. 

    Neuer Schulstoff für eine neue Lebenswelt?
    Neuer Schulstoff für eine neue Lebenswelt? Foto: Daniel Reinhardt, dpa (Symbolbild)

    Bayerns Kultusminister mahnt, dass Schulen sich wieder auf ihre "Kernkompetenzen" konzentrieren müssten, der Deutsche Lehrerverband will Grundschul-Englisch abschaffen. Natürlich dreht sich die öffentliche Debatte letztlich immer um die eine große Frage: Welche Inhalte braucht es, um Kinder und Jugendliche auf die Welt da draußen vorzubereiten? 

    Klaus Zierer spricht sich als Professor für Schulpädagogik an der Universität Augsburg für eine "Entrümpelung und Neugewichtung" des Schulstoffs aus. Mathe und Deutsch hätten durchaus ihre Wichtigkeit. Doch seiner Meinung nach sollte mehr Platz für Kunst, Musik und Sport geschaffen werden – Fächer, in denen Schülerinnen und Schüler lernen, wie man kooperiert, reflektiert und in denen sie ihre Persönlichkeit entwickeln können. Dazu komme, dass aktuelle Themen wie Nachhaltigkeit und Demokratiefähigkeit stärker behandelt werden müssten, so Zierer. Um solche Inhalte tiefgehend vermitteln zu können, sollte ein fächerübergreifender "Epochenunterricht" angewandt werden: Dabei werden die Inhalte über mehrere Wochen in verschiedenen Fächern aufgegriffen. Nachhaltigkeit etwa könne nicht nur aus biologischer Sicht behandelt werden, sondern auch aus wirtschaftlicher und sozialer, sagt Zierer.

    Außerdem sind Tablets heute in vielen Klassenzimmern allgegenwärtig. Doch oft werde die Technik nur "als Mittel zum Zweck" gesehen, kritisiert der Pädagogikprofessor. "Man muss auch darüber sprechen." Also: Wie verändert Digitalisierung das Leben? Wichtig sei, dass Eltern bei der Medienerziehung mitwirken und nicht alles der Schule überlassen. 

    Aus Sicht der Lernenden kann Heinrich Ritter, Landesschülersprecher der Gymnasien in Bayern, in vielen Punkten zustimmen. Schülern sollte beigebracht werden, wie im Internet Fake News von faktenbasierten Informationen unterschieden werden können, so der 19-Jährige. Außerdem würde er sich mehr politische Bildung wünschen, die auf alle Parteien eingeht und aufklärt: Wofür stehen sie und welche politischen Zusammenhänge gibt es? 

    Eine Untersuchung der Stiftung Denkwerkstatt fügt dem noch etwas hinzu. Gefragt nach ihren Vorschlägen zum Umbau des Schulsystems, wünschten sich deutsche Schüler ein neues Unterrichtsfach: „Lernen fürs Leben“, am besten ab der achten Klasse. Inhalt: Steuern, Miete, Buchhaltung, Kochen. Und sie sehnen sich nach mehr Möglichkeiten, in der Schule gemeinsam Hausaufgaben zu machen. Das nämlich könnten Kinder nicht in allen Familien ungestört zu Hause tun.

    Eine Schulstunde, 45 Minuten?
    Eine Schulstunde, 45 Minuten? Foto: Jens Kalaene, dpa (Symbolbild)

    Digitale Reizüberflutung lässt die Aufmerksamkeitsspanne von Kindern und Jugendlichen sinken. Allein die Präsenz eines Smartphones lenke sie ab, ergab kürzlich eine Studie der Uni Paderborn – selbst, wenn es ausgeschaltet ist. Schülerinnen und Schüler denken dann langsamer, erbringen schlechtere kognitive Leistungen. Videos in den sozialen Medien verpacken Inhalte in wenige Sekunden, lange Beiträge schrecken ab. Entsprechen 45-minütige Schulstunden da noch der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler? Oder sind solche Modelle veraltet? 

    Keineswegs, findet Professorin Katrin Lohrmann. Sie ist Teil des Lehrstuhls für Grundschulpädagogik und -didaktik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Die zur Verfügung stehende Zeit sei lediglich ein Rahmen, in dem sich Lehren und Lernen abspielt. „Entscheidend ist, wie man diesen gestaltet und die Zeiteinheit rhythmisiert.“ Durch Phasen, in denen die Schüler Instruktionen bekommen, durch den Austausch untereinander, durch eigenständige Erarbeitung sowie (körperliche) Aktivierung komme Abwechslung in den Unterricht. Die Pädagogin spricht von „unzählig vielen didaktischen Möglichkeiten“ und resümiert: „Der äußere Rahmen ist weniger relevant als die didaktische Gestaltung.“ Dieser Grundsatz gelte weiterhin.

    Deutschlands Schulen müssten für rund 47 Milliarden Euro saniert werden, wie das KfW-Kommunalpanel 2023 zeigt. Auf dem Land sind die Schulen oft in einem besseren Zustand als in der Stadt. Doch auch dort gibt es Klassenzimmer, die sich seit Jahrzehnten nicht verändert haben, gesichtslose Räume mit alten Fenstern, in denen die Sitzordnung auf Frontalunterricht ausgerichtet ist. In Großstädten sind teils ganze Gebäudeteile wegen Sanierungsbedarf gesperrt. 

    Dabei ist längst bewiesen: Zeitgemäße Architektur steigert die Chance auf zeitgemäßen Unterricht – so wie etwa am Gymnasium Diedorf im Kreis Augsburg. Architektur und Pädagogik greifen dort auf preisgekrönte Weise ineinander. Feste Plätze im Klassenzimmer gibt es nicht mehr, stattdessen offene Lernlandschaften, „Desksharing“ wie in Firmen. Dreieckige Tische, die sich zu Teamarbeitsplätzen zusammenschieben lassen. Ähnlich ist es am Albrecht-Ernst-Gymnasium Oettingen (Kreis Donau-Ries), dessen Architekturkonzept sogar Besucher aus dem Bildungs-Vorzeigeland Singapur anlockt. Jede Lernlandschaft ist dort individuell je nach Altersstufe gestaltet, die Klassenzimmer haben keine Türen, die Kinder können sich ihren Lernort aussuchen. Die Lehrkraft bewegt sich in der offenen Lernwelt, ist immer ansprechbar, Arbeitsmaterialien lagern frei zugänglich auf dem Gang. Das führt dazu, heißt es von der Schule, dass nahezu keine Stunde mehr ausfällt, Lehrkräfte können mehrere Klassen gleichzeitig beaufsichtigen – ein Vorteil in Zeiten des Lehrkräftemangels. 

    Immerhin, das mag ein Trost sein für Lehrkräfte und Schüler in den vielen heruntergekommenen Schulen des Landes, machen gute Lehrkräfte auch in schlecht ausgestatteten Schulen guten Unterricht. 

    Sind Lehrkräfte für die Digitalisierung gewappnet?
    Sind Lehrkräfte für die Digitalisierung gewappnet? Foto: Julian Stratenschulte, dpa (Symbolbild)

    Zu wissenschaftlich, zu wenig digital: Dass das Lehramtsstudium nicht zu den Anforderungen einer digitalisierten Lebenswelt passt, kritisieren regelmäßig Lehrerverbände und die Studierenden selbst. Langgedienten Lehrkräften wird in der öffentlichen Debatte gerne eine gewisse Technikfeindlichkeit und mangelnder Fortbildungswille unterstellt – und das in einer Zeit, in der sie sich einer „allwissenden“ Konkurrenz gegenübersehen. 

    KI-basierte Programme wie ChatGPT sind in kürzester Zeit sehr populär geworden – auch an Schulen, sagt Sebastian Schmidt, informationstechnischer Berater für digitale Bildung in Schwaben und selbst Realschullehrer aus Neu-Ulm. Daher müssten auch Lehrkräfte lernen, reflektiert mit den neuen technologischen Errungenschaften umzugehen. 

    Eine in diesem Kontext immer wichtiger werdende Entscheidung, die Lehrerinnen und Lehrer zu treffen haben: „Wir müssen differenzieren, welche Aufgaben die Schülerinnen und Schüler zu Hause erledigen, und welche im Beisein der Lehrkraft im Unterricht“, sagt Schmidt. Zu Hause nutzen die Kinder und Jugendlichen Künstliche Intelligenz im Zweifel uneingeschränkt. Arbeitsaufträge, die genau dies zulassen, eigneten sich als Hausaufgaben. Soll das Ganze jedoch in einem kontrollierten Raum ablaufen, dann eher im Unterricht. 

    Zwar gibt es laut Schmidt noch Nachholbedarf, was die Einbindung neuer Technik betrifft, doch eine generelle Skepsis oder gar Abneigung nehme er bei seinen Kolleginnen und Kollegen keineswegs wahr. Es bestehe eine Fülle an Fortbildungsangeboten, regional und bayernweit, die auch wahrgenommen würden. Vielmehr sieht Schmidt den extremer werdenden Zeitmangel als Hauptproblem. Korrekturen, Elterngespräche, Konferenzen und Fortbildungen – all dies nehme neben der eigentlichen (auch digitalen) Lehrtätigkeit viel Zeit in Anspruch. Gleichzeitig fehlen ausgebildete Lehrer. Mittlerweile ersetzen Quereinsteiger und Studierende vielerorts die fehlenden Kräfte. Schmidt liebt seinen Job trotzdem: „Man kann viel für die Zukunft der Schülerinnen und Schüler bewegen. Die positiven Aussichten überwiegen definitiv.“

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