Gegen neun Uhr am Donnerstagmorgen entdecken Polizisten den Mann. Er läuft auf dem Areal zwischen dem Münchner NS-Dokumentationszentrum und dem israelischen Generalkonsulat umher. Jung sieht er aus, wie ein Teenager. Und er trägt etwas bei sich. Auch auf dem Video, das später im Internet auftaucht, ist der Gegenstand zu sehen. Worum es sich handelt, ist schwer zu deuten. Später stellt sich heraus: Es ist eine ältere Repetierwaffe, ein Gewehr, das man nach jedem Schuss per Hand nachladen muss. Den Lauf hat der Mann mit einem aufgesetzten Bajonett verlängert. Dann gibt er einen Schuss ab. Der Rückstoß wirft ihn fast um. Es sind die letzten Szenen eines Attentäters, der wenig später von der Polizei niedergeschossen wird und stirbt. Mitten in der Münchner Innenstadt.
Das Attentat hält die Stadt den ganzen Tag lang in Atem. Möglicherweise, so formuliert es später Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU), wurde an diesem Donnerstagmorgen ein Anschlag auf das israelische Generalkonsulat vereitelt. Mehr sagt Herrmann nicht, die Hintergründe müssen erst ermittelt werden.
Was man weiß: Der Angreifer schießt im Zentrum der Landeshauptstadt gezielt auf Polizisten. Die Einsatzkräfte erwidern das Feuer. Nach Angaben der Polizei sind an dem Schusswechsel fünf Polizeibeamte beteiligt, keiner erleidet Verletzungen. Auf Videos im Netz sind die Schüsse deutlich zu hören. Später wird bekannt: Der Tote, der gleichzeitig Täter ist, ist ein 18-jähriger Österreicher aus dem Salzburger Land. So viel bestätigt die Polizei. Gleichzeitig machen erste Berichte darüber die Runde, dass er in seiner Heimat als Islamist bekannt gewesen sein soll.
Attentat in München: Über der Innenstadt liegt ein ständiges Dröhnen
Ein Zeuge, der nicht namentlich genannt werden will, ist zum Zeitpunkt der Schüsse auf dem Weg zum Zahnarzt. „Ich habe ganz laute Knaller gehört, wie Böllerschüsse“, berichtet er kurz nach der Tat unserer Redaktion. Die Schüsse hätten gut fünf Minuten angehalten. Der 76-Jährige steht am Vormittag an der Ecke Brienner Straße/Arcisstraße und verfolgt, an sein Fahrrad gelehnt, das Treiben rund um die Polizeiabsperrung. Eigentlich habe er über den nahe gelegenen Königsplatz radeln wollen, sagt der Zeuge. Ein anderer Fahrradfahrer sei ihm dann entgegengekommen und habe ihn gewarnt.
Über Durchsagen in U-Bahnen und Trams werden die Menschen gebeten, den Bereich um den Tatort zu meiden, viele scheinen sich daran zu halten. Wo sonst viele Autos fahren, sind die Straßen heute leer. „Gehen sie einfach drüber“, sagt ein Polizist zu einem Mann, der an einer roten Fußgängerampel steht. „Da kommt jetzt nichts.“
Gleichzeitig liegt am Vormittag ein ständiges Dröhnen über der Innenstadt. Laut Polizei haben sich rund um den Einsatzort Personen aus Angst in Gebäuden versteckt oder verbarrikadiert. Am Himmel kreist ein Hubschrauber der Polizei. Viele macht das nervös. „Wenn der immer noch in der Luft ist, dann suchen sie doch bestimmt noch nach einem Täter“, sagt ein Student, der in der Zeit zwischen den Vorlesungen von der nahegelegenen Universität zum Tatort gekommen ist. Das stellt sich als Fehlannahme heraus. Offensichtlich handelte der erschossene Attentäter allein.
Im Lauf des Tages erhärten sich die Vermutungen, dass der Österreicher mit bosnischen Wurzeln Verbindungen zur islamistischen Szene hatte. Gegen den 18-Jährigen wurde nach Angaben der Polizei seines Heimatlands voriges Jahr ermittelt: wegen des Verdachts, dass er sich religiös radikalisiert hatte und sich für Sprengstoff und Waffen interessierte. Für den Mann wurde ein Waffenverbot verhängt. Dieses wäre noch bis mindestens Anfang 2028 in Kraft geblieben, hieß es von der Salzburger Polizei.
Der damals noch 17-Jährige war den Behörden nach einer Drohung gegen Mitschüler und einer Körperverletzung aufgefallen. In diesem Zusammenhang sei ihm die Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen worden, hieß es. Laut Informationen der österreichischen Nachrichtenagentur apa waren auf seinem Mobiltelefon Daten und ein Computerspiel sichergestellt worden, die eine Nähe zu islamistisch-terroristischem Gedankengut nahelegten. Doch die Staatsanwaltschaft Salzburg habe die Ermittlungen im April 2023 eingestellt, hieß es. Der Grund wurde nicht genannt. „Seither ist der 18-Jährige nicht mehr polizeilich in Erscheinung getreten.“
Eine Anwohnerin, die am Donnerstag mit ihrem Hund spazieren ist, fühlt sich auch nach der Nachricht vom Tod des Schützen noch nicht sicher. „Allen, die hier wohnen, macht das große Angst“, sagt sie. „Vor allem wegen des Datums.“ Damit spricht sie aus, was so viele befürchten: dass der Attentäter nicht aus reinem Zufall ausgerechnet am 5. September sein Auto in der Nähe des Generalkonsulats parkte und sein Gewehr lud. Ministerpräsident Markus Söder (CSU) spricht am Nachmittag bei einer Pressekonferenz in der Nähe des Tatorts von einem „schlimmen Verdacht“, nämlich dass die Tat in Zusammenhang stehen könnte mit dem Olympia-Attentat von 1972, das sich an diesem Donnerstag zum 52. Mal jährt. Es war der Tag, an dem die Heiterkeit der Olympischen Spiele in München ihr Ende nahm.
Elf israelische Sportler starben beim Olympia-Attentat
Viele haben den Tag noch im Gedächtnis, als wäre er gestern gewesen. Acht Palästinenser drangen am frühen Morgen des 5. September 1972 im Olympischen Dorf in die Apartments israelischer Sportler ein. Die Männer, allesamt Mitglieder der Palästinenser-Organisation „Schwarzer September“, forderten die Freilassung von 200 in Israel inhaftierten Arabern und den deutschen RAF-Terroristen Andreas Baader und Ulrike Meinhof. Sie erschossen zwei jüdische Sportler, nahmen neun weitere als Geiseln. Live am Fernseher verfolgte die Welt an diesem Tag ein Nervenspiel zwischen Polizei und Verbrechern, das erst nach 18 Stunden ein tödliches Ende nehmen sollte.
Um 22.22 Uhr wurden die Geiselnehmer damals im Hubschrauber zum nahe gelegenen Flugplatz Fürstenfeldbruck gebracht. Die von ihnen geforderte Boeing 737 stand bereit. Die Polizei nutzte die Gelegenheit für eine Befreiungsaktion. Sie endete in einer Tragödie: Im Kugelhagel starben alle neun Geiseln und ein Polizist. Insgesamt elf Sportler waren am Ende tot. Auch fünf der acht Terroristen kamen ums Leben.
Damals hatten die Attentäter leichtes Spiel: Kein Zaun und keine Sicherheitsschranke schützte die israelischen Sportler, keine Polizisten mit Pistolen. Anders als heute, wo das israelischen Generalkonsulat Tag für Tag einer Hochsicherheitszone gleicht. Unmittelbar nach dem Angriff am Donnerstag hat die Polizei den Schutz für jüdische Einrichtungen noch einmal erhöht. Innerhalb kürzester Zeit waren dem Innenminister zufolge 500 Einsatzkräfte in der Landeshauptstadt unterwegs. Damit habe Bayern sein „Schutzversprechen“ einlösen können – für die jüdische und israelischen Einrichtungen, für die Bürgerinnen und Bürger.
Die Gegend um den Königs- und Karolinenplatz ist schon lange unter verstärkter Beobachtung durch die Münchner Polizei. Anwohner berichten, rund um das NS-Dokumentationszentrum und das Konsulat des Staates Israel stünden beinahe rund um die Uhr Streifenwagen. Polizeisprecher Andreas Franken bestätigt, dass die Polizei dort „erhöhte Präsenz“ zeige. Deshalb waren wohl auch die Einsatzkräfte vor Ort, die den Täter letztlich außer Gefecht setzten.
Das Generalkonsulat war wegen des Datums geschlossen
Auch Dieter Reiter, SPD-Oberbürgermeister von München, kann die Befürchtung nicht abschütteln, dass das Datum, das der Österreicher für seinen Angriff wählte, kein Zufall ist. Erst diese Woche habe es ein Treffen mit der israelischen Generalkonsulin und deren Sicherheitschefin gegeben, sagt Reiter am Donnerstagnachmittag vor Ort unserer Redaktion. „An diesen Tagen, an denen sich solche Vorfälle jähren, besteht immer ein besonderes Risiko.“ Polizeipräsenz und Objektschutz rund um das Konsulatsgebäude seien erhöht worden.
Nur gut sechs Kilometer nördlich des Tatorts waren Fahrradfahrerinnen und -fahrer am Donnerstagmorgen vom Olympiapark in Richtung Fürstenfeldbruck gestartet, um den Opfern der Geiselnahme zu gedenken. Nach Bekanntwerden der Schüsse wurde die dort geplante Feier zur Erinnerung an die Opfer von damals abgesagt. Unter den rund 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Gedenkfahrt waren laut Reiter auch der Sohn des vor 52 Jahren beim Attentat getöteten Polizisten Anton Fliegerbauer sowie Münchens Polizeipräsident Thomas Hampel. Dieser habe ihn noch vom Fahrrad aus über die Vorkommnisse informiert. Das Generalkonsulat selbst sei am Freitag von vornherein aus Vorsicht geschlossen geblieben. „Sonst hätte das heute auch anders ausgehen können“, sagt Reiter, während 20 Meter hinter ihm die israelische Flagge weht.
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