Startseite
Icon Pfeil nach unten
Bayern
Icon Pfeil nach unten

Region: Wie die Generation 60 plus sich selbst hilft

Region

Wie die Generation 60 plus sich selbst hilft

    • |
    Seniorengenossenschaft Riedlingen: Der Überbringer des Essens auf Rädern ist 71, die Empfängerin 97. Walter Rebholz trägt mit dazu bei, dass Adelheid Merk in ihrem hohen Alter noch eigenständig leben kann.
    Seniorengenossenschaft Riedlingen: Der Überbringer des Essens auf Rädern ist 71, die Empfängerin 97. Walter Rebholz trägt mit dazu bei, dass Adelheid Merk in ihrem hohen Alter noch eigenständig leben kann. Foto: Alexander Kaya

    Riedlingen in Oberschwaben ist eine malerische kleine Stadt. Fachwerkhäuser, Tore, Türme, Brücken über die Donau, viel Grün bis hinein in die Altstadt – ein Ort zum Wohlfühlen, möchte man meinen. Und doch ist die Lage nicht so rosig, wie es scheint. Die Region sei „wirtschaftlich schwach“, sagt Josef Martin. „Viele junge Menschen wandern ab“ – dorthin, wo sie bessere berufliche Perspektiven haben, ins 50 Kilometer entfernte Ulm zum Beispiel. Zurück bleiben die Älteren und Alten – Leute zwischen 60 und 100. Ihr Anteil an der Bevölkerung wächst, nicht nur in

    Josef Martin war Mitte 50, als er Konsequenzen zog und 1991 den Verein „Seniorengenossenschaft Riedlingen“ gründete. Die Idee des SPD-Kommunalpolitikers: Wenn junge Leute fehlen, um den Alten behilflich zu sein, die in ihren Wohnungen eigenständig bleiben wollen, muss eben das Potenzial der Älteren mobilisiert werden. Wer aus dem Beruf ausscheidet, ist schließlich oft noch fit und will auch etwas tun.

    Martin ist inzwischen 80, sein Dreitagebart ist weiß. Doch die Zeit, sich mit anderen Senioren in der Tagespflegeeinrichtung „Am Stadtgraben“ zu unterhalten, die er an diesem Tag besucht, ist knapp. Sein Terminkalender ist voll, und er hat noch viele Pläne: Eine Baugenossenschaft will er gründen, weil kein Investor zu finden ist, der Wohnraum für Quadratmeterpreise zwischen sechs und sieben Euro schaffen will. Vorsitzender seines straff durchorganisierten Dienstleistungsvereins ist er bereits, obendrein Stadtrat und Kreisrat im Landkreis Biberach und seit vielen Jahren gefragter Referent, auch in Bayern. Er ist das Musterbeispiel eines aktiven Seniors.

    Die Erfahrung zeigt: Ganz ohne finanziellen Anreiz funktioniert es nicht

    „Sozialunternehmer“ könnte man ihn auch nennen – zielgerichtet, nüchtern, effektiv. Die Seniorengenossenschaft, die er seit 25 Jahren führt, ist Betreuungsträger von zwei Wohnanlagen mit 68 barrierefreien Wohnungen mitten in der Stadt, führt zwei Tagespflegestätten, davon eine speziell für demente Menschen, bietet Essen auf Rädern und eine Telefonbereitschaft rund um die Uhr. Den Jahresumsatz beziffert der Vorsitzende auf rund eine Million Euro.

    Die Zahl überrascht, wenn man den Flyer mit den niedlichen Zwergenfiguren betrachtet, den er der Einfachheit halber mitgebracht hat. Wozu viel reden, wenn doch der Flyer in Kurzform alles auflistet, was die Seniorengenossenschaft leistet. „Riedlinger Heinzelmenschen“ werden die Figuren genannt. Sie helfen bei häuslicher Pflege und Betreuung, bei Reparaturen in Haus und Garten, schneiden Hecken, mähen den Rasen, räumen Schnee, begleiten bei Spaziergängen, waschen, bügeln, erledigen Botengänge, begleiten zu Behörden, erklären den Umgang mit dem Internet, wechseln kaputte Glühbirnen aus, erledigen Einkäufe, liefern Essen aus, leisten Gesellschaft. Die Liste ließe sich fortsetzen. „Wenn Ihnen Arbeiten wie diese Spaß machen“, heißt es in dem Flyer, „...können Sie später sämtliche Dienste des Vereines für sich selbst in Anspruch nehmen.“

    Das ist der Ursprungsgedanke: Leistung auf Gegenseitigkeit, gutgeschrieben auf einem Zeitkonto, von dem man abbuchen kann. Aber Josef Martin ist kein Sozialromantiker. „Auf der Basis haben Sie auf die Dauer nie genügend Menschen, die mitarbeiten.“ Ganz ohne finanziellen Anreiz funktioniere es nicht. Das hatte er schon vorausgesehen, als Baden-Württemberg 1990 neun Modellprojekte startete. Die Erfahrung gibt ihm recht: Von den neun hätten sich nur die beiden mit Entgelt gut entwickelt, vier ohne Entgelt seien ganz aufgegeben worden, drei weitere auf dem Stand der Gründerzeit stehen geblieben. In Riedlingen können sich die ehrenamtlichen Helfer wahlweise entweder die Zeit gutschreiben oder eine geringe Aufwandsentschädigung auszahlen lassen. Bei der Gründung vor 25 Jahren waren es 6,15 D-Mark pro Stunde. Heute sind es 7,50 Euro – ein Euro weniger als der Mindestlohn für eine reguläre Arbeit.

    Die Empfänger der Leistungen bezahlen ein klein wenig mehr – für den Fahrdienst zum Beispiel 9,20 Euro, für Putzarbeiten 9,50 Euro pro Stunde. „Preise, die sich die Leute leisten können“, sagt Martin. Die Differenz ist aber doch groß genug, dass die Seniorengenossenschaft wirtschaftlich eigenständig existieren kann. Rund 800 Mitglieder zählt der Verein inzwischen, etwa die Hälfte der über 65-jährigen Einwohner der Kernstadt Riedlingen, die ohne Eingemeindungen 7000 Einwohner hat, mit Eingemeindungen 10 000.

    Der finanzielle Ausgleich sei bei den Helfern die gefragtere Variante, sagt Martin. Manche haben bereits ein Zeitkonto, das sie sich für später aufheben, und gehen irgendwann zur direkten Bezahlung über. Oder sie betrachten das kleine Entgelt von Anfang an als Aufbesserung ihrer Rente oder als Taschengeld. So wie Adelinde Munding, 60.

    Die meisten Mitarbeiter sind ehrenamtlich dabei

    Die frühere Verwaltungsangestellte hilft immer dienstags in der Tagespflege „Am Stadtgraben“ und – wie an diesem Freitag – „wenn’s mal klemmt“. Sie betreut die Senioren, die hier den Tag verbringen, während ihre Angehörigen in der Arbeit sind oder etwas zu erledigen haben, deckt den Tisch für die Mahlzeiten, bastelt mit ihnen, leitet sie bei Gymnastikübungen an, bettet sie zum Mittagsschlaf in einen gemütlichen Sessel und tröstet sie, wenn sie Kummer haben. Zur geistigen Aktivierung stehen auch kleine Denksportaufgaben auf dem Programm der

    Adelinde Munding hatte erst ihre Kinder großgezogen, dann ihre Eltern gepflegt. Als die gestorben waren, sprach sie ihre frühere Chefin an, ob sie nicht Lust hätte, in der Tagespflege mitzuarbeiten. Sie machte einen Schnuppertag mit und blieb. „Es ist wie eine Sucht“, sagt sie. Immer überlege sie, was ihre Senioren brauchen. Eine Fachkraft ist nur die Pflegedienstleiterin in der Tagespflege. Insgesamt drei sind in Teilzeit bei der Seniorengenossenschaft angestellt. Alle anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind ehrenamtlich dabei.

    Der Beweggrund, sich zu engagieren, war für Walter Rebholz, 71, der Eintritt in den Ruhestand vor zehn Jahren. „Es war klar, dass ich irgendetwas mache.“ Er fährt Essen aus, das er bei der Großküche abholt und treppauf, treppab in Warmhalteboxen zu den Kunden bringt – 15 bis 20 jeden Tag, je nach den individuellen Wünschen. Normale Kost, leichte Kost, Diabetiker-Kost – es muss alles stimmen und Knie und Hüfte müssen mitmachen. Von einigen Essensempfängern hat er den Wohnungsschlüssel. Mancher drehe den Fernseher so laut auf, dass er das Klingeln überhören würde, erzählt er und lacht. „Zwischendrin ein Späßle“ ist einkalkuliert. Der tägliche Besuch ist überall ein willkommener Kontakt.

    Rebholz spart seine Stunden seit Jahren an, nimmt aber inzwischen gleichzeitig Hilfe in Anspruch. Seine Frau hat einen Schlaganfall erlitten, war anfangs rechtsseitig gelähmt. Eine Frau aus dem Bekanntenkreis, die in der Grundpflege geschult ist, kommt seither regelmäßig und hilft auch im Haushalt. Dass gezielt geeignete Personen angesprochen und für bestimmte Aufgaben im Verein angeworben werden, ist in Riedlingen eine seit langem geübte Praxis. Der Vorsitzende Josef Martin hat es vorgemacht, als er einen Ex-Banker für den Finanzbereich, eine frühere Anwaltssekretärin für die Protokollführung, eine Journalistin für die Öffentlichkeitsarbeit gewinnen konnte, und er habe auch schon jemanden im Auge, der einmal seinen Job übernehmen könnte. Er selbst war übrigens früher in der Landwirtschaftsverwaltung tätig.

    Wie sich aus Hilfe Freundschaft entwickelt

    Die Frau von Walter Rebholz hätte sich nur ungern von einer völlig fremden Person bei der Körperpflege helfen lassen wollen. Ute Lutz, 77, hatte keine andere Wahl, als sie nach einer Handoperation hilflos war. Die Frau, die anfangs täglich kam, um ihr beim Essen, Waschen und Anziehen zu assistieren und die Hündin Saskia Gassi zu führen, war ihr nicht bekannt gewesen. Und doch war sie ein Glücksfall. Nicht nur, weil

    Das Vertrautwerden mit anderen Menschen ist auch Anton Fisl, 90, in schöner Erinnerung. Der frühere Landwirt war jahrelang als Essenskurier im Einsatz. „Oft haben sie schon gewartet, dass man eine Dose aufmacht oder einen eingerissenen Fingernagel schneidet“, erzählt er. Mit 86 hörte er auf, weil er sich beim Autofahren nicht mehr sicher fühlte. Es fiel ihm nicht leicht. Vor vier Jahren starb auch seine Frau. Jetzt hat er nur noch den Kirchenchor. Und seine Mundharmonika, auf der er manchmal noch vor Publikum spielt, zum Beispiel im Altenheim.

    Aus seiner aktiven Zeit bei der Seniorengenossenschaft ist ihm ein Guthaben von weit über 1000 Stunden geblieben. Nur sehr selten nimmt er etwas davon in Anspruch – für den Fahrdienst zum Arzt zum Beispiel. Aber das meiste soll möglichst lange auf dem Konto bleiben: „Man weiß ja nicht, wofür man’s noch braucht.“

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden