Lange Zeit galten „Reichsbürger“ und so genannte „Selbstverwalter“ als lästige, aber überwiegend harmlose Spinner und Querulanten, die die Bundesrepublik Deutschland nicht als Staat anerkennen, sich mit Behörden anlegen und Beamte mit den seltsamen Argumenten verklagen oder sie bedrohen. In Bayern änderte sich das schlagartig, als ein Anhänger der Reichsbürgerbewegung am 19. Oktober 2016 im mittelfränkischen Georgensgmünd das Feuer auf Polizisten eröffnete, die seine Waffen beschlagnahmen wollten. Ein Beamter wurde getötet, drei weitere verletzt. Das Innenministerium reagierte umgehend. Bereits eine Woche später stufte das Landesamt für Verfassungsschutz die Szene zum „Sammelbeobachtungsobjekt“ hoch.
Seither schauen die Sicherheitsbehörden genauer hin. Laut Verfassungsschutz gehören rund 4600 Personen in Bayern der Szene an, 450 von ihnen werden dem „harten Kern“ zugerechnet. Bei den Anhängern handelt es sich zu drei Vierteln um Männer, überwiegend mittleren Alters. Als regionale Schwerpunkte haben die Behörden Oberbayern sowie Ober- und Mittelfranken identifiziert. Echte Hotspots gebe es aber nicht. Im Prinzip seien die „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ über ganz Bayern verteilt. Die Szene sei zuletzt leicht angewachsen und auch die Zahl der Straftaten nehme zu. Insgesamt wurden der Szene im vergangenen Jahr 425 Straftaten zugeordnet, darunter 122 politisch motivierte Gewaltdelikte.
Nach Razzia gegen Reichsbürger: Innenministerium will Maßnahmen nachschärfen
Nach der bundesweiten Großrazzia gegen eine mutmaßliche Terrorgruppe in der „Reichsbürger“-Szene kündigt das bayerische Innenministerium an, seine Maßnahmen noch einmal nachzuschärfen. „Wir müssen bei der Entwaffnung der Reichsbürger noch schneller vorankommen“, sagte Innenminister Joachim Herrmann (CSU) unserer Redaktion. Es müsse „jeder Beobachtung und jedem Verdachtsfall“ konsequent nachgegangen werden.
Im Zuge der Ermittlungen durch den Generalbundesanwalt hat sich nach Auffassung Herrmanns eine neue Dimension möglicher Bedrohungen durch „Reichsbürger“ gezeigt. „Dass mehrere Personen aus der Szene sich zusammenschließen und durch konkrete Aktionen den Staat auf den Kopf stellen wollen, ist in der Tat neu“, sagt Herrmann. Als „besonders krass“ wertet der Innenminister, „dass hier Leute mit offenbar sehr konkreten Umsturzplanungen zugange waren und dass – nach allem, was bisher bekannt ist – auch ganz konkret Gewaltanwendung beabsichtigt war.“
Nach dem Tod eines Polizisten begann die Entwaffnung der Reichsbürger
Dass Reichsbürger in dem einen oder anderen Fall organisiert auftreten, zeigt ein Fall aus dem Oberallgäu. Im Juli 2021 wurde dort bei einem „Reichsbürger“ eine Zwangsräumung durchgeführt. Als er festgenommen wurde, kam es zu einer Protestaktion durch eine kleine Gruppe Gleichgesinnter, die, wie sich nach drei weiteren Festnahmen bei der Überprüfung herausstellte, aus ganz unterschiedlichen Gegenden eigens ins Allgäu gekommen waren.
Bald nach der Gewalttat in Georgensgmünd begann Bayern mit der Entwaffnung der „Reichsbürger“. Bis Ende Dezember haben die Sicherheitsbehörden in Bayern 397 Personen innerhalb der Szene der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ identifiziert, die über eine oder mehrere waffenrechtliche Erlaubnisse verfügten. Gegen alle 397 Personen, so berichtet der Verfassungsschutz, wurden bereits Widerrufsverfahren durch die Waffenbehörden eingeleitet. Insgesamt wurden bislang 460 waffenrechtliche Erlaubnisse entzogen. Dabei wurden 888 Waffen sichergestellt.