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Psychische Erkrankungen: Mediziner warnen: Mehr psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen

Psychische Erkrankungen

Mediziner warnen: Mehr psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen

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    Die Zahl von psychischen Krankheiten und Verhaltensstörungen bei Kindern ist in Bayern stark angestiegen.
    Die Zahl von psychischen Krankheiten und Verhaltensstörungen bei Kindern ist in Bayern stark angestiegen. Foto: N. Armer, dpa (Symbol)

    Es sei ein "Tsunami", eine gigantische Welle, die da auf uns zukommt, warnt Dr. Christian Voigt. Immer mehr fettleibige, immer mehr magersüchtige Kinder und Jugendliche kommen in seine Praxis in Stadtbergen im Landkreis Augsburg. Die Zunahme der Essstörungen sei massiv. Doch viele Eltern würden den besorgniserregenden Zustand ihrer Kinder gar nicht erkennen, sagt der Obmann der Kinder- und Jugendärzte für Augsburg und Nordschwaben. Dabei seien die damit verbundenen Folgen dramatisch: Hoher Blutdruck, ein erhöhtes Diabetesrisiko, Knochen- und Gelenkprobleme, um ein paar Beispiele zu nennen. "Da wächst eine Generation heran, die viel zu früh Erkrankungen bekommt, die eigentlich erst im Alter auftreten", sagt Voigt und ergänzt: "Viele unserer Kinder altern also früher – das ist doch grauenhaft."

    Dass Adipositas, also Fettleibigkeit, bei Kindern und Jugendlichen auch in Bayern kräftig zugenommen hat, zu diesem Ergebnis kommt auch der aktuelle Kinder- und Jugendreport der Krankenkasse DAK. Demnach stiegen die erstmalig behandelten Adipositas-Fälle bei den Grundschülern im Vergleich zum Vor-Pandemiezeitraum um mehr als ein Fünftel, bei den Schulkindern um 13 Prozent und bei den Jugendlichen um elf Prozent.

    Aber auch die psychischen Leiden und die Verhaltensstörungen sind dem Report zufolge im Freistaat rasant nach oben geklettert: Demnach wurde bei Mädchen im Alter von 15 bis 17 Jahren auch häufiger eine Angststörung diagnostiziert als noch vor der Pandemie. Erstdiagnosen bei Depressionen seien um 40 Prozent gestiegen und Neuerkrankungen bei Essstörungen um 130 Prozent.

    Die Corona-Pandemie löste bei vielen Kindern Depressionen aus

    Dass die Corona-Pandemie und ihre Folgen wie Schulschließungen, aber auch die Einschränkung sozialer Kontakte gerade bei Kindern und Jugendlichen deutlich mehr Angst-, aber auch generell mehr Zwangsstörungen sowie mehr Depressionen ausgelöst hat, ist für Dr. Tomasz Jarczok erwartbar gewesen. Er ist der Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Josefinum in Augsburg, deren Träger die Katholische Jugendfürsorge der Diözese Augsburg ist. Gerade bei den Essstörungen betont Jarczok, dass sich gleich nach Beginn der Corona-Pandemie ein deutlicher Anstieg abgezeichnet habe – weltweit zeige die Kurve nun steil nach oben. Das Josefinum hat ein medizinisches Zentrum für Essstörungen bei Heranwachsenden. Dort werden die Betroffenen von einem multiprofessionellen Team über einen längeren Zeitraum je nach Schwere der Erkrankung sowohl ambulant als auch stationär behandelt. Und die ohnehin hohe Nachfrage dort steige, sagt Jarczok.

    Erklärungsversuche gebe es mehrere. So versuchten Patientinnen und Patienten, die an Anorexie (umgangssprachlich Magersucht) erkranken, damit oft einen Bereich für sich zu gewinnen, in dem sie glauben, noch die absolute Kontrolle zu haben. Jarczok sieht aber auch die sozialen Medien als Ursache, die wie etwa Instagram sehr bildlastig sind und zum Vergleich mit anderen animieren. Wenn dann in einer Pandemie noch soziale Kontakte eingeschränkt sind oder fehlen, würden soziale Medien noch stärker als ohnehin schon zum gültigen Maßstab werden. Was dem erfahrenen Mediziner aber wichtig ist: "Auch wenn ein Auslöser erkannt ist, darf nicht vergessen werden, dass es sich auch bei Essstörungen um eigenständige Erkrankungen handelt. Das heißt: Selbst, wenn wir die Pandemie jetzt sofort wegzaubern könnten, bleibt die Erkrankung."

    Eltern unterschätzen Essstörungen ihrer Kinder

    Und was viele nicht wissen: "Anorexie ist eine der psychischen Erkrankungen mit der langfristig höchsten Sterblichkeitsrate." Hinzu komme, dass Essstörungen ohne frühzeitige Behandlung oft chronisch verlaufen, also einen langwierigen Verlauf haben. Davon abgesehen, führen Essstörungen nicht selten zu dauerhaften körperlichen Beeinträchtigungen, indem etwa das Risiko für Osteoporose steigt, die Knochen also brüchiger werden. "Da wir leider immer wieder erleben, dass Essstörungen von Eltern unterschätzt werden, appellieren wir eindringlich an sie, sich frühzeitig Hilfe zu holen."

    Auch Christian Voigt wird nicht müde, die Eltern auf die gravierenden Folgen von Essstörungen hinzuweisen. "Doch ich muss leider immer wieder feststellen, dass manche Eltern von einer guten Ernährung wenig Ahnung haben." Dabei würde gerade die Zahl der übergewichtigen Kinder deutlich zunehmen: in seiner Praxis seit 2019 bis heute um 60 Prozent. Nach einer Lösung gefragt, sagt Voigt: "Für mich ist die Beratung der Eltern das A und O und diese Beratung müsste verpflichtend sein." Daher müssen die Beratungsangebote für Eltern seiner Einschätzung nach nicht nur ausgebaut, sondern auch stärker wirklich auf Dauer vom Staat finanziert werden.

    Was der erfahrene Kinderarzt vor allem vermisst, ist die Unterstützung aus der Politik: "Die Kinder- und Jugendmedizin hat auf der politischen Ebene leider nicht den Fokus, der dringend nötig wäre." So gebe es beispielsweise für alles mögliche Aufklärungskampagnen, doch für Erziehungs- und Ernährungsfragen sehe er keine. Dabei führen die gesundheitlich steigenden Probleme der jungen Menschen nicht nur zu einem steigenden Bedarf im Gesundheitssektor, in dem künftig unter anderem viel mehr Psychiater und Psychotherapeuten gebraucht werden, "viele der jetzt schon kranken Kindern, werden später bestimmte Berufe gar nicht ergreifen können oder im Arbeitsleben immer wieder ausfallen".

    Kinderpsychiater Jarczok appelliert an die Schulen

    Auch schon für die jetzigen Probleme gebe es aktuell zu wenig Kinder- und Jugendärzte, sagt Voigt. Und die wenigen würden mit Bürokratie überhäuft werden. Dabei bräuchten sie vor allem mehr Zeit für ihre Patienten und deren Eltern. Auch Psychiater und Psychotherapeutinnen für Kinder und Jugendliche fehlen, ergänzt Jarczok.

    Für den Kinder- und Jugendpsychiater steht fest, dass die negativen psychischen Auswirkungen der Pandemie auf die Kinder und Jugendlichen unterschätzt wurden. "Gerade Schulschließungen sollten daher künftig in jedem Fall vermieden werden." Er wünscht sich aber auch, dass in den Schulen jetzt nicht nur der Fokus darauf gerichtet wird, die Lernrückstände rasch aufzuholen: "Eine ganzheitliche Betrachtung, was Kinder und Jugendliche jetzt wirklich brauchen, wäre so wichtig", sagt er und ergänzt: "Wir brauchen aber auch ein Gesundheitssystem, das psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen früher und besser berücksichtigt."

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