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Prozess in Traunstein: Missbrauchsopfer: Was ist der Preis für ein zerstörtes Leben?

Prozess in Traunstein

Missbrauchsopfer: Was ist der Preis für ein zerstörtes Leben?

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    Kläger Andreas Perr (Mitte) und sein Anwalt Andreas Schulz (links) vor dem Landgericht Traunstein vor Beginn der Verhandlung am Dienstag.
    Kläger Andreas Perr (Mitte) und sein Anwalt Andreas Schulz (links) vor dem Landgericht Traunstein vor Beginn der Verhandlung am Dienstag. Foto: Britta Schultejans, dpa

    Was ist der Preis für eine zerstörte Kindheit, für ein zerstörtes Leben? Auch um diese Frage geht es Andreas Perr, 39, der einst von einem katholischen Priester, Peter H., sexuell missbraucht wurde. Erwiesenermaßen war Perr nicht der Einzige. Er sitzt am Dienstag im weißen Hemd im Gerichtssaal des Traunsteiner Landgerichts, den Blick meist auf den Tisch vor ihm gerichtet, die Hände gefaltet.

    Dass H. Perr missbrauchte, ist "unstreitig"; "streitig" dagegen, ob der Missbrauch zu einer seelischen Störung und zu Alkohol- und Drogenabhängigkeit bei Perr führte. Der Vertreter der Erzdiözese München und Freising, die zu den Beklagten zählt, hätte über diese Folgen – sind sie tatsächlich kausal auf den Missbrauch zurückzuführen? – einen gutachterlichen Nachweis. So, sagt der Anwalt, sei es schwierig, einen angemessenen Betrag für einen möglichen Vergleich zu nennen. Der vor nicht einmal einer Stunde begonnene Prozess wird um kurz nach 13 Uhr unterbrochen.

    Prozess in Traunstein: Wird das Urteil Signalwirkung haben?

    Um 13.39 Uhr wird schließlich zu Protokoll genommen, dass der Vertreter der Erzdiözese zwar den sogenannten Feststellungsantrag anerkenne, nicht aber die Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von mindestens 300.000 Euro. "Mir geht es um Lösungen", sagt er und betont einmal mehr, dass die Erzdiözese grundsätzlich ihre Amtshaftung anerkenne. Das heißt nichts anderes, als dass sie zahlen wolle, allerdings nicht unbedingt diesen Betrag. Für Andreas Perr bedeutet es, in eine "umfangreiche Beweisaufnahme" eintreten zu müssen. Es liegt nun an Gutachten, zu untermauern, dass der Missbrauch durch H. ihn derart seelisch belastet habe, dass er abhängig wurde. Im Zuschauerraum sagt ein Mann: "Jesus würde diesem kalten Juristen in den Hintern treten."

    Es geht um viel an diesem Tag: um ein weiteres Kapitel Aufarbeitung und um tatsächliche Verantwortungsübernahme, um den Umgang der katholischen Kirche mit Tätern wie Opfern und den Ruf der Institution, um so etwas wie Wahrheit und späte Gerechtigkeit. Es geht um viel Geld – und um eine Signalwirkung. Möglicherweise wird nach der Gerichtsentscheidung das System freiwilliger "Anerkennungsleistungen", die Missbrauchsbetroffene im katholischen Kontext beantragen können, ins Wanken geraten.

    Missbrauchs-Prozess in Traunstein: Erhebliches öffentliches Interesse an der Verhandlung

    Das alles verbirgt sich hinter der juristisch-sperrigen Formulierung "Feststellungsklage gegen den emeritierten Papst u. a.", unter der die 5. Zivilkammer des Landgerichts Traunstein einen Fall kommunizierte, der weltweit für Schlagzeilen gesorgt hat. In Sitzungssaal B 33 sind ausweislich eines Schreibens für Journalisten 30 Sitzplätze reserviert, sechs Fotografen und zwei Fernsehteams wurden zugelassen, das Gericht erwartete ein erhebliches öffentliches Interesse – und lag damit richtig.

    Vor dem Gericht steht vor Prozessbeginn unter anderem die Vorsitzende des Bundes für Geistesfreiheit München mit einem Schild, das den früheren Papst Benedikt XVI. zeigt. Er sei "Schutzpapst" des "Sexstrolchs" Peter H. Sie hoffe, dass das Gericht dem unendlichen Leid Perrs zumindest eine angemessene Schmerzensgeldzahlung entgegensetzt. Polizisten bitten die kleine Gruppe, ihre Demonstration auf die andere, öffentliche Straßenseite zu verlegen. Eine Passantin ruft in Richtung der Beamten: "Ich würd mich noch mehr lächerlich machen."

    "Wenn eine Million Euro angeboten würde, dann müsste ich es mir überlegen"

    Vor dem Gerichtsgebäude steht auch der Berliner Rechtsanwalt des Klägers, Andreas Schulz. Ob er einen Vergleich erzielen wolle? "Wenn eine Million Euro angeboten würde, dann müsste ich es mir überlegen", antwortet er. An Gesprächen über einen Vergleich habe das Erzbistum München und Freising aber im Vorfeld kein Interesse gehabt.

    Erst am Montag teilte das Landgericht mit, die Klage gegen den zurückgetretenen und Ende Dezember 2022 gestorbenen Papst Benedikt XVI., Joseph Ratzinger, abzutrennen. Er war von 1977 bis 1982 Münchner Erzbischof. Zur Begründung hieß es: Seine Rechtsnachfolge sei ungeklärt und es sei nicht abzusehen, wann eine Klärung herbeigeführt werden könne. Eine Cousine Ratzingers hat Medienberichten zufolge das Erbe, zu dem der Prozess gehört, ausgeschlagen. Doch wie viele Verwandte es eigentlich gibt und wie hoch das Erbe ist, ist öffentlich bislang nicht bekannt.

    Gericht: Es besteht ein Schmerzensgeldanspruch

    Schon bald nach Prozessbeginn zeichnet sich dann ab: Aus Sicht des Gerichts besteht ein Schmerzensgeldanspruch, explizit auch wegen des Handelns des früheren Münchner Erzbischofs Joseph Ratzinger, des späteren Papstes Benedikt XVI – so die Vorsitzende Richterin in ihrer vorläufigen Würdigung.

    Andreas Perr aus dem oberbayerischen Garching an der Alz wollte in der mündlichen Verhandlung die Schuld beziehungsweise Mitverantwortung – und damit Mithaftung – feststellen lassen: die seines Peinigers, des Missbrauchstäters Peter H., der nicht persönlich erschien; die von Friedrich Kardinal Wetter, der von 1982 bis 2008 Erzbischof von München und Freising war; die der Erzdiözese München und Freising; sowie eben die von Ratzinger/Benedikt XVI. Die Klage gegen Wetter, so sagt es Anwalt Schulz am Dienstag vor der Verhandlung, habe man am Montag zurückgenommen. Wetter sei der "einzige ehrenvolle Mann in diesem Verfahren".

    Kirche muss für Handeln des ehemaligen Erzbischofs Ratzinger haften

    Und Ratzinger? Der war als Erzbischof auch kirchenrechtlich gesehen "Letztverantwortlicher", als H. aus dem Bistum Essen 1980 nach sexuellen Übergriffen gegen Kinder nach München kam, um dort therapiert zu werden. Im Münchner Missbrauchsgutachten verwahrte sich Ratzinger/Benedikt jedoch gegen die "Behauptung", er habe volle Kenntnis von H.s Vorgeschichte gehabt.

    Das Landgericht kommt in seiner vorläufigen Würdigung zu der Ansicht: Ratzinger sei bei einer Ordinariatssitzung 1980, bei der es um die Übernahme H.s in sein Erzbistum ging, anwesend gewesen. Das ist auch für den Vertreter des Erzbistums unstreitig. Daher müsse, so das Gericht in seiner vorläufigen Einschätzung, die Kirche als Körperschaft des öffentlichen Rechts für das Handeln seines ehemaligen Erzbischofs Ratzinger haften. Die Kirche habe eine erhöhte Sorgfaltspflicht.

    Der damalige Papst Benedikt XVI. - Joseph Ratzinger - und der damalige Münchner Erzbischof Friedrich Kardinal Wetter (links) im Jahr 2006.
    Der damalige Papst Benedikt XVI. - Joseph Ratzinger - und der damalige Münchner Erzbischof Friedrich Kardinal Wetter (links) im Jahr 2006. Foto: Andreas Gebert, dpa

    H. wurde später, hauptsächlich unter Wetter, weiter als Seelsorger eingesetzt – und missbrauchte weiter Kinder. 1986 wurde er vom Amtsgericht Ebersberg wegen mehrfachen Kindesmissbrauchs zu einer 18-monatigen Bewährungs- und zu einer Geldstrafe verurteilt, in den 90ern missbrauchte er schließlich auch Andreas Perr. Erst 2022 wurde H. aus dem Klerikerstand entlassen.

    Erzdiözese verzichtete auf die "Einrede der Verjährung"

    Möglich gemacht hatte den Traunsteiner Zivilprozess die Erzdiözese, indem sie auf die "Einrede der Verjährung" verzichtete. Mehr noch: Im Januar erklärte sie zudem, dass sie das dem Kläger widerfahrene Leid zutiefst bedaure. Sie sei bereit, "ein angemessenes Schmerzensgeld zu leisten und für darüber hinausgehende Schadensersatzbegehren eine angemessene Lösung zu finden". Wie Correctiv, BR und Die Zeit Anfang Juni berichteten, fordert Rechtsanwalt Schulz 300.000 Euro Schmerzensgeld vom Münchner Erzbistum und 50.000 Euro von den Erben Benedikts. Seinem Mandanten sollen "alle materiellen und immateriellen Schäden" ersetzt werden, die ihm "aus der Missbrauchstat im Tatzeitraum zwischen 1994 bis 1996 entstanden sind sowie in der Zukunft noch entstehen werden".

    Der Weg über ein Zivilverfahren zu aus Betroffenensicht angemessenen Schmerzensgeldern könnte Nachahmer finden – und dürfte Folgen haben. Das zeichnete sich in der vergangenen Woche ab, nach dem Urteil in einem ebenfalls viel beachteten Zivilprozess, das der bekannte Kirchenrechtler Thomas Schüller eine "Zäsur in der deutschen Justizgeschichte" nannte. Das Landgericht Köln hatte einem früheren Messdiener 300.000 Euro Schmerzensgeld zugesprochen, zahlbar vom Erzbistum Köln. Er war in den 70er Jahren mehr als 300 Mal von einem Kleriker schwer sexuell missbraucht worden. Strafrechtlich konnte dieser nicht mehr belangt werden, da er bereits gestorben und die Verjährung eingetreten war.

    Kritik von Betroffenenvertretern: "Almosen"

    Vor allem aus diesen beiden Gründen ist es in einer Vielzahl von Fällen nicht zu Strafprozessen gekommen – Betroffene mussten bei Aufarbeitung und finanziellen Hilfen auf das Entgegenkommen seitens der Kirche vertrauen. Das Kölner Landgericht, und das ist das Novum, nahm das Erzbistum Köln in Amtshaftung, sah also eine Amtspflichtverletzung durch Unterlassen.

    Der Münchner Kardinal Reinhard Marx: Im Januar hatte seine Pressestelle mitgeteilt, die Erzdiözese sei bereit, "ein angemessenes Schmerzensgeld zu leisten".
    Der Münchner Kardinal Reinhard Marx: Im Januar hatte seine Pressestelle mitgeteilt, die Erzdiözese sei bereit, "ein angemessenes Schmerzensgeld zu leisten". Foto: Sven Hoppe, dpa (Archivbild)

    Die von den Bischöfen eingesetzte Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA) erklärte, dass die Entscheidung "Einfluss auf den finanziellen Zahlungsrahmen für Anerkennungsleistungen" haben werde, da dieser sich "nach dem oberen Bereich der durch staatliche Gerichte in vergleichbaren Fällen zuerkannten Schmerzensgelder" bemesse. Dass die Kommission im vergangenen Jahr in nur 96 Fällen Betroffenen mehr als 50.000 Euro zuerkannt hatte, wurde von Betroffenenvertretern scharf und als "Almosen" kritisiert. Der Kläger im Kölner Verfahren hatte als freiwillige "Leistungen in Anerkennung des Leids" 25.000 Euro erhalten.

    UKA beobachtet den Traunsteiner Prozess genau

    Die UKA beobachtet auch den Traunsteiner Prozess genau. Stefan Vesper, der als Koordinator deren Geschäftsstelle unterstützt, sagt unserer Redaktion kurz Verhandlungsbeginn, dass man in beiden Fällen rechtskräftige Urteile und ihre Begründungen abwarten müsse. Ein Vergleich jedoch würde keine höheren Anerkennungsleistungen nach sich ziehen. Dies sehe die UKA-Verfahrensordnung so vor.

    Die Sitzung endet um 13.55 Uhr. Am 14. Juli wird das Gericht verkünden, ob es in die Beweisaufnahme eintreten wird. Ein Urteil, betont die Vorsitzende Richterin, werde dann noch nicht verkündet. Andreas Perr sagt danach: "Ein Erfolg wäre für mich gewesen, wenn wir uns geeinigt hätten." Jetzt müsse er alles nochmals durchleben. "Aber ich bin es gewohnt von der Kirche, Rückschläge zu bekommen." 

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