Am 6. März 1983 wird München zur heimlichen Hauptstadt Deutschlands. Nur um Haaresbreite ist die Union bei der Bundestagswahl an der absoluten Mehrheit vorbeigeschrammt – und Helmut Kohl nutzt die Gunst die Stunde, um seinen alten Rivalen Franz Josef Strauß auszubremsen. Dazu macht der Kanzler ihm ein vergiftetes Angebot: Fünf Ministerien für die CSU, wenn Strauß als Ministerpräsident in München bleibt, aber nur deren vier, wenn der CSU-Chef als Minister nach Bonn wechselt.
Strauß tobt zunächst zwar, am Ende aber nützt der Kuhhandel der CSU. Sie ist so stark wie nie zuvor in einem Bundeskabinett. Friedrich Zimmermann wird Innenminister, Ignaz Kiechle Agrarminister, Werner Dollinger übernimmt das Verkehrsressort, Jürgen Warnke die wirtschaftliche Zusammenarbeit und Oscar Schneider das Bauministerium. Mehr Bayern war nie.
Die Konflikte in der CSU sind legendär
Nun sagt die Zahl ihrer Kabinettsmitglieder allein noch nichts über die gestalterische Stärke einer Partei aus. Die CSU jedoch, die in den 74 Jahren seit Bestehen der Bundesrepublik 52 Jahre mitregiert hat, ist von Anfang an mehr als „nur“ die Stimme des Südens im rheinischen Bonn beziehungsweise später im preußischen Berlin. Aus dem Antagonismus, einerseits im Bund über alle großen Fragen mitzuentscheiden, andererseits aber zugleich die kleinteiligeren, oft auch konträren Interessen eines Bundeslandes zu vertreten, schöpfen die Christsozialen Kraft und destruktive Energie gleichermaßen.
Dass Bayern sich schnell von einem Agrarland zum potenten Industriestandort entwickelt, hat mit dieser Sonderrolle zu tun, die Serie legendärer Konflikte zwischen Strauß und Kohl, zwischen Theo Waigel und Edmund Stoiber oder zwischen Horst Seehofer und Markus Söder allerdings auch. Die Balance zwischen den Machtzentren in München und Bonn beziehungsweise Berlin kann die CSU nicht immer halten.
Dass Bayern von Anfang an eine starke Stimme im Bund hat, führt der Historiker Thomas Schlemmer vom Institut für Zeitgeschichte in München nicht nur auf prägende Figuren dieser Zeit wie den damaligen Finanzminister Fritz Schäffer, den jungen Strauß oder Anton Pfeiffer zurück, einen der Väter des Grundgesetzes, sondern auch auf die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU im Bundestag: „Sie hat die CSU erst zur kanzlerfähigen Partei gemacht.“ Zwar gelingt es weder Strauß noch Stoiber, tatsächlich Kanzler zu werden – die Basis für ihre Kandidaturen aber ist die symbiotische Allianz mit der großen Schwesterpartei, auch wenn die im Streit zwischen Armin Laschet und Markus Söder um die K-Frage 2021 zwischenzeitlich schon in Auflösung begriffen schien.
Die CSU pickt sich die richtigen Ministerien heraus
Dazu kommen die schiere Größe Bayerns und seine Geschichte als ein in Jahrhunderten eigener Staatlichkeit gewachsenes Bundesland, die dem Freistaat zu einer Sonderstellung im neuen, föderalen Nachkriegsdeutschland verhelfen. „Und diese Sonderstellung“, sagt Schlemmer, „nutzt die CSU geschickt, um bayerische Interessen zu vertreten.“ Dazu gehöre auch eine gewisse Hemdsärmeligkeit, mit der sie sich etwa für sie passende Ressorts aussucht: Gerne greifen die Christsozialen nach dem Landwirtschaftsministerium, weil Bayern überproportional viele Bauern hat, ihre Postminister sorgen dafür, dass der Freistaat beim Ausbau des Telefonnetzes früh und gut angeschlossen wird – und auch die Verkehrsminister der CSU achten sehr genau darauf, dass Bayern nur ja nicht zu kurz kommt.
Alexander Dobrindt etwa gelingt es in der Großen Koalition, von einem 2,7 Milliarden Euro schweren Sonderprogramm für die Sanierung maroder Straßen und Brücken fast ein Viertel der Mittel in den Freistaat zu leiten. Entsprechend tief sitzt der Frust über die verlorene Bundestagswahl 2021 noch. Plötzlich ist die Bundesregierung für die CSU nicht mehr Mittel zum Zweck, sondern das Epizentrum aller Probleme. Söders Landtagswahlkampf ist deshalb auch ein Anti-Ampel-Wahlkampf.
Personell gut vertreten in der Bundespolitik ist Bayern immer, wenn die Union regiert. Als Gerhard Schröder und Joschka Fischer 1998 ihre rot-grüne Koalition schmieden, schafft es dagegen nur ein Bayer auf die Regierungsbank, der eigentlich kein Bayer ist, sondern nach seinem Wechsel von den Grünen zur SPD eine neue politische Heimat gesucht und sie in einem freien Wahlkreis in München gefunden hat: Innenminister Otto Schily. Sozialminister Walter Riester ist zwar ein gebürtiger Allgäuer, aber privat wie politisch damals schon lange in Baden-Württemberg zu Hause. Nach der Wahl 2002 wird die Fränkin Renate Schmidt noch Familienministerin – das war es dann aber auch. Im Ampelkabinett von Olaf Scholz sieht es noch trister aus: Kein einziger Minister, keine einzige Ministerin kommt aus Bayern, dafür sitzt in der zweiten Reihe eine Reihe bayerischer Frauen: Kulturstaatsministerin Claudia Roth und Familienstaatssekretärin Ekin Deligöz von den Grünen, die FDP-Frau Katja Hessel als Staatssekretärin im Finanzministerium sowie die Sozialdemokratinnen Annette Kramme, Sabine Dittmar und Bärbel Kofler im Arbeits-, Gesundheits- und Entwicklungsministerium.
Vom neuen Wahlrecht droht Gefahr für die CSU
Sozialdemokraten aus Bayern mit Einfluss in der Bundespartei sucht man im Moment vergeblich. „Das war früher anders“, sagt Historiker Schlemmer. „Denken Sie nur an Hans-Jochen Vogel.“ Trotzdem muss auch die CSU in einem immer fragmentierteren Parteiensystem Federn lassen. Bayern-Stolz, Heimatverbundenheit und Lebensgefühl ließen sich immer schwerer in Wählerstimmen ummünzen, analysiert Schlemmer. „Die Neu-Bayern aus dem In- und Ausland sind anderen Traditionen verhaftet und können mit sinnstiftenden Elementen wie bayerischer Geschichte, Brauchtum oder Dialekt wenig anfangen.“ Das hat auch Auswirkungen auf Bayerns Einfluss in Berlin: Bei der letzten Bundestagswahl ist die CSU gefährlich nahe an die Fünf-Prozent-Marke gerutscht – und die Klausel, die auch kleineren Parteien einen Platz im Bundestag sichert, wenn sie mindestens drei Direktmandate holen, haben die Ampelparteien abgeschafft. Auch deshalb klagt die CSU vor dem Verfassungsgericht gegen das neue Wahlrecht.