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Pestizide: Die Obstbauern am Bodensee fürchten um ihre Existenz

Pestizide

Die Obstbauern am Bodensee fürchten um ihre Existenz

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    Obstbauern verweisen gerne auf das Beispiel Kirschen-Produktion: Diese verlagere sich zusehends ins Nicht-EU-Ausland. In Deutschland habe man schlicht nicht ausreichend Pestizide, um die Ernten zu schützen.
    Obstbauern verweisen gerne auf das Beispiel Kirschen-Produktion: Diese verlagere sich zusehends ins Nicht-EU-Ausland. In Deutschland habe man schlicht nicht ausreichend Pestizide, um die Ernten zu schützen. Foto: Felix Kästle, dpa (Symbolbild)

    Thomas Heilig und Erich Röhrenbach haben es langsam satt. Die Obstbauern stehen in einer Lagerhalle auf Heiligs Hof im schwäbischen Bavendorf auf einer improvisierten Rednerbühne. Leicht unterhalb von ihnen haben sich auf Bierbänken zwei Dutzend andere Landwirte versammelt. Dazu noch mal so viele Politiker, Experten und Vertreter der Agro-Industrie. Auch die Presse und das Fernsehen hat es an diesem Tag im Mai geschafft, ins größte Obstanbaugebiet Deutschlands an den Bodensee zu kommen. Umweltschützer sind nicht dabei.

    Aus Sicht der Obstbauern steht viel auf dem Spiel. Vielleicht sogar alles. "Es geht um Sein und Nichtsein in der Landwirtschaft", ruft Röhrenbach in die Halle. "Wir Obstbauern stehen mit dem Rücken an der Wand." Es könne nicht sein, "dass wir verschwinden müssen, weil Leute über uns bestimmen, die grundlegende Zusammenhänge in der Landwirtschaft nicht durchschauen".

    Der Ärger über die frühere TV-Köchin und heutige EU-Politikerin Sarah Wiener ist groß

    Die Adressatin der geharnischten Rede sitzt im fernen Straßburg und heißt Sarah Wiener. Die Gastronomin und ehemalige Fernsehköchin vertritt die Grünen im Europaparlament und hat dort als Berichterstatterin für das Thema Pflanzenschutz im Umweltausschuss einen Schlüsselposten inne. Seit Jahren gilt sie als Verfechterin einer Landwirtschaft, die auf reiner Bio-Produktion fußt und weitgehend ohne Pflanzenschutzmittel auskommt.

    Damit liegt sie auf einer Wellenlänge mit der EU-Kommission. Diese hatte im Jahr 2020 unter dem Motto "Farm to Fork" (deutsch: Bauernhof zu Gabel) weitreichende Ziele zum ökologisch-nachhaltigen Umbau von Landwirtschaft und Nahrungsmittelproduktion definiert und diese zwei Jahre später in einen Verordnungsentwurf gegossen. Der Gesetzesvorschlag mit dem Kürzel SUR sieht unter anderem vor, den Spritzmitteleinsatz in der EU mengenmäßig bis 2030 zu halbieren. Gleiches soll für die Giftigkeit der ausgebrachten Stoffe gelten. Wichtiger noch: In "ökologisch sensiblen Gebieten" sollen Pflanzenschutzmittel generell verboten werden. Die Parlamentarierin Wiener hatte diesen Vorschlag durch ein Papier gestützt und an einigen Stellen noch härtere Vorgaben gefordert. Den Einsatz von besonders risikobehafteten Pestiziden will sie nun zu 80 Prozent einschränken.

    Im Streit über eine deutliche Reduzierung von Pestiziden in der europäischen Landwirtschaft dringt die EU-Abgeordnete und frühere TV-Köchin Sarah Wiener auf deutlich strengere Regeln.
    Im Streit über eine deutliche Reduzierung von Pestiziden in der europäischen Landwirtschaft dringt die EU-Abgeordnete und frühere TV-Köchin Sarah Wiener auf deutlich strengere Regeln. Foto: Marijan Murat, dpa

    Seitdem ist die Bauern-Lobby, aber auch ein großer Teil der Politik, in Alarm-Stimmung. Besonders in Baden-Württemberg. Dass im Raum steht, Pestizide in "sensiblen Gebieten" – dazu zählen nach gängiger Lesart Nationalparks und Naturschutzgebiete, aber auch die sehr viel häufigeren Landschaftsschutz-, FFH-, Vogel- oder Wasserschutzgebiete – zu verbieten, sehen die Landwirte als Angriff auf ihren Berufsstand.

    Tatsächlich wäre ein komplettes Spritzmittelverbot in diesen Regionen, das auch für Bio-Wirkstoffe gelten würde, ein weitgehender Eingriff in die bäuerliche Praxis. Denn bisher ist in solchen Gebieten Pflanzenschutz in den allermeisten Fällen erlaubt. Setzten sich Sarah Wiener und die EU-Kommission durch, wären nach einer Auswertung der TU Kaiserslautern-Landau deutschlandweit 31 Prozent der Ackerflächen und 36 Prozent der gesamten Obst- und Weinbauparzellen vom Spritzmittelverbot betroffen. Alles in allem wären das 3,9 Millionen Hektar. Rechnet man die Naturschutzgebiete umgebenden Pufferzonen mit ein, in denen Pflanzenschutz ebenfalls tabu sein soll, wäre der Pestizideinsatz auf rund fünf Millionen Hektar landwirtschaftlicher Flächen verboten.

    Angesichts solcher Zahlen hält es Erich Röhrenbach aus Immenstaad am Bodensee nicht mehr auf seinem Stuhl. "Wenn das wirklich kommt, ist das de facto ein Berufsverbot für uns Obstbauern", sagt er am Rednerpult. Obstbau ohne Pflanzenschutz – das geht nicht, ist die einhellige Meinung des streitlustigen Grüppchens, das sich an jenem Tag in der Obsthalle in Bavendorf versammelt hat.

    Ein pauschales Spritzmittelverbot sei für die Landwirtschaft "wirklich nicht realisierbar", sagt ein Experte

    Fachleute stimmen dem zu. Ein pauschales Spritzmittelverbot in Schutzgebieten sei für die Landwirtschaft in Baden-Württemberg "wirklich nicht realisierbar", sagt etwa Ralf Vögele, Fachgebietsleiter für Phytopathologie, also Pflanzenkrankheiten, an der Universität in Hohenheim. Sollten die EU-Pläne umgesetzt werden, könnte man den "Obst- und Weinbau in Deutschland dichtmachen“, meint er. Und Christian Scheer, der am Bavendorfer Kompetenzzentrum Obstbau Bodensee im Auftrag des Landes Pflanzenkrankheiten untersucht, sagt, die Erzeuger stünden dann vor "richtigen Nöten". Beide plädieren für weniger Spritzmittel, aber regional angepasst.

    Dass der Protest gegen die SUR so groß ist, hat mehrere Gründe. Erstens sind Sonderkulturen – also der Obst-, Wein- und Gemüseanbau – eines der Aushängeschilder der hiesigen Landwirtschaft. Rund ein Viertel des landwirtschaftlichen Produktionswerts im Südwesten geht auf sie zurück. Und von den deutschen Obsterzeugern haben mehr als die Hälfte ihren Sitz in Baden-Württemberg. Kirschen und Zwetschgen aus dem Schwarzwald, Äpfel vom Bodensee, Gemüse von der Reichenau oder Schwetzinger Spargel sind Marken mit überregionalem Ruf.

    Hinzu kommt, dass im EU-Vergleich die Bundesrepublik das Land der Schutzgebiete ist. Rund 9000 der "sensiblen Flächen" gibt es in unterschiedlichen Ausprägungen zwischen Flensburg und Konstanz. Damit liegt Deutschland weit vor anderen Agrarstaaten wie Spanien, Frankreich oder Polen, die in den vergangenen Jahrzehnten sehr viel zurückhaltender bei der Ausweisung solcher Gebiete waren. Experte Vögele von der Uni Hohenheim sagt, die Bestimmungen der SUR träfen die Bauern in Ländern wie Polen, Spanien oder Frankreich eben deutlich weniger als deutsche Erzeuger, deren Felder sehr viel häufiger in Schutzgebieten lägen. Eine einheitlich auf ganz Europa angewandte Gesetzgebung verzerre daher den Wettbewerb. Die Standards seien in Deutschland generell am höchsten, die Kosten damit aber auch.

    Als mahnendes Beispiel wird auf die Kirschen-Produktion verwiesen

    Die Obstbauern am Bodensee nervt zudem, dass in der Apfelhochburg Südtirol Pflanzenschutzmittel erlaubt sind, die hierzulande schon längst auf der Roten Liste stehen. Weil Mittel zur Bekämpfung von Schädlingen fehlten, hangele man sich von einer Notfallzulassung zur nächsten. Aus Sicht der Bauern kann das kein Dauerzustand sein.

    Obstbauer Thomas Heilig baut in Bio-Qualität, aber auch konventionell an.
    Obstbauer Thomas Heilig baut in Bio-Qualität, aber auch konventionell an. Foto: Walther Rosenberger

    Als mahnendes Beispiel wird gerne auf die Kirschen-Produktion verwiesen. Diese hat sich nach Darstellung der Branche zusehends ins Nicht-EU-Ausland verlagert. Was in unseren Supermärkten in den Regalen liege, stamme mittlerweile zu 80 bis 90 Prozent aus der Türkei, sagt etwa Frank Gemmer, Hauptgeschäftsführer des Industrieverbands Agrar, hinter dem deutsche Pharmakonzerne stehen. In Deutschland habe man schlicht nicht ausreichend Pestizide, um die Kirschen-Ernten zu schützen. Gehe die Genehmigungspraxis der Behörden so weiter, würden von einstmals 900 Agro-Wirkstoffen im Jahr 2030 noch etwa 150 übrigbleiben. Ein Wert, den Wissenschaftler Vögele sogar noch für zu hoch hält. Die Folge von zu wenig Schädlings-Hämmern und zu hohen Kosten kurz zusammengefasst: Die Produktion von Obst und Gemüse wandere ins Ausland ab und die Lebensmittelsicherheit in Deutschland leide, weil dort unter laxeren Vorschriften produziert werde.

    In Baden-Württemberg fühlt man sich beim Thema Pflanzenschutz von der EU besonders vor den Kopf gestoßen. Denn eigentlich glaubte man sich auf der sicheren Seite. Seit Mitte 2020 gilt im Südwesten das sogenannte Biodiversitätsstärkungsgesetz, das eine Reduktion chemischer Spritzmittel um 50 Prozent bis Ende des Jahrzehnts sowie einen Ausbau der Bio-Produktion auf bis zu 40 Prozent vorsieht. Das Gesetz, das Ausfluss des 2019 angestoßenen Volksbegehrens "Rettet die Bienen" ist und unter Einbeziehung von Naturschutzverbänden und Bürgern zustande kam, gilt als Meilenstein. Die Bauern hatten sich damals mit den Plänen arrangiert, das Thema Pflanzenschutz galt als befriedet. "Die Grätsche aus dem Hinterhalt der EU", wie ein Beteiligter es ausdrückt, reißt nun alte Wunden auf. Experte Vögele sagt, die EU-Pläne konterkarierten den auf Landesebene mühsam gefundenen Konsens.

    Man reduziere den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln seit Jahren, "wo es geht", sagt Obstbauer Thomas Heilig

    Bezeichnend ist, dass selbst der Südwest-Landeschef des Naturschutzbund Deutschland, Johannes Enssle, die Pläne zur EU-Pflanzenschutzverordnung SUR mit den Worten kommentierte, das Papier habe wohl "an einigen Stellen ein Praktikant verfasst". Auch Peter Hauk, CDU-Minister für Ernährung, Ländlichen Raum und Verbraucherschutz in Baden-Württemberg, lehnt die Pläne stellvertretend für die Landesregierung ab. Der Protest, der zudem vom Bund und anderen EU-Staaten kommt, lässt die EU-Kommission nicht unbeeindruckt. Dem Vernehmen nach ist ein Komplettverbot von Spritzmitteln, zumindest in Landschaftsschutzgebieten, vom Tisch. Offiziell ist dies indes nicht. Den Obstbauern am Bodensee reicht das nicht. Man reduziere den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln seit Jahren, "wo es geht", sagt Obstbauer Thomas Heilig. Aber ganz ohne gehe es eben nicht.

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