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Overturism: Touristenmassen von Neuschwanstein über Venedig und Mallorca bis Griechenland

Tourismus

Traumhaft schön! Aber ganz schön voll

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    Roland Kießling und  Vroni Stiebler (links) haben keine Eintrittskarten mehr für das Schloss Neuschwanstein bekommen, genauso wie Familie Stöffler (rechts). Ein Erinnerungsfoto gibt`s trotzdem.
    Roland Kießling und Vroni Stiebler (links) haben keine Eintrittskarten mehr für das Schloss Neuschwanstein bekommen, genauso wie Familie Stöffler (rechts). Ein Erinnerungsfoto gibt`s trotzdem. Foto: Matthias Becker

    Wer in Schwangau auf einem der vier großen Parkplätze aus dem Auto steigt, sieht das Schloss Neuschwanstein sofort. Und das nicht nur einmal, sondern hundertmal. Auf Postkarten und in Schneekugeln, auf Tassen und Bierkrügen, auf Käppis und Regenschirmen. Das Zweite, das auffällt, sind die vielen Menschen, die sich interessiert und ein bisschen hilflos umblicken. 5.000 Menschen betreten das Schloss an Spitzentagen. Plus diejenigen, die gar nicht ins Märchenschloss wollen, denen der Anblick von außen reicht oder der Ausblick von der Marienbrücke, inklusive Erinnerungsselfie. Zwischen all diesen Menschen tauchen vor dem inneren Auge die Bilder von Demonstrationen gegen Tourismus auf Mallorca und in Barcelona auf, die Diskussion um einen Eintrittspreis für Venedig. Da stellt man sich die Frage: Sind auch am Schloss Neuschwanstein zu viele Urlauber unterwegs?

    „Ja“, findet eine Besucherin am Fuß des Schlosshügels. „Man kann es gar nicht genießen, es ist einfach zu viel los“, sagt sie. Hergekommen sei sie nur, weil ihre Freundin das Schloss unbedingt sehen wollte. Ein Franzose hingegen findet: „Ça va“ – „Es geht.“ Man wisse ja, dass an solchen Orten sehr viel los ist. Er ist froh, trotzdem hergekommen zu sein, denn das Schloss: „Chapeau!“ – „Hut ab!“ – sagt er und bläst anerkennend die Backen auf, das sei wirklich „très jolie“, also sehr hübsch.

    Um trotz Smartphones, Souvenirshops und Gästen ohne Adelstitel die Atmosphäre der Zeit König Ludwigs II. heraufzubeschwören, gibt es Pferdekutschen, mit denen Besucher den Weg zum Schloss herauffahren können. Kinder packen all ihre Überzeugungskraft aus, um ihre Eltern von diesem Verkehrsmittel zu überzeugen, inklusive aufgeregtem Auf-die-Pferde-Zeigen und flehenden Kulleraugen. Oben am Schloss machen die, die sich nicht zur Kutschfahrt überreden lassen haben, eine Trinkpause. „Wenn nur wir fünf hier wären und sonst niemand, das wäre perfekt“, sagt die Mutter einer Familie aus den Niederlanden. Warum sie nicht an einen weniger überlaufenen Ort gefahren sind? „Ich liebe Schlösser und das hier ist eines der bekanntesten“, sagt der Vater.

    Auf Santorin haben im vergangenen Jahr 800 Kreuzfahrtschiffe angelegt

    Perspektivwechsel vom Gast zum Gastgeber: Es geht nach Griechenland, auf die Insel Santorin. Sie ist bekannt für weiße Häuser mit blauen Kuppeln. Die Insel wäre – ebenso wie Mykonos oder Paros – ohne die ausländischen Urlauber bitterarm. Der Fremdenverkehr hat sie zu Goldgruben gemacht. Wenn in Santorin die Sonne langsam im Meer versinkt, strömen Zehntausende zu den Aussichtspunkten der malerischen Kykladeninsel. Das Gedränge ist groß, die Stimmung ausgelassen. Am nächsten Morgen sind die Gassen übersät mit leeren Flaschen und jeder Menge Müll. Vor allem der Kreuzfahrtboom bringt viele Inseln an ihre Grenzen. „Kürzlich kamen innerhalb weniger Stunden 19.000 Besucher von Kreuzfahrtschiffen auf unsere Insel“, berichtete Nikos Zoros, der Bürgermeister von Santorin.

    5,5 Millionen Urlauber besuchten 2023 die Insel, 1,3 Millionen von ihnen waren Kreuzfahrtgäste. „Seit 2012 ist unser Wasserverbrauch um 140 Prozent gestiegen“, berichtet Zoros. Der Stromverbrauch habe sich gegenüber 2019 fast verdoppelt, so der Bürgermeister. „20 Prozent unserer Insel sind bereits bebaut“, sagt Zoros. „Wenn der Staat den Bau immer neuer Hotels nicht endlich begrenzt, wird Santorin zerstört“, fürchtet der Kommunalpolitiker. Die Insel könne „kein einziges neues Bett mehr verkraften“.

    „Santorin hat ein Problem“, sagt auch Ministerpräsident Mitsotakis. 800 Mal wurde die Insel 2023 von Kreuzfahrtschiffen angelaufen. Für dieses Jahr haben die Reedereien 815 Ankünfte angemeldet. Die Regierung prüft nun, deren Ankünfte zu begrenzen. Eine ähnliche Regelung gilt bereits seit vergangenem Jahr auf der Akropolis: Dort werden pro Stunde höchstens 3000 Besucher eingelassen. Es gibt auch Bemühungen, die Saison früher zu beginnen und bis weit in den Herbst zu verlängern, um die Touristenströme zu entzerren.

    36 Millionen ausländische Besucher kamen im vergangenen Jahr nach Griechenland – 18 Prozent mehr als im Jahr davor, ein neuer Rekord. In diesem Jahr werden womöglich erstmals mehr als 40 Millionen Touristen anreisen, vier Mal so viele, wie das Land Einwohner hat. Für manche Einheimische ist damit die Schmerzgrenze erreicht. Und das gilt nicht nur für Griechenland.

    Einheimische auf Mallorca und Barcelona protestierten gegen Touristen

    In den vergangenen Monaten haben zehntausende Menschen in Barcelona, auf Mallorca und auf den Kanarischen Inseln gegen Massentourismus demonstriert. Sie beschweren sich über Müll, Lärm und darüber, dass die Wohnungen an Touristen vermietet werden, statt an Einheimische. Auch die Stadt Venedig findet, es gibt mittlerweile zu viele Menschen, die auf dem Markusplatz Tauben fotografieren. Deshalb müssen Besucher ab nächstem Jahr bis zu zehn Euro Eintritt bezahlen. Die erste Testphase dafür lief schon.

    So eine Eintrittsgebühr nennt Robert Keller eine harte Lenkungsmaßnahme. Keller forscht an der Hochschule Kempten und versucht herauszufinden, wie viel Tourismus zu viel ist. Dafür braucht es Zahlen, Daten und Fakten. Eines von Kellers Projekten sieht so aus: An Stationen am Hopfensee und in der Füssener Innenstadt misst er, wie viele Menschen vorbeikommen. Dafür nutzt er einen Sensor aus der Verkehrsmessung. Außerdem hat er Umfrage-Stationen installiert, wie man sie aus manchen Geschäften oder Restaurants kennt. Dort können Passanten anklicken, wie voll sie den Ort empfinden und wie zufrieden sie mit ihrem Aufenthalt sind. 7000 Menschen haben sich innerhalb von zwei Monaten an der Umfrage am Hopfensee beteiligt. Das Ergebnis: Je voller es dort ist, desto unwohler fühlen sich die Menschen.

    Tickets für das Schloss Neuschwanstein sollte man mehrere Wochen im Voraus kaufen

    Unwohl scheinen sich die Menschen beim Schloss Neuschwanstein um zehn Uhr morgens nicht zu fühlen. Um diese Zeit kann man noch Fotos schießen, ohne, dass das halbe Schloss von Käppis und sonnenverbrannten Halbglatzen verdeckt ist. Das nutzt eine Gruppe junger Frauen. Eine von ihnen hält ihr Eintrittsticket in beiden Händen und lächelt in die Kamera. Klick. Dann gibt sie ihr Ticket an die Freundin weiter, die die gleiche Pose einnimmt. Klick. Ticket und Kamera wechseln, bis alle dran waren. Tickets, rät die Bayerische Schlösserverwaltung, kauft man am besten online im Voraus. Und zwar weit im Voraus, aktuell sind die Karten über Wochen hinweg ausverkauft. So will die Schlösserverwaltung „die Besucherzahlen zu den Stoßzeiten besser verteilen und ein insgesamt angenehmeres Besuchserlebnis gewährleisten“.

    Was passiert, wenn die Besucher nicht von einem strikten Zeitplan gesteuert werden, sondern einfach machen, was sie wollen, zeigt sich an der Marienbrücke. Stolz, den Weg dorthin bewältigt zu haben, blickt sich ein älterer Mann um. Doch das Triumphgefühl währt nur kurz. Er reißt erstaunt die Augen auf, als er die 20 Meter lange Warteschlange sieht. „Are they all waiting?“ – „Stehen die alle an?“, fragt er ungläubig. Seine Frau vertieft sich in die Lektüre des Schlossprospekts, um die Wartezeit an der Brücke zu überbrücken. „Jetzt, wo wir schonmal hier sind, will ich auch drüber laufen“, sagt sie.

    Auf der Marienbrücke bittet ein Mann höflich darum, ein Foto von ihm zu machen, aber nach dem ersten Versuch deutet er entrüstet auf die anderen Urlauber, die rechts und links von ihm im Bild zu sehen sind. Nochmal, bitte, soll das wohl heißen. Er geht ein Stück weiter, wo sich gerade eine größere Lücke auftut, wirft den Umstehenden einen grimmigen Blick zu und drängt die Fotografin zur Eile. Mit dem zweiten Bild ist er zufrieden und macht Platz für die nächsten Knipser.

    Von der Marienbrücke hätte man eine perfekte Sicht auf Schloss Neuschwanstein – wenn nicht all die anderen Urlauber wären.
    Von der Marienbrücke hätte man eine perfekte Sicht auf Schloss Neuschwanstein – wenn nicht all die anderen Urlauber wären. Foto: Benedikt Siegert (Archiv)

    Um die Mittagszeit ist es beim Schloss Neuschwanstein am vollsten. Manche setzen sich für eine Pause auf die Terrassen der Restaurants und essen das, was man in Bayern eben typischerweise isst: Potato Noodles with Sauerkraut (Krautschupfnudeln) oder Kaiser pancakes (Kaiserschmarrn), zu Trinken gibt es den „Bavarian mix: Beer + Sprite“.

    In Dubrovnik und Hallstatt nimmt der Tourismus absurde Formen an

    Amüsante Speisekarten sind eine häufige Begleiterscheinung des Tourismus. Doch das Reisefieber hat noch drastischere Nebenwirkungen. Etwa in Dubrovnik, einer Stadt an der kroatischen Küste, wo viele Szenen der Serie „Game of Thrones“ gedreht wurden. Vier Lebensmittelgeschäfte, aber 107 Souvenirgeschäfte gab es 2016 in der Stadt. Oder Hallstatt: Das beschauliche österreichische Bergdorf ist durch die südkoreanische Serie „Spring Waltz“, die teils dort spielt, bei Touristen aus Asien beliebt. Der Ort nimmt durch die öffentlichen Toiletten mehr Geld ein als durch die Grundsteuer, 150.000 Euro im Jahr.

    Den Sonnenuntergang will sich keiner der Urlauber auf Santorin entgehen lassen.
    Den Sonnenuntergang will sich keiner der Urlauber auf Santorin entgehen lassen. Foto: Philipp Laage, dpa

    Einige der Reisenden, die in den kommenden Wochen Kleingeld für eine Toilette in Hallstatt aus der Tasche kramen, ein Andenken in Dubrovnik kaufen, von den Hügeln Santorins auf das Meer blicken, über die Brücken Venedigs schlendern oder an einem Stand von Mallorca Sangría trinken, sind gerade dabei, ihre Koffer zu packen – schließlich sind die Sommerferien in Bayern gerade losgegangen. Doch wer die Berichte von überfüllten Urlaubsorten hört, dem könnte die Reiselust fast vergehen. Während man überlegt, ob ein Fön oder ein Schloss-Neuschwanstein-Regenschirm noch in den Koffer passt, kommt plötzlich der Gedanke: Kann es sein, dass mein traumhafter Urlaub jemand anderem schadet? Andererseits, einmal im Leben möchte man eben auch vom Eiffelturm aus auf Paris hinunterblicken, mit einer Gondel unter den Brücken Venedigs hindurchschippern, in einem Zimmer mit Meerblick aufwachen oder das märchenhafte Schloss Neuschwanstein sehen.

    Oder mit einem Kreuzfahrtschiff im Hafen eines griechischen Eilands wie Santorin oder Mykonos anlegen. Weniger wünschenswert: Sich dann mit Tausenden anderen Menschen durch die Gassen mit weiß getünchten Häusern drängen. Griechenland dürfe sein Tourismuspotenzial nicht erschöpfen und verschwenden, sonst werden die Destinationen mit der Zeit unattraktiv, heißt es in einer aktuellen Studie zum Tourismus in Griechenland.

    Erste Auswirkungen gibt es schon: Nicht nur den Einheimischen, auch vielen Besuchern werden das Gedränge und der Preiswucher an den Tourismus-Brennpunkten offenbar zu viel. Gegen den landesweiten Trend gingen im vergangenen Jahr die Gästezahlen auf Mykonos und Santorin um fast sechs Prozent zurück. 2024 setzte sich der Minustrend fort. Damit verlieren die beiden überfüllten Hotspots bereits im dritten Jahr in Folge an Beliebtheit. Aber voll sind sie natürlich immer noch.

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