Josef Menzl kämpft auf der Bühne im Bräurosl-Festzelt. Er kämpft um jedes Händeklatschen, jeden Jubelruf, jedes Tanzpaar. Sechs Stunden liegen bereits hinter ihm und seinen 15 Musikanten. Sie ahnen, dass es hier um etwas geht. Eben noch waren sie nach einer Pause über die hölzernen Treppenstufen zurück auf die Bühne gestürmt. Zuvor hatten sie sich ein Stockwerk tiefer, in den Wiesn-Katakomben, eingeschworen: Heute gilt’s!
Noch mehr Herzblut, noch mehr Ekstase, noch mehr Party! Denn davon habe es in den vergangenen Tagen zu wenig gegeben, mussten sie im Internet lesen. Bereits kurz nach der Oktoberfesteröffnung hagelte es Kritik für das neue, traditionellere Konzept des Oktoberfest-Zeltes. Und an ihnen. „Schrecklich, die ganze Zeit nur Blasmusik“, hatte es geheißen. Oder: „Die Musik ist ein Graus.“
Was der „Wiesn-Zoff“ mit einer „Ballermannisierung“ zu tun hat
Blasmusik auf dem Oktoberfest, ein Graus? Um die „Kapelle Josef Menzl“ („bekannt aus Funk und Fernsehen!“, steht auf ihrer Homepage) aus der Oberpfalz entspann sich ein kleiner bis mittelgroßer Wiesn-Skandal. Vielleicht, weil es sonst nicht allzu viel Aufregendes über das diesjährige Oktoberfest zu berichten gibt – außer, dass nun wegen des kalten, regnerischen Wetters auch noch Glühwein ausgeschenkt wird. Die Boulevardblätter berichten jedenfalls seit Tagen unablässig über den „Wiesn-Zoff“ und haben an Josef Menzl Gefallen gefunden. Erst am Dienstag titelte die Bild: „Unterstützung aus ganz Deutschland. Jetzt machen die Menzl-Fans Stimmung“. Nicht bloß aus Menzls Heimat, sogar aus Österreich und der Schweiz kämen inzwischen seine Unterstützer in die Bräurosl – „und laden die Musiker auf Maßen ein“. Na dann Prosit!
So kurios, wie das anmutet, ist es dabei nicht. Der Wiesn-Zoff dreht sich nämlich um eine ernsthafte, schon länger geführte Diskussion: Wie weit soll die „Ballermannisierung“ des Oktoberfests voranschreiten? Blasmusik gegen Partyschlager? Tradition gegen Moderne? Menzl gegen „Layla“? An diesem Abend erfüllt seine Kapelle das Festzelt jetzt mit „Dem Land Tirol die Treue“. Trompeter Harald Eitzinger steigt auf seinen Stuhl, Menzl selbst hält in einer Hand seine Klarinette und lässt mit der anderen eine Kuhglocke scheppern. Die Besucherinnen und Besuchern stehen auf den Bierbänken, recken die Arme nach oben und singen mit. Spätestens als Menzls Mannen, es sind ja nur Männer, „Bohemian Rhapsody“ von Queen anstimmen, liegen auch die sich in den Armen, die mit Blasmusik vermutlich eher wenig am Hut haben.
Und trotzdem: Es wird der letzte Abend sein, an dem die Kapelle Josef Menzl in der Bräurosl bis 22.30 Uhr auf der Bühne steht. Die Kritik verfehlte ihre Wirkung nicht: Die Verantwortlichen und die hinter dem Zelt stehende Paulaner-Brauerei haben entschieden, dass die Blasmusiker tagsüber auftreten sollen. Die Abende überließ man der Band eines Menzl-Freundes: „Erwin und die Heckflossen“.
Josef Menzl kann ohne Ballermann-Hits feiern
Ihre Wiesn-Premiere hatten sich die Musiker um Josef Menzl anders vorgestellt. Sie hielten das neukonzipierte Bräurosl-Festzelt mit Wirt Peter Reichert für eine Chance, bayerische und böhmische Blasmusik – wie sie sie sonst auf der „Oidn Wiesn“ machten – unter die Leute zu bringen. „Wir sehen das als großen kulturellen Austausch“, sagte Menzl kurz vor Festbeginn. „Wir wollen zeigen, wie wir feiern. Dazu braucht es keine Ballermann- und Aprés-Ski-Hits.“
In diesem Jahr hatte vor allem der von einigen als sexistisch kritisierte Ballermann-Song „Layla“ über eine „Puffmama“ für eine kontroverse Debatte gesorgt. Nachdem ihn die Stadt Würzburg Anfang Juli von den Bühnen des Kiliani-Volksfestes verbannte, diskutierte die Republik darüber. Und „Layla“ stand auf Platz eins der deutschen Charts. Auf der Wiesn wird die „Puffmama“ in und vor den Zelten lauthals besungen. „Nach dem Verbot hat der ,Layla’-Hype erst so richtig Fahrt aufgenommen“, ist sich Josef Menzl sicher. Für ihn sei das kein großes Thema. Er wolle auf Festivals wie der Brass Wiesn, dem Woodstock der Blasmusik oder dem Straubinger Gäuboden-Volksfest seine Fans mit Volksliedern wie „Griass die Gott, Frau Wirtin“, „Heit’ is mei Alde g’storbn“ oder „Vogelwiese“ begeistern. Seine Musik wolle er aber auch niemandem aufzwingen, sagt er.
Die Klassiker gehen auf dem Oktoberfest immer
„Die Hits von der Spider Murphy Gang und in diesem Jahr natürlich ,Layla’, das geht immer. Da sing’ ich auch mit, wenn ich die Hände voll mit Krügen habe“, erzählt Wiesn-Bedienung Florian und bahnt sich seinen Weg durch die Biertischreihen im Hacker-Festzelt. Seine Stimme: ein Krächzen. Die Arbeit hat nun, es ist abends, ihre Spuren hinterlassen. Am Morgen hatte es hier anders geklungen. Fröhlich trällernd, nicht krächzend zu „I’m Walking On Sunshine“ schrubbten Kellnerinnen und Kellner das Regenwasser aus dem Biergarten vor dem Zelt, während sich drinnen die Bänke langsam füllten. Aber das war vor zehn Stunden. Die Tische sind mittlerweile zur Tanzfläche geworden, die Gänge zum dicht gedrängten Menschen-Dschungel – und statt bayerischer Gemütlichkeit bebt das Hacker-Zelt im Rausch der Gefühle.
„Das geht nicht nur mit Polka, Walzer, Marsch“, sagt Bandleader Thomas Wohlschläger von „Die Kirchdorfer“. Kommt ein Ballermann-Song wie „Layla“ gut an, setzen die Musiker auf ihn. Haben sie Chileninnen oder Brasilianer mit im Publikum, spielen sie mehr lateinamerikanische Lieder, zum Beispiel „Despacito“. Wohlschläger sagt: „Wir kennen unser Publikum. Und wir haben genau das Publikum, das wir uns wünschen.“ Erstaunlich: Inmitten all des Trubels um ihn herum, strahlt er hinter seinem Keyboard eine gewisse Ruhe aus. Mit einem gelassenen Lächeln überblickt er das Geschehen im Zelt. Für Stimmung sorgt er hier seit 32 Jahren. Wenn Thomas Wohlschläger aus Otterfing im oberbayerischen Landkreis Miesbach, mit seinen Kirchdorfern nicht im Hacker-Festzelt auftritt, bringen sie Defiliermarsch, Udo-Jürgens-Hits oder Popklassiker wie „Simply The Best“ von Tina Turner in die Welt: 120 Tourneen spielten sie in den vergangenen 15 Jahren. Das ganze Jahr Oktoberfest.
Eintönig, möchte man meinen, doch Wohlschläger sieht das anders. Für ihn gebe es keinen schlechten Tag, sagt er, und das liege vor allem an den Menschen. „,Atemlos’ von Helene Fischer, das kennt man auch in Dubai.“ Dort wird er mit seiner Band drei Wochen auf einem Oktoberfest in einem großen Hotel Musik machen, wenn die Original-Wiesn in München wieder vorbei sein wird. Oft seien Auswanderer im Publikum, erzählt er, deren Heimweh die Musik etwas lindere. Oder die Musiker selbst schließen neue Bekanntschaften, die dann zum Gegenbesuch nach München reisen. „Egal wo, wir bringen das Oktoberfest zu den Leuten. Das ist ein Lebensgefühl.“
Jasper Rusthoven glaubt verstanden zu haben, was dieses Lebensgefühl ausmacht. Der Niederländer ist zum vierten Mal mit seinen Freunden eigens fürs Oktoberfest nach Bayern gekommen. „Hier gibt es immer einen Grund zu feiern“, findet er. Zu seiner Hirschlederhose trägt er eine grüne Weste aus Samt. An ihr hängen Anstecker aller sechs Wiesn-Brauereien. Die Diskussionen über Blasmusiker Josef Menzl sind nicht an ihm vorbeigegangen. Rusthoven sagt: „Für mich spielt das keine Rolle. Ich mag die bayerische Musik und ich mag auch Schlager. Am Ende des Abends will ich einfach mitsingen.“ Es ist der wohl pragmatischste Beitrag zur diesjährigen Oktoberfestmusik-Debatte.
Auf der Wiesn gibt es mehr als Blasmusik und Partyhits
Entweder – oder? Vielleicht muss man sich überhaupt nicht entscheiden. Schließlich gibt es auf der Wiesn noch so viel mehr zu entdecken. Gerade auf der Oidn Wiesn, gerade im Herzkasperlzelt. Dort trifft bei „Loisach Marci“ Alphornklang auf elektronische Musik, mit „Monaco F“ wankt das Publikum zu Mundart-Hip-Hop und die „Kapelle Massanari“ führt alte, schwäbische Tanzmusik auf, die kaum mehr einer kennen dürfte. Wie die Dillinger Doppelpolka. Wie zwei Arme schlingen sich Bühne und Bierzeltbänke um den Tanzboden in der Mitte des Herzkasperlzelts. Weiß-blaue Stoffbahnen, gedimmte Lichterketten und Girlanden aus Tannengrün bilden den Himmel, unter dem sich Tänzerinnen und Tänzer um Katharina Mayer versammeln.
Zusammen mit ihrem Partner macht die Tanzmeisterin vor, was die anderen Paare gleich nachmachen sollen: „Aus-ei-nand’, wie-der-zamm’, Dreher, Dreher, Dreher, Dreher.“ Verstanden? Mayer sagt: „Jetzt gilt’s. Freestyle oder wie wir es euch gerade gezeigt haben, Hauptsache es macht Spaß!“
Die Melodie, die aus Ziehharmonika, Geige, Klarinette, Flügelhorn und Helikon, einem Blechblasinstrument, dringt, gibt die Bewegung vor. Auch die Musikantinnen und Musikanten schwingen mit und sind ihrem Publikum nah. „Zur Tanzmusik gehören oft recht einfache Melodien“, sagt Klarinettist Christoph Lambertz. „Aber daraus können wir etwas zaubern.“ Eine Magie, die die Verbindung zwischen Musikern und Tänzern ausmache, ergänzt Mayer: „Wenn ich schon ein tanzendes Helikon auf der Bühne sehe, dann schau ich da hin, bin fasziniert und nehme das selbst in meinen Tanz auf.“
Später reißt die Münchner Ska-Band „Bluekilla“ die Menschen im Herzkasperlzelt von ihren Plätzen. Sie steigen aber nicht auf die Bänke – sie tanzen durch die Reihen und drängen sich um die Bühne. Eine junge Frau meint: „Ska ist ja irgendwie auch Volksmusik. Nur anders.“ Bayerisch müsse hier längst nicht alles sein, erklärt Martin Jonas, der für das Musikprogramm in diesem Oide-Wiesn-Zelt zuständig ist. Er suche heraus, was speziell sei und einen eigenen Charakter habe. So sei schon einmal ein Tanzmeister aus New York zu Gast gewesen und habe den Besucherinnen und Besuchern jüdische Tänze gelehrt. „Das muss nicht allen Gästen gefallen“, sagt er. „Für uns geht es um den Drive, den Schlanz in der Musik.“
Für ihren „Schlanz“ ist die Kapelle Josef Menzl bekannt, nach all dem Rummel vermutlich nicht mehr nur bei Blasmusik- oder Wiesnfans. Die „schlechteste Wiesnkapelle aller Zeiten“, wie sich die Musiker seit ein paar Tagen selbstironisch betiteln, sind Internetstars geworden. Mehr als eine Millionen Menschen sahen ein Video der Band, das sie in der Bräurosl aufnahm. Mit ihren Blasinstrumenten schmettern die Musiker Pophits wie „Sing Hallelujah!“ oder „Mr. Saxobeat“, das Publikum klatscht, jubelt und tanzt. Mit den negativen Kommentaren habe er seinen Frieden gemacht, sagt Josef Menzl am Montag: „Wir gehen gerne auf die Menschen und ihre Wünsche zu.“