Wie leichtsinnig ist es, das Oktoberfest zu besuchen? Nach dem Anschlag von Solingen, den Schüssen in München vor dem israelischen Generalkonsulat, den abgesagten Taylor-Swift-Konzerten, der Festnahme eines mutmaßlichen Islamisten in Hof? Kein Grund zur Sorge, beschwichtigen Polizei und Behörden. Die Wiesn sei nicht nur das größte, sondern auch das „sicherste Volksfest der Welt“. 600 Polizistinnen und Polizisten und bis zu 1500 Ordner sind im Einsatz, dazu gibt es Taschenkontrollen, verdachtsabhängige Überprüfungen mit Hand-Metalldetektoren, Messer-, Glasflaschen-, Drohnenverbot, Beton-Poller und umzäunt ist die ganze Gaudi sowieso. Das Freiheitsgefühl soll durch diese Maßnahmen dennoch nicht beschränkt werden, das versuchen ja schon die Terroristen. Verteidigen müssen wir diese Freiheit aber selbst, zur Not im Bierzelt.
Also nochmal: Ist es Leichtsinn, auf die Wiesn zu gehen? Hundertprozentige Sicherheit gibt es auf dem Oktoberfest nicht. Hat es auch nie gegeben. Und wenn man einen Blick auf die jährlichen Bilanzen wirft, weiß man, wozu der Exzess führt. Von Bierleichen (vergangenes Jahr dauerte es immerhin dreieinhalb Stunden bis zum ersten „Opfer“, 2022 nur zwei Stunden und sieben Minuten) über Taschendiebstahl bis hin zu brutalen Taten wie Maßkrugschlägereien und sexuellen Übergriffen. Gemessen an den 7,2 Millionen Besucherinnen und Besucher, die das Fest im vergangenen Jahr besucht haben, fällt die Bilanz dennoch jedes Jahr relativ glimpflich aus.
Auf dem Oktoberfest wurde schon oft Sicherheitsmaßnahmen erhöht, paradoxerweise schürt das Unsicherheit
Ihren schlimmsten Moment hat die Wiesn erlebt, bevor der Terror so global wie heute war. Das war 1980, als bei einem rechtsradikalen Bombenanschlag 13 Menschen getötet wurden. Genau einen Tag wurde das Volksfest damals ausgesetzt. Danach kam der 11. September 2001, das Oktoberfest fand statt – aber die Angst spiegelte sich in den Besucherzahlen. 2009, als vor dem Start Drohvideos des islamistischen Terrornetzwerks al-Qaida kursierten, gab es erhöhte Sicherheitsmaßnahmen und weniger Gedränge.
Nach dem Terrorsommer von 2016 – mit Attentaten in Paris, Brüssel, Nizza und dem OEZ-Anschlag in München – wurden die Vorkehrungen zum Schutz der Besucherinnen und Besucher erneut erhöht, ein viel diskutierter Zaun wurde um das Gelände aufgebaut. Das Unsicherheitsgefühl der Menschen hat das eher gesteigert. Ein ähnliches Paradoxon, wie der Anblick schwer bewaffneter Polizisten – was außerhalb von Deutschland recht gängig ist, löst hierzulande Unbehagen aus.
Lieber Bier auf der Wiesn anzapfen, als die abstrakte Angst vorm Terror
Die größte Gefahr geht derzeit von Islamisten aus. Das Perfide: Unsere Angst ist ihr Geschäft. Die Männer wollen größtmöglichen Schaden anrichten, Schrecken verbreiten, freiheitliche Werte ins Wanken bringen. Die übliche Schlussfolgerung ist, dass man sich Feste nicht vermiesen lassen darf, zumal die Bedrohungslage ja nur eine abstrakte ist. Nun mag man die Stirn runzeln und sich fragen, für welche Werte die Wiesn steht. Freizügigkeit, Gleichheit für Gutverdienende, Suffbrüderlichkeit? Ein bisschen Tradition und ziemlich viel Kommerz?
Im Grunde egal. Denn alles, was im Rahmen der viel beschworenen freiheitlichen Grundordnung an Unterhaltung und auch an Exzess erlaubt ist, darf gelebt werden. Manche erleben einen herrlichen Familiennachmittag, die anderen einen rauschenden Abend auf der Bierbank. Wie leichtsinnig es ist, in diesen gefühlt recht wilden, objektiv aber doch recht sicheren Zeiten auf das größte Volksfest der Welt zu gehen? Nach jeder friedlich verlaufenen Veranstaltung lässt sich sagen: Die Ängstlichen waren zu vorsichtig, die Verdränger hatten Spaß. Aber bevor Islamisten unsere Angst anzapfen, soll lieber der Münchner Oberbürgermeister das Bier anzapfen. Auf eine friedliche Wiesn!
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