Kurz vor Weihnachten bekam sie die Diagnose. Das war vor drei Jahren. Alzheimer. Ihr Neurologe habe sich damals entschuldigt für die schlechte Nachricht so kurz vor dem Fest, erzählt sie. Es war eine Diagnose, mit der sie nicht gerechnet hatte. Sie war 55 Jahre alt. Doch sie hatte selbst gemerkt, dass etwas mit ihr nicht mehr stimmte. Dass sie so extrem lange für die Unterrichtsvorbereitung ihrer Schulstunden brauchte. So lange, dass für anderes in ihrem Leben gar keine Zeit mehr blieb. Wenn sie das heute erzählt, sucht sie immer wieder nach Worten, schlägt sich manchmal die Hände vor die Augen, denkt krampfhaft nach, entschuldigt sich, lächelt dann und spricht weiter. Denn unterkriegen, das steht fest, will sie sich von der Krankheit nicht lassen. Zumindest noch nicht.
Sie fürchtet, für sie kommt das neue Alzheimer-Medikament zu spät
Wer die schlanke, freundliche Frau sieht, ahnt ihre schwere Erkrankung nicht. Ihren Namen will sie nicht in der Zeitung lesen. Auch wenn sie im Freundeskreis offen mit ihrer Krankheit umgeht. Alle sollen es nicht wissen. Es ist schon schwer genug, mit den Einschränkungen zurechtzukommen. „Rechnen kann ich nicht mehr“, sagt sie. „Aber Lesen.“ Und ja, sie verstehe die Texte zum Glück noch, brauche nur sehr lange dafür. Sie lese Zeitung, verfolge die Nachrichten. Natürlich habe sie auch von der Zulassung des neuen Alzheimer-Medikaments Lecanemab in der EU gehört. Ein Medikament, das gerade im frühen Stadium den Krankheitsverlauf verzögern soll. „Ich habe mir aber gleich gedacht, dass das wahrscheinlich zu spät für mich kommt“, sagt sie und schaut zu Dr. Jan Häckert, dem Leiter des Gedächtnis- und Therapiezentrums der psychiatrischen Universitätsklinik Augsburg. Bei ihm stellte sie sich zu Beginn ihrer Erkrankung vor. Sie nahm auch an einer Studie teil, bei der erprobt wurde, wie gut sich von der Krankheit betroffene Gehirnareale mittels magnetischer Impulse gezielt aktivieren lassen. Eine Therapie, die aber auch nur zeitlich befristet Verbesserungen verspricht, räumt Häckert ein.
Der Arzt betont: „Dass man nichts machen kann, stimmt nicht“
Die Krankheitsverläufe bei Alzheimer und Demenz lassen sich aktuell immer nur verzögern, nicht aufhalten und nicht heilen, erklärt Häckert. Dennoch betont er, dass es ganz entscheidend ist, dass sich Menschen sehr früh behandeln lassen. „Denn, dass man nichts machen kann, stimmt nicht.“ Therapien, die die Lebensqualität verbessern, die es ermöglichen, dass Erkrankte länger in ihrem gewohnten Umfeld bleiben können, gebe es in jedem Fall. Was aber hält er von dem neuen Alzheimer-Medikament? Wann kann er es den ersten Patientinnen und Patienten verabreichen? Der Neurologe schätzt, dass von den aktuell 150 bis 250 Alzheimer-Patienten, die in der Gedächtnisambulanz in Augsburg behandelt werden, sich etwa 15 bis 20 Prozent in einem so frühen Stadium befinden, dass man bei ihnen prüft, ob sie infrage kommen. Dafür ist nicht nur ein kognitiver Test nötig, sondern auch eine Blutuntersuchung. Denn Menschen, die ein bestimmtes Gen, das so genannte ApoE4, doppelt aufweisen, sind von der Behandlung ausgeschlossen. Auch Patienten, die Gerinnungshemmer einnehmen, dürfen Lecanemab nicht erhalten. Denn bei ihnen sei die Gefahr wesentlich höher, dass es infolge des Medikaments zu Hirnblutungen oder Hirnödemen kommen könnte.
Das Medikament Lecanemab ist eine Infusion
Noch im Juli hatte die Europäische Arzneimittelbehörde EMA das Medikament aufgrund seiner schweren Nebenwirkungen abgelehnt. Doch Häckert erklärt, dass die Patientinnen und Patienten, die Lecanemab erhalten, sehr engmaschig überwacht werden. Die Antikörper stehen zunächst nicht in Tablettenform zur Verfügung, sondern als Infusionen, die alle zwei Wochen verabreicht werden müssten. Werde die endgültige Zulassung durch die EU umgesetzt, schätzt Häckert, dass er möglicherweise bereits im April mit ersten Infusionen beginnen könnte.
Ein neuer Bluttest zur Diagnose kommt
Lecanemab verspricht, gezielt die gefürchteten Protein-Ablagerungen zu bekämpfen, die an der Zerstörung der Nervenzellen im Gehirn beteiligt sind. Ein Allheilmittel sei es dennoch nicht, „denn allein die Plaques aufzulösen, bringt nichts“, sagt Häckert. Oft spielten noch weitere Faktoren eine Rolle beim Entstehen der Erkrankung, etwa Entzündungen. Doch Lecanemab ist auch nicht der einzige Hoffnungsträger. Häckert rechnet damit, dass auch Donanemab in wenigen Wochen eine Zulassung von der EMA erhält. Dieses Medikament hat eine ähnliche Wirkweise wie Lecanemab. Und noch etwas Vielversprechendes gibt es: Einen Bluttest zur Diagnose von Alzheimer-Demenz. Häckert geht davon aus, dass der Bluttest vermutlich bereits im nächsten Jahr zur Verfügung stehen wird und die Möglichkeiten zur frühen Behandlung beträchtlich erweitere. Ob der Bluttest allerdings von den Kassen übernommen wird, sei abzuwarten. Das Geld spiele bei neuen Medikamenten immer eine Rolle. Bei Lecanemab lägen die Kosten nur für das Medikament im Jahr bei circa 25.000 Euro.
Die 58-jährige Patientin verfolgt das Gespräch hoch interessiert. Einen Test, ob sie für Lecanemab infrage kommt, will sie in jedem Fall machen. Doch auch, wenn sie kein neues Medikament erhalte, will sie mit ihrem Schicksal nicht hadern, „das hilft ja nichts“, sagt sie. Sie habe das Glück, dass ihre beiden Kinder sie sehr unterstützen – vor allem die Tochter. Auch der Freundeskreis unternimmt mit ihr viel, sodass sie, obwohl sie allein weder mit dem Auto noch mit öffentlichem Nahverkehr unterwegs sein kann, regelmäßig aus ihrem Haus komme. Viel Bewegung sei bei der Erkrankung wichtig. „Und auch, wenn ich glücklich bin, gehe es nicht so schnell bergab, hat man zu mir gesagt.“
Sie vermisst ihre Schüler, ihre Arbeit
Ihren Haushalt könne sie noch selbst bewältigen, auch Einkaufen gehe sie. In Folge ihrer Frühpensionierung habe sie ja viel Zeit für alles, erzählt sie. Vor allem würde sie so gerne etwas arbeiten. „Etwas Sinnvolles zu tun, das fehlt mir. Ich vermisse so sehr meine Schüler. Ich habe meinen Beruf sehr geliebt.“ Doch es stellen sich immer neue Defizite im Alltag ein: Nicht nur, dass sie oft nicht mehr weiß, welche Tür zu welchem Zimmer führe, auch das Binden der Schuhe funktioniere seit ein paar Tagen plötzlich nicht mehr. „Und ich habe Angst“, sagt sie. „Ich verliere mein Gehirn. Da kriegt man Ängste – das ist doch klar.“ Mit ihrer Tochter habe sie vereinbart, dass sie so lange weiter kämpft, „so lange ein Glitzern in meinen Augen ist“.
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